M. Sikora: Die Waffenschmiede des „Dritten Reiches“

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Titel
Die Waffenschmiede des „Dritten Reiches“. Die deutsche Rüstungsindustrie in Oberschlesien während des Zweiten Weltkrieges


Autor(en)
Sikora, Mirosłav
Reihe
Bochumer Studien zur Technik- und Umweltgeschichte 3
Erschienen
Anzahl Seiten
591 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Donges, Abteilung Volkswirtschaftslehre, Universität Mannheim

Zur Rüstungsindustrie im „Dritten Reich“ ist bereits eine große Zahl wirtschaftshistorischer Studien publiziert worden. Auch in der unternehmenshistorischen Forschung, die in den letzten Jahrzehnten florierte, standen Rüstungsunternehmen vielfach im Fokus. Zu nennen sind beispielsweise die vertikal-integrierten Konzerne der Schwerindustrie mit ihren angeschlossenen Waffen- und Munitionsfabriken, darunter Krupp, Flick oder die Vereinigte Stahlwerke AG. In Deutschland konzentrierte sich die Forschung in erster Linie auf die großen westdeutschen Konzerne, die oberschlesische Industrie fand hingegen weniger Beachtung. Dies gilt insbesondere für die Kriegsjahre, obwohl Oberschlesien durch die Annexion des östlichen Teils im Jahr 1939 für die Wirtschaft des Deutschen Reichs stark an Bedeutung gewann. Anders sieht die Situation in der polnischen Geschichtsschreibung aus, die sich aus naheliegenden Gründen viel stärker der Erforschung des oberschlesischen Industriegebiets widmet. Leider sind die Ergebnisse oft nur in polnischer Sprache publiziert und werden in der deutschen Forschung so nur bedingt wahrgenommen. Aus Sicht eines deutschen Wirtschaftshistorikers ist es deshalb sehr erfreulich, dass mit der deutschen Übersetzung des von Mirosław Sikora 2007 auf Polnisch veröffentlichten Buches eine umfassende Studie zur Rüstungsindustrie in Oberschlesien einem breiten deutschen Fachpublikum zugänglich gemacht wird.1

Sikora konzentriert sich auf die Rüstungsindustrie im engeren Sinne, zu der er in erster Linie die stahlerzeugenden und -verarbeitenden Unternehmen mit ihren angegliederten Waffen- und Munitionsfabriken zählt. Im Hinblick auf den Umfang des Buches ist diese Eingrenzung schlüssig, jedoch bleiben so andere kriegswichtige Bereiche unberücksichtigt, darunter der Steinkohlebergbau und die Treibstofferzeugung. Die Gliederung ist nicht strikt chronologisch, sondern orientiert sich an der Problemstellung. Einführend widmet sich Sikora den zentralen Organen der deutschen Rüstungsverwaltung und den Veränderungen während des Krieges. Im zweiten Kapitel wird der Prozess der administrativen und wirtschaftlichen Integration Ostoberschlesiens beschrieben. Die Kapitel drei und vier bilden den Kern der Studie, wobei das Hauptaugenmerk auf der Frage liegt, welchen Rüstungsbeitrag die oberschlesischen Unternehmen leisteten. Hier stützt sich Sikora auf umfangreiche Archivüberlieferungen, insbesondere Akten aus den oberschlesischen Hüttenkonzernen und aus der deutschen Rüstungsverwaltung. Sikora nutzt diese Quellenbasis, um Rüstungsbetriebe zu lokalisieren, das Produktionssortiment abzugrenzen und die Rüstungsproduktion quantitativ abzuschätzen. Das fünfte Kapitel dient als Epilog und beschreibt kursorisch den wirtschaftlichen Zusammenbruch Oberschlesiens als Folge des Vormarsches der Roten Armee. Im sechsten Kapitel greift Sikora abschließend seine zentrale Fragestellung auf und stellt fest, dass Oberschlesien „spätestens ab 1943 neben dem Ruhrgebiet eine von zwei Säulen der Rüstung im Bereich der Fertigteile“ gebildet habe (S. 463).

Mit seiner Studie knüpft Sikora an die wirtschaftshistorische Literatur über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung der Rüstungsproduktion im „Dritten Reich“ an. Diese stützt sich zu großen Teilen auf einen von Rolf Wagenführ – während des Krieges als Statistiker für das Rüstungsministerium Albert Speers tätig – 1954 veröffentlichten Produktionsindex für Rüstungsgüter.2 Auf Basis dieser Indexreihe lässt sich für die Zeit zwischen März 1942 und Juli 1944 eine im Trend stark ansteigende Produktion von Rüstungsgütern feststellen, während die Produktion in den Jahren zuvor, so die Darstellung Wagenführs, mehr oder weniger stagniert habe. Vor dem Hintergrund der allgemeinen kriegsbedingten Engpässe und der zunehmenden alliierten Bombenangriffe wird in der Literatur in diesem Zusammenhang auch von einem deutschen „Rüstungswunder“ gesprochen.3 Die vermeintliche Zäsur in der Rüstungsproduktion wird in der älteren Literatur mit dem Scheitern einer Blitzkriegsstrategie im Winter 1941/42 erklärt.4 In den ersten Kriegsjahren, so die traditionelle Sichtweise, sei aufgrund begrenzter Ressourcen die Tiefenrüstung, das heißt der Ausbau von Produktionskapazitäten, zu Gunsten der Breitenrüstung, das heißt dem schnellen Aufwuchs der Wehrmacht, vernachlässigt worden. Erst die Niederlage vor Moskau habe in der staatlichen Rüstungslenkung ein Umdenken herbeigeführt. Die starke Ausweitung der Rüstungsproduktion sei dann maßgeblich durch die von Albert Speer veranlassten Reformen in der Rüstungsverwaltung, die zu einem Produktivitätsanstieg geführt hätten, ermöglicht worden.5

