Cover
Titel
Politische Mahlzeiten. Political Meals.


Herausgeber
Bendix, Regina F.; Fenske, Michaela
Reihe
Wissenschaftsforum Kulinaristik 5
Erschienen
Münster 2014: LIT Verlag
Anzahl Seiten
360 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Jonathan Roth, Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Der Zusammenhang von Macht und Essen ist so alt wie die Menschheit, jedenfalls wenn man die Schöpfungsgeschichte an ihren Anfang stellt. In ihrem Beitrag über die „Politics of a Fruit“ liest Galit Hasan-Rokem den Garten Eden als ein politisches Feld, in dem schon die erste überlieferte Mahlzeit, der verhängnisvolle Verzehr der Frucht vom Baum der Erkenntnis, deutlich macht, dass Nahrung nicht zuletzt Ausdruck und Gegenstand von Machtbeziehungen ist: „whosoever owns power, owns food and the knowledge and can regulate their distribution“ (S. 97).

Der Text ist Teil des Sammelbandes „Politische Mahlzeiten“, mit dem die Kulturanthropologinnen Regina F. Bendix und Michaela Fenske ein vielseitiges „Lesebuch“ herausgegeben haben, das „Essen als ein Aktionsfeld des Politischen“ (S. 6) portraitiert. Der zweisprachige Band versteht sich als „Zwischenruf zu einer intensiv geführten Debatte“ (S. 9), die gleichermaßen in einem transdisziplinären Wissenschaftsfeld, in den Medien sowie im gesellschaftlichen Alltag stattfindet. Mit dem Blick auf das komplexe Themenfeld Nahrung und Ernährung, „von der Saatguterzeugung über den Anbau, den Handel und die Verteilung von Lebensmitteln, bis zur Zubereitung und dem Verzehr“, werden dabei zunehmend auch die „politischen Dimensionen des Essens“ (S. 6) artikuliert. Mit dem Titel „Politische Mahlzeiten“ schlagen die Herausgeberinnen eine erste Schneise in diese Debatte: Die „Mahlzeit“ rückt den gesellschaftlichen Kontext der Ernährung in den Fokus, wobei deren Verbindlichkeit als eine „zeitliche, soziale und räumliche Ordnungen konstituierende kulturelle Praxis“ in der Postmoderne in Bewegung geraten, als „Leitbild“ aber immer noch wirksam sei (S. 8). Es gelte daher Mahlzeiten vor allem als Dreh- und Angelpunkt soziokultureller Praxen zu verstehen, in die sich auch politische Phänomene einschreiben. Der Fokus auf Praktiken, Motivationen und Akteur/innen bildet nicht nur den gemeinsamen Aussichtspunkt der Beiträge, er prägt auch die Struktur des Buches, dessen Kapitel sich um verschiedene “Praktiken des Tuns, des Handelns und Verhandelns“ (S. 9) formieren.

Das Kapitel „Pflanzen, Gärtnern, Geben“ (S. 31–78) widmet sich der Ambivalenz von Ernährungsfragen im Kontext von Subsistenz, Armut und Gesundheit, wie das Beispiel Urban Agriculture oder City Farming zeigt: Elisabeth Meyer-Renschhausen (S. 33–42) beschreibt Gärtnern als eine Form der Sozialpolitik, die gesellschaftspolitische Diskurse in der skalaren Mikroebene des Gartens zusammenführt und dabei den Akteur/innen auch eine „Eigenmächtigkeit und Unabhängigkeit“ (S. 40) ermöglicht. Dagegen sieht Puja Batra-Wells (S. 67–78) den Schaugarten der First Lady Michelle Obama als Ausweis einer neoliberalen Agenda, die auf Selbstverantwortlichkeit setzt, anstatt infrastrukturelle Defizite auf der staatlichen Ebene zu lösen. Das Projekt entlarve die Ernährungsfrage in den USA als eine Klassenfrage, da die Ressourcen der „working class“ dem Projekt und seinem „paternalistic mode of pedagogy“ (S. 72) diametral gegenüberstehen.

Der Abschnitt „Regeln brechen“ (S. 79–142) behandelt Mahlzeiten als einen kommunikativen Kontext mit festen Ordnungen und Normen, die gerade deshalb als politische Bühne dienen können, um Regel- und Tabubrüche zu inszenieren. So zeigt Hartmut Bleumer (S. 99–122) wie in der mittelhochdeutschen Dichtung erzählte Konflikte durch gestörte Ordnungen von Mahlzeiten metapoetisch gedoppelt wurden, etwa wenn sich bei Kriemhilds Rache in den „Nibelungen“ ein Gastmahl im Blutbad auflöst. Auch demonstrativer Konsum erweist sich als Mittel des politischen Protests, wenn Küchenchefs in Chicago in halböffentlichen Diners die zuvor verbotene Gänsestopfleber wieder auf das Menü setzen (DeSoucey, S. 81–92) oder mittels „Containern“, der Aneignung weggeworfener Lebensmittel durch Freegan-Aktivisten, Aufmerksamkeit für die systemische Deklarierung von „Essbarem“ und „Abfall“ erregt werden soll (Bendix, S. 139–142).

