Die Sprache der Diplomatie: Deutschland und die Sowjetunion im 20. Jh.

Altrichter, Helmut; Ischtschenko, Wiktor; Möller, Horst; Tschubarjan, Alexander (Hrsg.): Deutschland – Russland: Stationen gemeinsamer Geschichte, Orte der Erinnerung. Band 3: Das 20. Jahrhundert. München 2014 : Oldenbourg Verlag, ISBN 978-3-486-75524-4 352 S. € 29,95

Slutsch, Sergej; Tischler, Carola (Hrsg.): Deutschland und die Sowjetunion 1933 – 1941. Dokumente. Band 1: 30. Januar 1933 – 31. Oktober 1934.. München 2014 : Oldenbourg Verlag, ISBN 978-3-486-71295-7 1.555 S. € 198,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietmar Wulff, Department of History, Higher School of Economics, Campus St. Petersburg

Bei beiden zu rezensierenden Arbeiten handelt es sich um Projekte der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen. Die 1997 auf eine Initiative des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl und des Präsidenten der Russischen Föderation Boris Jelzin gegründete Kommission war in der Historikerzunft nie unumstritten. Zu sehr auf politische Geschichte fixiert, zu ineffektiv, zu staatstragend, lauteten die wesentlichen Kritikpunkte. Sowohl das Geschichtsbuch als auch die Dokumentenedition sind nun allerdings ein eindrucksvoller Beleg, wie nützlich derartige Formen institutionalisierter Kooperation in Zeiten sein können, in denen auch Historiker nicht abgeneigt zu sein scheinen, deutsch-russische Geschichte in den aktuellen Konflikten in Stellung zu bringen. Sie zeigen nachdrücklich, dass der wissenschaftliche Dialog auch in schwierigen Zeiten möglich und zielführend ist und tragen dazu bei, allzu emotional geführte Geschichtsdiskussionen zu erden.

Der Band über die Stationen der gemeinsamen Geschichte Deutschlands und Russlands im 20. Jahrhundert entstand auf Initiative der russischen Seite. Den zeitlichen Rahmen bildet das kurze zwanzigste Jahrhundert, das seinen Anfang mit den russischen Revolutionen des Jahres 1917 nahm und mit dem Mauerfall 1989 endete. Herausgeber und Verfasser definieren in vier chronologischen Modulen insgesamt 20 Ereignisknoten, die sie für die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland für maßgeblich halten. Den einzelnen Abschnitten sind jeweils Betrachtungen mit Überblickcharakter aus deutscher und russischer Sicht vorangestellt. Die Auswahl der Ereignisknoten wirkt ausgewogen, zu ihnen zählen einschlägige Höhepunkte in der politischen Geschichte Deutschlands und Russlands zwischen 1917 und 1991, der internationalen Beziehungsgeschichte, aber auch prägende kulturelle Berührungspunkte. Bedauerlicherweise bleibt der Beziehungsfaktor Wirtschaft ausgeklammert.

Die Herausgeber positionieren den Band als Lehrbuch, das seinen Platz an deutschen und russischen Schulen sowie Universitäten finden soll. Angesichts des vorhersehbaren Konfliktpotentials verfahren die Herausgeber nach flexiblen Regeln: gemeinsame Positionen hervorheben, sich auf Kompromisse einlassen und Unvereinbarkeiten kenntlich machen. Dort, wo sich deutsche und russische Autoren auf einen gemeinsamen Inhalt einigen konnten, entstanden die Beiträge in Kooperation, bei Themen, bei denen Kontroversen unüberbrückbar schienen, wurden separate Beiträge je eines deutschen und eines russischen Autors in den Band aufgenommen. Neue Erkenntnisse zu den deutsch-russischen Beziehungen im 20. Jahrhundert können auf Grund der Entstehungskonstellation des Bandes, der Vielfalt der Themen und der Knappheit der Beiträge kaum erwartet werden. Wohl aber bietet das Lehrbuch interessante geschichtspolitische Einblicke. Bei aller zur Schau gestellten Kompromissfähigkeit waren brisante Themen der politischen Geschichte vom Vorfeld des Zweiten Weltkrieges über den Kalten Krieg bis in die Endphase der Sowjetunion offenbar nicht konsensfähig. Zur Pariser Weltausstellung 1937, zum deutsch-russischen Nichtangriffsvertrag von 1939, zur Schlacht von Stalingrad, zur Berlinkrise 1948/49, zum Volksaufstand vom 17. Juni 1953 und zur Perestroika Michail Gorbatschows bietet das Lehrbuch separate Beiträge, die sich in wichtigen Deutungsfragen, manchmal aber auch nur in Akzenten unterscheiden. Zahlreiche Redundanzen bleiben bei einem solchen Herangehen unausweichlich.

