Cover
Titel
Secrets and Truths. Ethnography in the Archive of Romania’s Secret Police


Autor(en)
Verdery, Katherine
Reihe
The Natalie Zemon Davis Annual Lecture Series 7
Erschienen
Anzahl Seiten
XIX, 294 S.
Preis
$ 24.95; € 21,95; £ 18.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Domnitz, Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Abteilung Bildung und Forschung

Die Geheimdienstforschung und die Analyse der Repression in den staatssozialistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts erscheinen oftmals als in sich abgeschlossene Wissenschaftsfelder. Zu selten lassen sich Geheimdienstforscher, die vornehmlich an neuen und brisanten Aktenfunden interessiert sind, von benachbarten Wissenschaftszweigen inspirieren, um durch die Adaption anderer Methoden und Arbeitsweisen zu neuartigen Forschungsergebnissen und Deutungen zu kommen. Die Beschäftigung der Ethnographin Katherine Verdery mit der Tätigkeit der rumänischen Geheimpolizei, der Securitate, bringt zwar empirisch kaum Neues. Sie regt aber dazu an, stärker auf kulturwissenschaftliche Methoden zurückzugreifen und damit das Wesen staatssozialistischer Herrschaftsausübung jenseits der Politikhistorie aus neuer Perspektive zu ergründen.

Schon bevor sie sich den Geheimdiensten zuwandte, nutzte Verdery kulturwissenschaftliche Methoden für die Analyse des Staatssozialismus und der Transformationszeit in Ostmitteleuropa.1 In den 1970er- und 1980er-Jahren hatte sie in Rumänien an verschiedenen Studien über Folklore und Traditionspflege im ländlichen Raum gearbeitet. Dies hatte die Aufmerksamkeit der Securitate geweckt, die ihre Observation in verschiedenen Vorgängen unter insgesamt sieben Decknamen betrieb.

Verdery verwendet die Auseinandersetzung mit ihrer Securitate-Akte als Aufhänger dafür, das Wesen geheimpolizeilicher Tätigkeit aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu erschließen und auszudeuten. Sie tut dies in drei eng miteinander verzahnten Forschungsessays, welche zusammen die Qualität einer Monographie erreichen. Der erste Essay beschreibt Wesen und Arbeitsweise der Securitate aus der Perspektive ihrer Überlieferung. Der zweite stellt, darauf aufbauend, die These auf, dass eine Geheimpolizei ähnlich wie eine Geheimloge funktioniert und aus diesem Grunde Rituale und Geheimhaltungspraktiken als Grundlage ihrer Existenz benötigt. Der dritte schließlich ist der Wissenskonstruktion durch geheimpolizeiliche Informationserfassungs- und Deutungspraktiken gewidmet.

Ganz ähnlich wie der Historiker Timothy Garton Ash, der die Lektüre seiner MfS-Akte in einem Buch verarbeitete2, schildert Verdery ihre Observation anhand der geheimpolizeilichen Überlieferung und kontrastiert sie sowohl mit ihrer persönlichen Erinnerung als auch mit den Aussagen damaliger Weggefährten. In vielerlei Punkten geht Verdery allerdings weiter als Garton Ash. Von den Theorien vieler Ethnologen, Soziologen und Historiker inspiriert, entwickelt sie in „Secrets and Truths“ ein umfassendes Konzept geheimpolizeilicher Herrschaft. Sie geht davon aus, dass diese Herrschaft vor allem über die Schaffung herrschaftssichernder Geheimnisse, die Kontrolle von Wissensbeständen sowie über die Durchsetzung von Deutungsmacht funktioniert. Ihre Aufmerksamkeit widmet sie den Herrschaftstechnologien der Exklusion, welche über geheime Rituale und Kryptonyme Grenzen zwischen Eingeweihten und Nichtwissenden schaffen.

Schließlich thematisiert Verdery am Beispiel der Securitate die Schaffung einer spezifisch geheimpolizeilichen Wirklichkeit. Ihre These lautet, dass die Sicherheitsinstitutionen unter Inanspruchnahme von Ideologemen, Feindbildern und Bedrohungsszenarien Charakteristika der von ihnen observierten Personen konstruieren und hierbei von eigenen Bedürfnissen und mentalen Dispositionen geleitet sind. Die Konstruktion von Charakteristika der Observierten reiche, so die Autorin, bis hin zu einer kompletten Neuerfindung der von den Geheimpolizeien nicht ohne Grund als „Zielobjekte“ bezeichneten Menschen. Die Vorteile dieses Ansatzes liegen auf der Hand: Er ermöglicht es, jenseits einer normativ strukturierten Geschichte von Gewalt und Widerstand die Anatomie eines Herrschaftssystems zu analysieren und dabei die Funktionen von Geheimhaltung (secrecy) und geheimbündlerischer Praktiken (conspirativity) zu beleuchten.

