J. Dohna: Emma Fürstin zu Castell-Rüdenhausen

Cover
Titel
Erinnerungen. Emma Fürstin zu Castell-Rüdenhausen


Herausgeber
Dohna, Jesko Graf zu
Reihe
Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte: Reihe 13, Neujahrsblätter 50
Erschienen
Anzahl Seiten
690 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johanna Singer, SFB 923 "Bedrohte Ordnungen", Eberhard Karls Universität Tübingen

Mit dem Namen Castell verbindet man möglicherweise zunächst einmal Blei- und Buntfarbstifte. Diese Assoziation ist im Zusammenhang mit den von Jesko Graf zu Dohna, dem Leiter des Fürstlich Castell’schen Archivs, edierten und herausgegebenen Lebenserinnerungen der Fürstin Emma zu Castell-Rüdenhausen (1841–1926) auch durchaus nicht abwegig, denn tatsächlich heirateten zwei ihrer Söhne in die Unternehmerfamilie von Faber ein. Einer von ihnen, Alexander, nannte sich anschließend Graf von Faber-Castell und führte die bis heute bekannte Bleistiftfirma.1 Allerdings hätte Fürstin Emma diese gedankliche Verknüpfung vermutlich nicht eben begrüßt, da die Ehen nicht den Hausgesetzen entsprachen. Um Bleistifte geht es in ihren Erinnerungen denn auch nicht. Vielmehr spiegele die Edition, so der Herausgeber, „ungeschminkt das standesbewusste Leben einer hessisch-fränkischen Landedelfrau“ aus standesherrlicher Familie wider und illustriere äußerst lebendig den „ganzen Kosmos adeligen Lebens in Franken“ (S. X) von der zweiten Hälfte des 19. bis ins beginnende 20. Jahrhundert. Die in zwei eigenhändig niedergeschriebenen Manuskripten überlieferten Memoiren entstanden auf Wunsch der Tochter der Verfasserin, Fürstin Marie zu Stolberg-Wernigerode, und waren ein Geschenk zu deren Silberner Hochzeit am 8. Oktober 1916. Der im September 1916 beendete Haupttext wird ergänzt durch einen zwischen Herbst 1919 und dem 12. Januar 1920 verfassten Nachtrag.

Die vorliegende Edition bildet eine äußerst willkommene Ergänzung des gedruckten Quellenrepertoires zu adligen Frauen in der Zeit des deutschen Kaiserreichs, deren Geschichte am Schnittpunkt von Adels- und Frauen- respektive Geschlechterforschung trotz einiger diesbezüglicher Veröffentlichungen in den letzten Jahren2 sicherlich noch nicht umfassend geschrieben worden ist. Zwar liegen für die Zeit um 1900 durchaus einige Autobiographien und Biographien adliger Frauen vor, die bereits wissenschaftlich bearbeitet wurden3, und stammten die Protagonistinnen solcher Werke auch häufig – wie Fürstin Emma – aus bekannten und wohlhabenden Adelsfamilien. Dennoch ist Jesko Graf zu Dohna zuzustimmen, wenn er schreibt, dass Lebenserinnerungen von Frauen speziell aus standesherrlichen Familien, die sich nicht bei Hofe aufhielten, sondern vornehmlich auf dem Land lebten, bisher „für ein weiteres Publikum nur selten gedruckt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht“ (S. X) wurden.