Bianka Pietrow-Ennker sieht den Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939 in direktem Bezug zum Beginn des Zweiten Weltkrieges. Er habe dem nationalsozialistischen Deutschland Handlungsfreiheit gegeben, womit sie der Sowjetunion zumindest indirekt eine Mitverantwortung für dessen Ausbruch zuweist. Nazi-Deutschland und Stalins Sowjetunion kooperierten bei der neuerlichen Teilung Polens und errichteten dort zwei terroristische Besatzungsregimes. Anschließend seien auch Estland, Lettland und Litauen annektiert und in den Sowjetverband einverleibt worden. Ihr Opponent, der russische Mitherausgeber A.O. Tschubarjan, weist diese Interpretation expressis verbis zurück. Hitler habe den Angriff auf Polen längst vor dem Abschluss des Nichtangriffsvertrages beschlossen, schon allein deshalb trage die Sowjetunion keine Mitverantwortung für den Kriegsausbruch, zumal ihr Isolation gedroht habe, heißt es entschieden, wenngleich nicht zwingend logisch. Von einem sowjetischen Besatzungsregime in Ostpolen könne keine Rede sein, weil die Westukraine und Westweißrussland sehr bald danach regulärer Bestandteil der Sowjetunion geworden seien. Und die baltischen Länder hätten ihr Einverständnis zur Stationierung sowjetischer Truppen gegeben. Auf dieser Grundlage sei der Anschluss an die UdSSR erfolgt. Diese Art von Geschichtskonstruktion erinnert an überwunden geglaubte Deutungsmuster aus Sowjetzeiten, sie kommt zudem reichlich schulmeisterhaft daher. Es handelt sich um mehr als akademisches Geplänkel. A.O. Tschubarjan, Institutsdirektor und Akademiemitglied, gehört zu den wichtigsten Ansprechpartnern von Präsident W.W. Putin in historischen Fragen und erarbeitet an führender Stelle ein einheitliches Geschichtslehrbuch für Russland.

Im Übrigen verzichten die Autoren allerdings auf direkte Polemik. Bei den Beiträgen zum Kalten Krieg fällt auf, dass der Dissens immer noch entlang den damaligen Fronten verläuft. Die russischen Autoren bemühen sich, dem sowjetischen Regierungshandeln Berechtigung zuzusprechen, während ihre deutschen Kollegen Recht und Plausibilität eher auf der anderen Seite vermuten. Die beiden Beiträge zu Perestroika weisen bestenfalls Unterschiede in Nuancen auf. Insgesamt kann man aber davon ausgehen, dass der Leser einen brauchbaren Überblick über gemeinsame Stationen deutsch-russischer Geschichte erhält. Er profitiert zudem von der aufwendigen Gestaltung des Bandes. Quellenauszüge, Karten, Schautafeln und Illustrationen erhöhen die Anschaulichkeit des Lehrbuches.

Die aktuellen Spannungen in den Beziehungen zwischen Deutschland und Russland haben auch die Gemeinsame Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen erfasst. Eine ihrer letzten Zusammenkünfte wurde ausgesetzt, und, wichtiger noch, die für den Herbst 2014 angekündigte russische Übersetzung des Geschichtsbuches steht aus unbekannten Gründen noch immer aus. Es bleibt zu hoffen, dass sie und die weiteren geplanten Bände zum 18. und 19. Jahrhundert nicht dem geschichtspolitischen Revisionismus der russischen Führung und neuer deutscher Zurückhaltung zum Opfer fallen.