Im Vorwort verweist Verdery auf ihr wissenschaftliches Vorbild Natalie Davies. Diese habe gezeigt, wie viel man aus Dokumenten jenseits ihres dokumentarischen Wahrheitswerts herausholen könne. Deshalb setzte sich Verdery das Ziel, die knapp 2800 Seiten ihrer Securitate-Akte so zu behandeln, als gelte es, aus diesen indirekt die Weltsichten und die Alltagspraxis der Personen zu ergründen, die diese Akte verfasst hatten. Verdery entschied sich dafür, die kulturellen Kategorien der untersuchten Gesellschaft ernst zu nehmen. Dies bedeutete hier, „Wissen“ als Kategorie der Geheimdienstforschung zu akzeptieren, anstatt der rumänischen Geheimpolizei Lügen oder Fälschungen vorzuwerfen (S. 40 und S. 161).

Bei der Verfolgung dieses Ansatzes geht Verdery recht weit. Sie fordert, dass sich Forscher in einem Gedankenexperiment mit den Geheimpolizisten identifizieren sollten, damit sie deren Tätigkeit besser verstehen könnten. Erleichtert würde dies dadurch, dass letztere eine Rolle spielten, die derjenigen des Ethnographen ähnelte. Beide, so Verdery, würden schließlich anhand bestimmter Muster und Methoden Evidenz sammeln und deuten. Sie gesteht ein, dass ihr dieses Einfühlen in die Welt der Securitate schwer gefallen sei, auch wenn es einige eigene Befangenheiten ins Wanken gebracht hätte. (S. 74f.) Inwieweit die Autorin auch die Gefahr sieht, sich in solch dichten Beschreibungen vereinnahmen zu lassen, wird leider nicht ganz klar.

Überzeugend wirkt, wie Verdery die geheimpolizeiliche Konstruktion von Wirklichkeit durchdringt. Sie führt hierzu Michail Bachtins Idee der Heteroglossie ein. Mit dieser konzeptualisiert sie inhaltliche und sprachliche Variationen, welche die verschiedenen Zuträger in eine Akte einbrachten.3 Der Literaturwissenschaftler Bachtin argumentiert, dass solche Variationen in epischen Erzählungen dazu führten, dass autoritäre Großerzählungen in Frage gestellt werden. Demgegenüber sieht Verdery nun eine zweite Stufe der Reduktion von Komplexität. Mit der Zusammenstellung der Berichte und Einschätzungen in einer Akte verfolge die Geheimpolizei das Ziel, die verschiedenen Stimmen in den Dienst einer dominanten Interpretation zu stellen. Im Zentrum dieser Interpretation stehe die Identifikation der „Zielperson“ als Feind. Um die Funktion eines solchen Mechanismus zu gewährleisten, implementiere die aktenführende Stelle Selektionskriterien und perspektivische Einengungen (S. 51f. und S. 56). Diese führten zu weit reichenden Umdeutungen. Aus konstruktivistischer Sicht könnten diese als Schaffung einer alternativen Wirklichkeit beschrieben werden. Verdery zitiert hierzu Georg Simmel, wonach das Geheimnis die Möglichkeit eröffne, eine Parallelwelt zu schaffen. Die Geheimhaltung der Securitate, argumentiert Verdery, habe für deren Mitarbeiter eine Fantasiewelt geschaffen, die ihnen Raum für eine eigene Sprache und für eigene, als paranoid charakterisierbare Vorstellungswelten bot (S. 99f. und S. 151).

Von diesen Befunden ausgehend, nimmt Verdery Rückschlüsse auf den Charakter der staatssozialistischen Herrschaft vor. Bereits in ihren Vorarbeiten hatte sie Ursachen für das im Staatssozialismus besonders intensiv ausgeprägte Kontrollstreben skizziert. Zu diesen Ursachen zählen für sie der Anspruch, das Erwirtschaftete zentral gesteuert über die Gesellschaftsbereiche zu verteilen, daneben die sowjetische Erfahrung von Bürgerkrieg und Isolation unmittelbar nach der Revolution sowie eine im historischen Materialismus eingeschriebene Tendenz, ein Scheitern mit externen Einflüssen zu begründen – deren Eindämmung wiederum als geheimpolizeiliche Aufgabe betrachtet wird.4 Diese Umstände hätten ein sozialistisches „Ur-Geheimnis“ hervorgebracht – den „inneren Feind“, von dem ein Land sich angeblich nur durch ritualisierte Geheimoperationen befreien könne. Dieses legitimatorische, stets neu kreierte Geheimnis habe zu den Pathologien des Staatssozialismus beigetragen: So, wie das Horten die Produktionsweise, die Exportkontrollen den Handel und die Zensur das Publizieren kennzeichnete, hätte die Geheimhaltung die Informationsflüsse deformiert oder ganz unterbrochen. Zu den nicht intendierten Konsequenzen dieser Limitierungen und Schließungen gehörten also nicht nur die Entstehung von Schwarzmarkt, Schmuggel und Selbstverlag: Auch Geheimhaltung bzw. das Vorenthalten von Information hätten administrativ schwer kontrollierbare Effekte hervorgebracht – die Omnipräsenz von Gerüchten und Geschäfte mit Informationen (S. 89, S. 142, S. 145).