Das Buch beginnt mit einer knappen, aber äußerst instruktiven Einleitung des Herausgebers, in der Eckdaten und zentrale Ereignisse des Lebens der Fürstin in den weiteren historischen Kontext eingeordnet werden. Sodann werden alle wissenswerten Informationen zu Entstehungsumständen und Überlieferung des Manuskripts, Vorgehensweise bei der Edition und – allerdings recht kurz – fachwissenschaftlichem Kontext bereitgestellt.4 Der edierte Text ist, abgesehen von wenigen Vor- oder Rückgriffen, im Wesentlichen chronologisch aufgebaut. Die Kapiteleinteilung und -überschriften waren im Originaltext nicht vorhanden, sondern wurden im Nachhinein eingefügt, um eine bessere Gliederung und Lesbarkeit zu gewährleisten. Die Erzählung beginnt mit den Kindheitserinnerungen der Protagonistin, einer geborenen Prinzessin Ysenburg in Büdingen. Auf die für den Leser möglicherweise etwas ermüdende Vorstellung ihrer sämtlichen 37 Paten und einem Durchgang durch die gesamte Nachbarschaft, mit der gesellschaftlicher Verkehr gepflegt wurde, folgt eine kulturhistorisch interessante Darstellung des Alltags in Büdingen und der Erziehung der Ysenburg‘schen Geschwister. Erwähnenswert ist in diesem Teil weiterhin die französische Beschreibung einer Italienreise, die Emma zeitnah als Sprachübung verfasst hatte und bei der Niederschrift ihrer Lebenserinnerungen an der entsprechenden Stelle einfügte. Eine Übersetzung wäre hier eventuell wünschenswert gewesen. Derartige Einschübe begegnen im Verlauf des Textes häufiger. Immer wieder werden Briefe der Mutter oder eigene, in unmittelbarer zeitlicher Nähe eines Ereignisses abgefasste Notizen herangezogen, was den Text nicht nur auflockert, sondern zudem teils eine zweite Perspektive einbringt.

Breiten Raum nimmt die Schilderung der Verlobung und Hochzeit mit dem elf Jahre älteren Wolfgang Graf zu Castell-Rüdenhausen ein. Die aufwendigen, mehrtägigen Feiern werden von der Autorin als strahlender Auftakt einer sehr glücklichen Ehe erinnert. Die Vorstellung der Beamtenschaft und des gesamten Hauspersonals einschließlich Kutscher und Gärtner aber exklusive der zahlreichen und als „wenig interessant“ (S. 197) eingestuften Haus- und Küchenmädchen gibt einen hervorragenden Einblick in die Selbstverständlichkeiten (hoch-)adligen Lebens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auch in diesem Fall geht Fürstin Emma sehr ausführlich die benachbarten Güter, mit deren Bewohnern gesellschaftlich verkehrt wurde, durch und eröffnet dadurch einen breiten Einblick in die Welt des fränkischen Adels. Solch synchrone Einschübe in den chronologischen Verlauf der Erzählung geben dem Text zusätzliche Tiefe, illustrieren ihn und lassen die zeitgenössische Lebenswelt nachvollziehbar werden.

Der diachrone Erzählstrang schreitet nun fort, es folgt die Freude über die Geburt des ersten Sohnes, Erbgraf Siegfried, die nur kurz durch den Tod ihres Vaters in Büdingen getrübt wird. Später kommen weitere elf Kinder zur Welt, von denen drei Töchter bereits im Kindesalter versterben. Obwohl die Strapazen der eigenen Geburten völlig ausgespart werden, wird doch durch den Blick in die weitere Verwandtschaft auf frappierende Weise deutlich, wie viele junge Mütter – auch aus den besten Kreisen – noch im Wochenbett verstarben und wie gegenwärtig die Bedrohung durch Kinderkrankheiten Ende des 19. Jahrhunderts war. Die Kinder wuchsen zwischen Hauslehrern und Gouvernanten, Gymnasium und Kadettencorps heran. Fürstin Emma streut immer wieder ‚rührende‘ oder auch ‚lustige‘ Anekdoten und Aussprüche ihres Nachwuchses ein, was insgesamt den Eindruck eines glücklichen und liebevollen Familienlebens vermittelt. Verschiedene Einschübe nehmen zumeist auf familiäre Ereignisse, seltener auch auf politische Geschehnisse Bezug. So werden beispielsweise Sterben und Tod der Mutter, Fürstin Thekla Ysenburg, ausführlich geschildert. An anderer Stelle tritt der Krieg 1866 in den Fokus, der in den meistenteils proösterreichisch eingestellten standesherrlichen Familien große Sorge verursachte. Ansonsten lösen sich Geburten, Hochzeiten, Todesfälle, Feste, Erkrankungen und kleinere Skandale in der Verwandtschaft in reger Folge ab. Die diplomatische Karriere des ältesten Sohnes Siegfried, über dessen frühen Tod im Jahr 1903 die Mutter kaum hinwegkommt, findet immer wieder Erwähnung. Großen Raum nehmen auch die Hochzeiten der ältesten Tochter Minni (Marie) mit Christian Ernst Erbprinz zu Stolberg-Wernigerode und des zweitgeborenen Sohnes, des nunmehrigen Erbgrafen Casimir, mit Mechthild Gräfin von Bentinck ein, die von der Mutter ebenso freudig begrüßt wurden wie die Geburten der zahlreichen Enkelkinder. Sehr ablehnend steht sie hingegen den Ehen ihrer Söhne Alexander und Wolfgang mit Töchtern aus der Fabrikantenfamilie von Faber gegenüber, die sie als unstandesgemäß und unpassend empfindet und weitgehend ausspart, um nicht „scharf und bitter“ (S. 554) zu werden. Besondere Erwähnung verdienen die anlässlich größerer Familienfeste immer wieder eingestreuten, detaillierten Einblicke in zeitgenössische Essgewohnheiten und den Musikgeschmack, die durch minutiös wiedergegebene Menüfolgen und ‚Playlists‘ gewährt werden.