Zwischen dem Geschichtsbuch und der Quellenedition „Deutschland und die Sowjetunion 1933–1941“ gibt es persönliche Überschneidungen. Bianka Pietrow-Ennker betreute das Vorhaben im Auftrag der Gemeinsamen Kommission, Autorin Carola Tischler trug gemeinsam mit Kommissionsmitglied Sergej Slutsch als Herausgeber die Verantwortung für das ambitionierte Projekt. Zu besprechen ist der aus zwei Teilbänden bestehende erste Band der insgesamt auf vier Bände angelegten Edition. Er umfasst den Zeitraum vom 30. Januar 1933 bis zum 31. Dezember 1934. Den Herausgebern kann man bescheinigen, dass sie ein riesiges Quellenmassiv in vorbildlicher Weise für die historische Forschung erschlossen und aufbereitet haben. Die Teilbände enthalten insgesamt 565 sorgfältig kommentierte Dokumente aus neun deutschen und russischen Archiven. Etwa drei Viertel von Ihnen wurden erstmals veröffentlicht. In die Auswahl gelangten nicht nur diplomatische Dokumente, sondern auch zahlreiche Quellen aus den Bereichen Wirtschaft, Militär und Kultur. Obwohl die Herausgeber insbesondere in den Moskauer Archiven gelegentlich mit wenig förderlichen Arbeitsbedingungen (kein Zugang zu bestimmten Archiven, sekretierte Bestände, unzulängliche Findmittel) konfrontiert waren, ermöglicht die Vielfalt und Breite des dargebotenen Materials einen neuen und komplexen Zugriff auf die Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen in den beiden Jahren nach der Machtergreifung Adolf Hitlers sowie die Rekonstruktion des Meinungsbildungsprozesses deutscher und russischer Diplomaten. Weitere Archivforschungen sind allerdings allein aufgrund der erwähnten Zugangsbeschränkungen nicht obsolet geworden.

Die Edition eröffnet eine umfängliche und kenntnisreiche Einleitung des Herausgebers Sergej Slutsch. Er beschreibt die Ausgangssituation in den deutsch-russischen Beziehungen nach der Machtergreifung Hitlers, gibt einen ausgewogenen und detaillierten Überblick über die vorliegenden Forschungen und benennt die Schlüsselfragen, die das bilaterale Verhältnis 1933 und 1934 prägten. Zu ihnen zählt Slutsch die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen, insbesondere die Konflikte um den Vertrieb sowjetischer Erdölprodukte und die handelspolitischen Konsequenzen des Dollarverfalls, die Situation um die militärpolitische Zusammenarbeit, die Auseinandersetzungen um das Hugenberg-Memorandum vom Sommer 1933, die Einschränkung der journalistischen Freiheit durch beide Seiten, die gescheiterten Versuche einer politischen Neuordnung in Osteuropa, Auflösungserscheinungen in den Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen sowie nachrichtendienstliche Aktivitäten.

Es gehört zu den schwer zu überschätzenden Leistungen dieser Quellenedition, dass sie nicht nur wertvolle Informationen zu den Schlüsselfragen der deutsch-russischen Beziehungen 1933–1934 liefert, sondern auch Anlass gibt, über Grundprobleme des bilateralen Verhältnisses beider totalitärer Regimes neu nachzudenken. Stimmt es eigentlich wirklich, dass sich die deutsch-sowjetischen Beziehungen nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler entgegen den Erwartungen der deutschen Diplomaten dramatisch veränderten, wie selbst Herausgeber Slutsch bei der Präsentation der Edition noch betonte? Viele der Dokumente erwecken zumindest den Eindruck, dass die Atmosphäre zwischen den beiden Staaten durch die vorherige Entwicklung bereits in einem solche Maße belastet waren, dass viele, wenn nicht die meisten Kooperationslinien auch ohne die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur und ideologische Unvereinbarkeiten in eine Sackgasse liefen. Wenigstens bei der militärischen Zusammenarbeit schien dies der Fall zu sein, denn die für Deutschland erfreulichen Resultate der Genfer Abrüstungskonferenz hatten ihr den Boden entzogen. Dem für das deutsch-sowjetische Verhältnis stets wichtigen Außenhandel waren vor allem aus der Weltwirtschaftskrise gewaltige Probleme entstanden. Und die Idee des Baltenpaktes bzw. eines Anschlusses Deutschlands an das Litwinow-Protokoll von 1929, bekannt auch unter dem Namen Ostpakt, der in der ersten Hälfte 1934 besprochen wurde, wäre auch unter anderen Umständen kaum realisiert worden. Beide Projekte liefen den vom Auswärtigen Amt definierten deutschen Interessen zuwider. Natürlich zeugten aggressive Rhetorik, Übergriffe gegen Staatsbürger des jeweils anderen Landes, Säbelrasseln und restriktive Maßnahmen ab 1933 von der endgültigen Abkehr vom Geist von Rapallo, dennoch sollten tiefer liegende Kausalzusammenhänge und Kontinuitäten nicht aus dem Blickfeld geraten.

