R. Stokes u.a.: Aus der Luft gewonnen

Cover
Titel
Aus der Luft gewonnen. Die Entwicklung der globalen Gaseindustrie 1880–2012


Autor(en)
Stokes, Raymond G.; Banken, Ralf
Erschienen
München 2014: Piper Verlag
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Marx, Forschungszentrum Europa (FZE), Fachbereich III, Universität Trier

Obschon Industriegasunternehmen keineswegs im Geheimen operieren, wird die Branche aufgrund ihrer Basisressource Luft, die im Gegensatz zu anderen Rohstoffen in schier unbegrenzter Menge kostenfrei zur Verfügung steht, gerne auch als "unsichtbare Industrie" beschrieben. Raymond Stokes und Ralf Banken zeigen, dass die geringe öffentliche Aufmerksamkeit und die weitgehende Vernachlässigung der Industriegasindustrie durch die Wirtschafts-, Industrie- und Technikgeschichte ihrer Bedeutung nicht gerecht wird. Im Rahmen einer von 1886 bis zur Gegenwart reichenden, kollektiven Unternehmensgeschichte tragen sie die Gründe für die Langlebigkeit zentraler Industriegasunternehmen zusammen und untersuchen das Kräftespiel zwischen unternehmerischer Kooperation und Wettbewerb. Eine wesentliche Voraussetzung für technologische Innovationen und Weiterentwicklungen in der Industriegasbranche war das theoretische Verständnis von Wissenschaft, das sich wie ein roter Faden durch mehrere Kapitel zieht; insofern wies der Industriezweig die klassischen Merkmale der Zweiten Industriellen Revolution im Sinne David Landes' auf.

Das Buch ist in zehn Kapitel aufgeteilt und grundsätzlich an klassischen Fragen der Unternehmensgeschichte, wie der Bedeutung von Innovationen und Unternehmensstrategien, orientiert. Dabei richten die Autoren ihren Fokus auf die größten Unternehmen in den weltweit wichtigsten Märkten in Westeuropa und den USA. In den ersten beiden Kapiteln wird die Entstehungsgeschichte der Industriegasbranche von der ersten Massenproduktion gasförmigen Sauerstoffs in England bis zum Ersten Weltkrieg nachgezeichnet. Das von den Brüdern Arthur und Leon Brin 1880 patentierte Verfahren zur Herstellung von Sauerstoff führte 1886 zur Gründung der Firma Brin's Oxygen Company, die 20 Jahre später in British Oxygen Company (BOC) umfirmierte und im gesamten 20. Jahrhundert zu den führenden Unternehmen der Branche gehörte. Doch erst das von Carl von Linde entwickelte Verfahren zur Luftverflüssigung und -trennung ermöglichte ein umfangreiches Produktionspotenzial zur Industriegasherstellung und legte damit den Grundstein für Lindes Unternehmen und die Herausbildung des gesamten Industriezweigs. Schon wenig später ersann der französische Erfinder-Ingenieur Georges Claude ein Konkurrenzverfahren zur Luftzerlegung und gründete die Firma Air Liquide. Der Sauerstoffproduzent BOC behielt zwar seine beherrschende Stellung auf dem britischen Markt, die Rolle des technischen Vorreiters ging infolge der neuen Verfahren allerdings auf Deutschland und Frankreich über.

Obgleich damit zu Beginn des 20. Jahrhunderts die technologischen Voraussetzungen für eine moderne Industriegasbranche erfüllt waren, standen die Unternehmen vor dem Grundproblem unzureichender Absatzmärkte. Zudem blieben Transport und Lagerung des Gases problematisch. Während die Verwendung von Sauerstoff zur Beleuchtung von Theatern und Leuchttürmen sowie als medizinisches Mittel bis in die 1890er-Jahre noch keinen nennenswerten Nachfrageanstieg bewirkte, ließen neue Schweiß- und Schneidtechniken sowie neue chemische Verfahren den Bedarf nach Acetylen und Sauerstoff ab der Jahrhundertwende sprunghaft ansteigen. Seit etwa 1914 gab es somit Stokes und Banken zufolge eine klar abgrenzbare Industriegasindustrie, auch wenn die Unternehmen meist nicht nur einem einzelnen Industriezweig zuzuordnen waren und die Gashersteller lange Zeit kaum in direkter Konkurrenz zueinander standen.

In den Kapiteln 3 bis 5 wird der für die Marktstruktur zwischen 1914 und 1960 bestimmende, eingeschränkte Wettbewerb zwischen den Gasherstellern untersucht. Der mit dem Ersten Weltkrieg verbundene Nachfrageanstieg nach Industriegasen verschaffte der Branche ein solides Wachstum, doch erst in der Nachkriegsperiode wurden Schweißen und Schneiden zu wirklichen Wachstumsmotoren. Dabei steht die Beteiligung der Gasunternehmen an der Kriegswirtschaft außer Frage – insbesondere im Bereich des technischen Know-hows. Der Stickstoff für das Haber-Bosch-Verfahren zur Produktion von Ammoniak, aus dem sich Dünger und Sprengstoff herstellen ließ, stammte nahezu ausnahmslos aus dem Lindeschen Luftzerlegungsprozess. Für die Firma Linde bedeutete vor allem der Kriegseintritt der USA 1917 einen entscheidenden Einschnitt, da man das Recht an Patenten und am Firmennamen in den Vereinigten Staaten verlor. Das von Carl von Linde 1907 mitbegründete US-Unternehmen Linde Air Products war inzwischen zum größten Sauerstoffhersteller der Welt herangewachsen. Mit dem Heylandt-System für Flüssiggas, das das Problem des Massentransports und der Lagerung löste, sowie dem Linde-Fränkl-Verfahren zur Verwendung von hochreinem Sauerstoff bei der Stahlgewinnung erlebte die Branche in der Zwischenkriegszeit grundlegende Innovationen, die die Basis für ein kontinuierliches Wachstum schufen.