Die weiteren Kapitel thematisieren wiederum vor allem familiäre Ereignisse in der stetig wachsenden Nachkommenschaft, Reisen zu und Besuche der zahlreichen Kinder und Enkel sowie die zunehmenden Alterserscheinungen und gesundheitlichen Beschwerden des Ehemanns, der schließlich im Jahr 1913 verstarb. Daneben nimmt Fürstin Emma aber auch immer wieder beiläufig Bezug auf technische Neuerungen des beginnenden 20. Jahrhunderts, die sie wie selbstverständlich in ihre Erzählung integriert. Nun benutzte man eben statt der Kutsche das Automobil für die nachmittäglichen Ausfahrten und ließ natürlich elektrische Beleuchtung im Schloss anbringen.

Die letzten Abschnitte des Haupttextes und der 1919/20 angefertigte Nachtrag bilden, abgesehen von der Erwähnung des Kriegs von 1866, die einzigen Textteile, die politische Ereignisse etwas stärker in den Fokus rücken. Weltkrieg und Revolution hatten auch für die standesherrlichen Familien Konsequenzen, dennoch scheint es so, als wäre das Leben in diesen Kreisen, abgesehen von einigen Einschränkungen, doch ähnlich wie in der Vorkriegszeit verlaufen. Während der Krieg recht toposhaft als „furchtbare[s] Gespenst“ (S. 593) apostrophiert wird, bereitete die Münchner Räterepublik der Fürstin Emma unmittelbarere Sorge. Trotzdem stehen auch im letzten Textteil vornehmlich familiäre Geschehnisse im Vordergrund.

Insgesamt ist die äußerst sorgfältige Edition sowohl für ein Fachpublikum als auch für den geneigten Leser ohne einschlägige adelshistorische Vorkenntnisse geeignet. Dies ist neben der ebenso allgemeinverständlichen wie hilfreichen Handreichung in der Einleitung vor allem der Tatsache geschuldet, dass es dem Herausgeber gelingt, durch sehr übersichtliche Stammtafeln, Personen- und Ortsregister, eine reiche Bebilderung sowie den Anmerkungsapparat die weitgespannten und recht unübersichtlichen Verwandtschafts- und Bekanntschaftsnetze der Fürstin Emma ausgesprochen übersichtlich darzustellen. Vor allem der Versuch, möglichst zu jeder der im Text erwähnten Personen (auch zu den namentlich genannten Dienstboten) knappe biographische Angaben zur Verfügung zu stellen, ist angesichts der Fülle der erwähnten Individuen ausgesprochen sinnvoll. Dass leichte Konfusion beim Leser teilweise dennoch nicht völlig vermieden werden kann, liegt in der Natur der Sache. Ob es zwingend notwendig ist, auch Goethe und Schiller in Fußnoten zu identifizieren, und ob die stellenweise, wenn auch sehr selten, vorkommenden Anleihen bei Wikipedia nicht besser unterlassen worden wären, sei dahingestellt. Dies tut dem positiven Gesamteindruck letztendlich jedoch keinen Abbruch.