In Sikoras Buch schlagen sich die traditionellen Sichtweisen vor allem im ersten Kapitel nieder. Dies zeigt bereits die Untergliederung, wo zwischen einer „Blitzkriegsphase“ und einer Phase der „Machtkonzentration beim Rüstungsminister im totalen Krieg“ unterschieden wird. Aus der Sicht des Jahres 2015 wirken die Ausführungen hier leider etwas angestaubt, da die oben genannten Erklärungsansätze von der jüngeren Forschung in großen Teilen infrage gestellt werden. Zwar zitiert Sikora an einigen Stellen Adam Tooze, auf dessen Kritik am Speer’schen Rüstungswunder geht er jedoch nicht näher ein und orientiert sich stattdessen an der älteren Literatur.6 Zu berücksichtigen ist, dass die in polnischer Sprache verfasste Originalausgabe bereits im Jahr 2007 veröffentlicht wurde. Dies mag erklären, dass die Arbeiten von Jonas Scherner und Jochen Streb hier völlig unter den Tisch fallen, die unter anderem anhand mehrerer Fallstudien zeigen, dass auf der Unternehmensebene in erster Linie betriebliche Lernkurveneffekte und Outsourcing die Produktivitätstreiber waren und nicht etwa die organisatorischen Reformen Speers.7 Ferner widerlegt Scherner die Blitzkriegshypothese auf der Grundlage rekonstruierter Investitionsdaten.8 Im Hinblick auf den Forschungsstand wäre eine inhaltliche Überarbeitung im Rahmen der deutschen Übersetzung wünschenswert gewesen.

Hervorzuheben ist die große Menge an Daten, die Sikora aus den Archiven zusammengetragen und aufbereitet hat. Zwar sind an vielen Stellen nur Fragmente vorhanden, die eine Quantifizierung erschweren, diesem Problem stehen aber alle Wirtschaftshistoriker gegenüber, die sich auf der Mikroebene mit der Rüstungsindustrie des „Dritten Reichs“ auseinandersetzen. Im dritten Kapitel konzentriert sich Sikora auf die Entwicklung der Unternehmen und betrachtet nacheinander verschiedene betriebswirtschaftliche Indikatoren, darunter Investitionen, Umsätze und Arbeitskräfte. Im vierten Kapitel stehen hingegen die Ausbringungszahlen einzelner Waffen- und Munitionstypen im Vordergrund. Zusammengenommen geben die ausgewerteten Daten einen tiefen Einblick in die Struktur der oberschlesischen Rüstungsindustrie.

Leider sind die Kapitel drei und vier nur schwer lesbar, da Sikora teilweise zu stark in die Details verfällt und man an manchen Stellen den roten Faden verliert. So werden beispielsweise in Kapitel 3.2 die Umsätze einer Vielzahl unterschiedlicher Unternehmen zu unterschiedlichen Betrachtungszeitpunkten relativ unübersichtlich aneinandergereiht. Ferner werden die Kriterien für die Auswahl der betreffenden Unternehmen nicht näher erläutert. Teilweise ist auch die Repräsentativität fraglich. Beispielsweise stützt sich Sikora auf die Entwicklung zweier Kleinbetriebe mit jährlichen Umsätzen von unter zwei bzw. unter 0,5 Mio. RM, um auf allgemeine Trends in der Entwicklung der Rüstungsproduktion zu verweisen (S. 178–180). Im vierten Kapitel verliert sich der Leser in einem Wust an Informationen zu den Ausbringungsmengen einzelner Munitions- und Waffentypen einer Vielzahl von Firmen. Eine Aggregation der Daten und die Konzentration auf ausgewählte Fallbeispiele wäre hier vielleicht sinnvoller gewesen.

Insgesamt bleibt ein zwiespältiges Fazit: Einerseits erlaubt Sikoras Studie detaillierte Einblicke in die Struktur der oberschlesischen Rüstungsindustrie und könnte so auch der unternehmenshistorischen Forschung wichtige Impulse liefern. Andererseits bleibt das Buch über weite Strecken sehr deskriptiv und ist in Teilen aufgrund unzähliger Nebeninformationen nur schwer lesbar.

Anmerkungen:
1 Mirosław Sikora, Kuźnia broni III Rzeszy. Niemiecki przemysł zbrojeniowy na Górnym Śląsku podczas II wojny światowej, Katowice 2007.
2 Rolf Wagenführ, Die deutsche Industrie im Kriege 1939–1945, Berlin 1954, S. 178–181.
3 Richard J. Overy, War and Economy in the Third Reich, Oxford 2002, S. 343f.
4 Alan Milward, The German Economy at War, London 1965, S. 1–53.
5 Overy, War, S. 343–375.
6 Adam Tooze, The Wages of Destruction. The Making and Breaking of the Nazi Economy, London 2006, S. 552–624.
7 Exemplarisch: Jonas Scherner / Jochen Streb, Das Ende eines Mythos? Albert Speer und das so genannte Rüstungswunder, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 93 (2006), S. 172–196; Jonas Scherner / Jochen Streb, Wissenstransfer, Lerneffekte oder Kapazitätsausbau? Die Ursachen des Wachstums der Arbeitsproduktivität in den Werken der Deutschen Sprengchemie GmbH, 1937 bis 1943, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 53 (2008), S. 100–122.
8 Jonas Scherner, ‘Armament in Depth‘ od ‘Armament in Breadth‘? German Investment Pattern and Rearmament During the Nazi Period, in: The Economic History Review 66 (2013), S. 497–517.

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