Daneben eröffneten die Produktion von synthetischem Benzin, Kautschuk und Kunstfasern sowie neue Entwicklungen in der Raketentechnik und der Atomkraft bald weitere Geschäftsfelder, die zugleich auf die Beteiligung deutscher Unternehmen an den Vorbereitungen für den Zweiten Weltkrieg verweisen. Ohne Industriegase wäre die weltweite Rüstungs- und Munitionsproduktion im Zweiten Weltkrieg in diesem Umfang nicht möglich gewesen. In den USA konnten die beiden Schwergewichte Linde Air Products und Airco 1940/41 kaum noch den Bedarf der boomenden Rüstungsproduktion decken; dies ermöglichte den Aufstieg der erst 1940 gegründeten Firma Air Products. Die Nachkriegszeit war vor allem durch den Wiederaufbau alter Marktstrukturen gekennzeichnet: Die im Ersten und Zweiten Weltkrieg ausgesetzten Gentlemen's Agreements zur Aufteilung aller großen, in der Regel durch ein oder zwei nationale Champions beherrschten Märkte wurden in den 1950er-Jahren wiederbelebt. Während zunächst der Krieg das Überleben des Newcomers Air Products gesichert hatte, garantierte das von ihm entwickelte Onsite-Modell, bei dem langjährige Lieferverträge als Sicherheit für Bankkredite dienten, nicht nur den dauerhaften Bestand des Unternehmens, sondern revolutionierte die Finanzierung der gesamten Branche.

In den drei folgenden Kapiteln werden der Strukturwandel und die Internationalisierung der Branche in den 1960er- und 1970er-Jahren behandelt. Mit dem Markteintritt von US-Firmen in Europa – besonders von Air Products in Großbritannien – verschärfte sich nicht nur der Wettbewerb in den westeuropäischen Ländern, auch die Gentlemen's Agreements der westeuropäischen Gasanbieter wurden hierdurch hinfällig. Als Gegenmaßnahme steigerten die westeuropäischen Marktführer ihre eigenen Internationalisierungsbemühungen und betrieben eine Diversifikation und Ausweitung ihrer Produktpalette. Gleichzeitig förderte die Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die Expansion in die westeuropäischen Märkte und die Marktkonzentration durch Fusionen und Übernahmen. Die neuen Trends waren mit einem erheblichen Kapitalbedarf verbunden, der fortan weitgehend über den Kapitalmarkt gedeckt wurde und die Unternehmensfinanzierung grundlegend veränderte. In den 1970er-Jahren gingen die westeuropäischen Gasunternehmen dann auch in den USA auf Einkaufstour; Air Liquide, BOC, die schwedische AGA und Messer Griesheim eroberten dort in den 1980er-Jahren einen Marktanteil von 25 Prozent.

Der vierte, die beiden letzten Kapitel umfassende Teil behandelt die durch Konzentrationsbestrebungen, Globalisierung und die Herausbildung neuer Märkte gekennzeichnete Entwicklung der Industriegasbranche seit 1980. In der Elektronikindustrie und Halbleiterfertigung entstanden neue Wachstumschancen für die Industriegasindustrie, von denen insbesondere japanische Konkurrenten profitierten. Trotz der Expansion aller Anbieter in neue Märkte blieb die zentrale Bedeutung des heimischen Marktes aufgrund des erheblichen Kapitalbedarfs für Neuinvestitionen in den 1980er-Jahren bestehen. Die geografische Expansion ab 1990 in Richtung Mittel- und Osteuropa, China und Südostasien erreichte jedoch eine Größenordnung, die im Vergleich zu den vorangegangenen Jahrzehnten eine deutliche Diskontinuität erzeugte. Infolge einer Konzentrationswelle ab der Jahrtausendwende, in deren Rahmen Linde die beiden Unternehmen BOC und AGA übernahm, blieben von den acht weltweit operierenden Unternehmen schließlich nur noch fünf übrig, die 2009 über 80 Prozent der weltweiten Verkäufe an Industriegasen auf sich vereinigten.

Insgesamt verfügt das Buch über eine stringente Argumentation, ist flüssig geschrieben und kann zur Lektüre nur empfohlen werden. Die Konzentration auf wenige Großunternehmen mag man ebenso wie die Ausblendung der Märkte in den Entwicklungs- und Schwellenländern kritisieren, nach Auffassung des Rezensenten wäre eine Einbeziehung kleiner und mittlerer Unternehmen und weiterer Regionen innerhalb einer Monographie jedoch kaum zu leisten gewesen; dies verweist eher auf Forschungslücken für zukünftige Untersuchungen. Eine stärkere Berücksichtigung weiterer Unternehmer nach der Gründergeneration sowie der industriellen Beziehungen in den behandelten Unternehmen wäre zum Verständnis der Unternehmensstrategien durchaus wünschenswert gewesen; aber auch diese Einschränkung kann das positive Gesamtbild nicht schmälern.

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