Das durch die Erinnerungen der Fürstin Emma zu Castell-Rüdenhausen entstehende Bild entspricht praktisch völlig der angestrebten Normalbiographie einer adligen Frau im 19. Jahrhundert 5 und reproduziert in weiten Teilen die Vorstellungen, die aus dem Alltagswissen heraus landläufig mit ‚dem Adel‘ in der Zeit um 1900 verbunden werden. Der historischen Adelsforschung wird keine entscheidend neue Facette hinzugefügt. Dass die Memoiren der Fürstin Emma sich aber dennoch keineswegs zu einer endlosen Abfolge von Teegesellschaften eines exklusiven Kreises mit verworrenen Verwandtschaftsbeziehungen degradieren lassen, ist der Tatsache geschuldet, dass sie durch den von ihr verfassten Text als standesbewusste, aber auch ausgesprochen warmherzige und liebevolle Tochter, Schwester, Ehefrau, Mutter, Groß- und Schwiegermutter erscheint, der es gelingt, aus weiblicher Perspektive ein sehr authentisches, facettenreiches und realistisches Gemälde ihrer Zeit und Herkunftsschicht zu zeichnen – und dies stellt aus der Perspektive einer Frau aus standesherrlicher Familie in ländlichem Umfeld durchaus ein interessantes Fallbeispiel innerhalb des immer noch oftmals durch die männliche Perspektive dominierten Bildes dar.

Anmerkungen:
1 Zur Familie der Grafen von Faber-Castell vgl. Anton Wolfgang Graf von Faber-Castell (Hrsg.), Faber-Castell since 1761. Die illustrierte Geschichte einer Bleistiftdynastie, München 2013 sowie auch die Romanbiographie von Asta Scheib, Eine Zierde in ihrem Hause. Die Geschichte der Ottilie von Faber-Castell, Reinbek bei Hamburg 2000, in der ein nicht gerade positives Bild des Ehemanns der Ottilie, Graf Alexander zu Castell-Rüdenhausen, gezeichnet wird.
2 Vgl. insbesondere Christa Diemel, Adelige Frauen im bürgerlichen Jahrhundert. Hofdamen, Stiftsdamen, Salondamen 1800–1870, Frankfurt am Main 1998; Monika Kubrova, Vom guten Leben. Adelige Frauen im 19. Jahrhundert, Berlin 2011; Chelion Begass / Johanna Singer, Arme Frauen im Adel. Neue Perspektiven sozialer Ungleichheit im Preußen des 19. Jahrhunderts, in: Archiv für Sozialgeschichte 54 (2014), S. 55–78; Monika Wienfort, Gesellschaftsdamen, Gutsfrauen und Rebellinnen. Adelige Frauen in Deutschland 1890–1939, in: Eckart Conze / Dies. (Hrsg.), Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2004, S. 181–203; Sylvia Paletschek, Adelige und bürgerliche Frauen (1770–1870), in: Elisabeth Fehrenbach (Hrsg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 1770–1848, München 1994, S. 159–185.
3 Vgl. Kubrova, Vom guten Leben, die 36 Autobiographien adliger Frauen untersucht, welche nach 1900 entstanden sind und sich damit, wie diejenige der Fürstin Emma zu Castell-Rüdenhausen, hauptsächlich auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts beziehen.
4 In diesem Zusammenhang wäre eventuell auch die Erwähnung von weiterer Literatur speziell zu Biographien und Autobiographien interessant gewesen, vgl. z. B. äußerst einschlägig Charlotte Heinritz, Auf ungebahnten Wegen. Frauenautobiographien um 1900, Königstein im Taunus 2000.
5 Vgl. Kubrova, Vom guten Leben, insbesondere S. 101ff.

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