Diese mit den Methoden der Politikhistorie kaum zu erzielenden Erkenntnisse machen den Mehrwert der Studie aus. Allerdings ist die Aussagekraft einiger Verallgemeinerungen begrenzt. Dies gilt besonders, als Rumänien nicht nur aufgrund seiner ab den 1970er-Jahren wachsenden Isolation im sozialistischen Lager in vielerlei Hinsicht einen Spezialfall darstellt. Verdery sieht ein Spezifikum darin, dass in Rumänien die Strukturen von Überwachung und Kontrolle sehr tief in die Gesellschaft hineinreichten. So habe das „Gesetz über den Schutz von Staatsgeheimnissen“ von 1971 faktisch jeden Bürger zur Wachsamkeit verpflichtet. In Rumänien sei die Domäne der Konspirativität grenzenlos und die Bevölkerung ihr eigenes Überwachungsinstrument geworden (S. 130f.). Auf diese Weise ließ sich trotz einer relativ niedrigen Anzahl von Securitate-Hauptamtlichen eine großflächige Überwachung organisieren. Verdery zitiert hierbei die offiziellen rumänischen Zahlen für 1989 (39.000 Hauptamtliche und 486.000 Informanten) und stellt sie denjenigen gegenüber, die Gary Bruce 2008 für die ostdeutsche Staatssicherheit nannte (93.000 Hauptamtliche und 178.000 Informanten).5

Eine Stärke von Verderys Buch ist die Hinzuziehung eines breiten Spektrums von Sekundärliteratur. Dies betrifft nicht nur die Anbindung an Großtheorien, wie sie beispielsweise in Michel Foucaults „Überwachen und Strafen“, Pierre Bourdieus „Feinen Unterschieden“ oder in Hannah Arendts „Totaler Herrschaft“ dargelegt sind.6 Darüber hinaus geben ihre Essays einen breiten Überblick über Studien an der Schnittstelle zwischen Geheimdienstforschung, surveillance studies, Ethnologie, Soziologie und Geschichtswissenschaft. Aus dieser Sicht ist es verzeihlich, dass der Leser in „Secrets and Truths“ kaum neue Fakten zur Tätigkeit der Securitate erfährt und dass sich Verdery stattdessen auf die gängige Literatur bezieht.7

Allerdings sind die von ihr eingefügten Verweise auf die ostdeutsche Staatssicherheit problematisch. Denn die Autorin geht nicht vergleichend vor, sondern ergänzt Dokumentationslücken zur Securitate-Tätigkeit komplementär mit Fremdbefunden – zum Beispiel aus Andreas Glaesers soziologischer Studie zu den MfS-Hauptamtlichen (S. 127 und S. 129).8 Auch wird der Lesefluss durch die redundante Präsentation einiger Gedanken geschmälert (zum Beispiel S. 112 und 131; S. 10–13 und S. 160). Die Inspiration aus der Lektüre schränkt dies indes nicht ein. Auch wenn Verderys hermeneutische Experimente bisweilen sehr weit gehen, weiten sie methodische Perspektiven auf den Themenkomplex geheimpolizeilichen Handelns und gesellschaftlicher Überwachung.

Anmerkungen:
1 Katherine Verdery, What Was Socialism, and What Comes Next?, Princeton, N.J. 1996.
2 Timothy Garton Ash, Die Akte „Romeo“. Persönliche Geschichte, München 1997.
3 Mikhail M. Bakhtin, Michael Holquist (Hrsg.), The Dialogic Imagination. Four Essays, Austin 1981.
4 Katherine Verdery, Secrets and Truths. Knowledge practices of the Romanian Secret Police, Leipzig 2012, S. 28.
5 Gary Bruce, Access to Secret Police Files, Justice, and Vetting in East Germany since 1989, in: German Politics and Society 26 (2008), S. 82–111, hier 100.
6 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1976; Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1983; Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt am Main 1955.
7 Z.B. Dennis Deletant, Ceauşescu and the Securitate. Coercion and Dissent in Romania, 1965–1989, Armonk, N.Y. 1995, weiterhin zahlreiche zitierte Veröffentlichungen der Securitate-Akten-Behörde CNSAS sowie Memoirenliteratur früherer Securitate-Offiziere in rumänischer Sprache. Demnächst erscheint zudem eine Monographie von Georg Herbstritt zu Kooperation und Konfrontation von Stasi und Securitate in deutscher Sprache.
8 Andreas Glaeser, Political Epistemics. The Secret Police, the Opposition, and the End of East German Socialism, Chicago 2011.

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