Während man in der Literatur den deutschen Diplomaten gern bescheinigt, sie seien zumindest in der Anfangsphase in ihrer Mehrzahl keine Repräsentanten des nationalsozialistischen Regimes gewesen, sie hätten zwischen Politik und Ideologie unterschieden und ihre erheblichen Freiräume bei der Gestaltung der Außenpolitik genutzt, fällt die Charakteristik ihrer sowjetischen Kollegen eindeutiger, auch einseitiger aus. Stalin entschied alle mehr oder weniger wichtigen außenpolitischen Fragen allein, das Außenministerium und die Diplomaten waren Vollstrecker seines Willens. Dafür spricht vieles. Stalin befand sich 1933 im Unterschied zu Hitler bereits seit längerem auf dem Weg zum Höhepunkt seiner Macht, Widersacher auch auf dem Gebiet der Außenpolitik waren bereits auf der Strecke geblieben. Und dennoch sind nach der Lektüre der hier veröffentlichten Dokumente Zweifel an dieser Interpretation erlaubt. Die sowjetischen Diplomaten verhielten sich nicht wie Marionetten, sie äußerten sich selbstbewusst, waren durchaus nicht immer einer Meinung und trugen ihre Differenzen aus. Oftmals verfügten sie wegen ihrer Lebenserfahrung und Sprachkenntnisse über unabdingbares Insiderwissen, das sie in die Formulierung praktischer Außenpolitik einzubringen suchten. In weiteren Forschungen wäre zu klären, ob nicht auch das diplomatische Corps der Sowjetunion einer Art von Kaste glich, die Eigensinn und Renitenz hervorbrachte. Immerhin hielt es Stalin 1936–1937 für nötig, das Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten zu enthaupten. Fast alle in der Einleitung aufgeführten Akteure auf sowjetischer Seite fielen dem Terror zum Opfer. Ausnahmen waren lediglich der Volkskommissar M.M. Litwinow, der von 1934–1937 in Berlin amtierende Bevollmächtigte Vertreter J.Z. Suriz und der Handelsvertreter A. Girschfeld.

Die Quellenpublikation genügt in editorischer Hinsicht höchsten Anforderungen. Obwohl bei weitem nicht bei jedem Dokument die Originalfassung letzter Hand zur Verfügung stand, waren die Herausgeber stets mit Erfolg bemüht, alle Angaben zusammenzutragen, die sich auf die endgültige Redaktion des Dokumententextes beziehen. Zudem zahlt sich aus, dass die Herausgeber für die Übersetzung der russischen Quellentexte ins Deutsche einen Spezialisten gewinnen konnten. Lothar Kölm ist es ausgezeichnet gelungen, den Duktus der bürokratischen Sprache im Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten zu treffen, feine sprachliche Nuancen adäquat widerzugeben und schwierige terminologische Probleme zu lösen. Die zahlreichen Kommentare stellen den inneren Zusammenhang zwischen den Dokumenten her und erleichtern die Quellenanalyse in starkem Maße. Es bleibt zu hoffen, dass die weiteren Bände dieser wichtigen Quellenedition bald folgen mögen.

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