Mit den Kapiteln „Parteipolitisch Essen“ (S. 143–163) und „Gastlichkeit inszenieren“ (S. 167–219) wird die institutionalisierte Politik in den Blick genommen, wo Mahlzeiten, Empfänge und Bankette auch einer symbolischen Inszenierung von politischen Zugehörigkeiten dienen. So bewertet etwa Michaela Fenske (S. 145–154) schon den öffentlichen Verzehr von Alltags-Kost wie Currywurst als eine „Form der politischen Kommunikation“, durch die Politiker ihre spezifische Bürgernähe zu demonstrieren versuchen. Am Beispiel des jährlichen Banketts zum finnischen Unabhängigkeitstag zeichnen Pauliina Latvala und Pia Olsson (S. 199–214) ein Kaleidoskop der finnischen Gesellschaft auf der symbolischen Plattform von Mahlzeiten nach, das zwischen dem politischen Hochamt im Präsidentenpalast und zeitgleichen Suppenküchen als Protest gegen Armut und Ungleichheit oszilliert.

Dass Mahlzeiten auch situativ „Zweckgemeinschaften“ konstituieren können, machen die Beiträge des fünften Kapitels (S. 221–260) deutlich. So versteht beispielsweise Eva Barlösius (S. 249–260) das gemeinsame Essen bei Gutachtersitzungen als eine „soziale Institution“(S. 250) im wissenschaftlichen Feld: Die Mahlzeit als ein „Modell dafür, wie Menschen untereinander ihre sozialen Beziehungen einrichten“ (S. 252) wird im protokollfreien Rahmen der Gutachtertreffen dienstbar gemacht, um eine gemeinsame Grundlage für die Bewertung von wissenschaftlichen Forschungsprojekten auszutarieren. Den gemeinsamen Mahlzeiten kommt somit eine zentrale Rolle im wissenschaftspolitischen Agendasetting zu.

Unter dem Signet „Dazugehören, Verhandeln, Überzeugen“ (S. 261–327) wird die regulierende, Zugehörigkeit und Ausschluss artikulierende Wirkung von Mahlzeiten und Lebensmitteln diskutiert und damit die Verflechtungen von Politik und Alltag am Beispiel von Ernährungsfragen deutlich gemacht. Regina Römhild nimmt die Ausgabe von Wertgutscheinen an Flüchtlinge als Ausgangspunkt, um Hegemoniediskurse in der aktuellen europäischen Grenzpolitik zu beleuchten (S. 263–272). Zum einen wird dabei der Einfluss von Nahrungsmittelkonzernen in der Zuwanderungspolitik deutlich, zum anderen die ambivalente Wirkung von Wohltätigkeitsprogrammen, die die Abhängigkeit Betroffener durch alimentäre Unterstützung nicht lösen, sondern reproduzieren. Die „Festung Europa“ erscheint Römhild aus dieser „gastropolitischen“ Perspektive mit Etienne Balibar eher als ein weites „Grenzland“ (S. 266), dessen regulative Wirkungen auch in das europäische Hinterland hineinstrahlen.

Angesichts dieser inhaltlichen Vielfalt stellt sich abschließend die Frage, wo der „Zwischenruf“ der Herausgeberinnen zu verorten ist. Die Publikation ist in erster Linie vor dem Hintergrund der aktuellen kulturanthropologischen-volkskundlichen Fachdiskussionen um die Akzentuierung einer „Anthropologie des Politischen“ zu lesen. „Politik“ wird dabei im weitesten Sinne als institutioneller Rahmen, regulatives Instrument oder Formation von Machtbeziehungen verhandelt und, mit dem methodisch-heuristischen Selbstverständnis der empirischen Kulturwissenschaften, vor allem in seinem praktischen Vollzug im Alltag beleuchtet.1 In dieser Hinsicht lässt sich der gemeinsame Fokus der Beiträge als ein überzeugender Versuch lesen, Mahlzeiten als empirische Fenster in symbolische Ordnungen und soziale Beziehungsverhältnisse zu nutzen, die durch Essen und Ernährung gleichermaßen konstituiert oder zum Ausdruck gebracht werden. Dieser Zugang wird bereits im Begriffsapparat der verschiedenen Beiträge deutlich: So werden die beschriebenen Mahlzeiten als „spaces of performance“ (S. 157), „Spiegel, Ausdruck und Regulativ“ (S. 174), „(political) theatre“ (S. 82, 200), „link between the personal and political“ (S. 201), “Schaubühnen“ (S. 242), „coded communication“ (S. 289), “medium and message for conflict” (S. 289f.), „agent” (S. 325) oder “lens”/”window” (S. 333) verhandelt. Die „Mahlzeit“ wird im Rahmen dieses Buchprojektes somit zum Aussichtspunkt für Aushandlungen und Auswirkungen des Politischen im Alltag.

Die thematische und fachliche Vielfalt der Beiträge ließe bei einer oberflächlichen Betrachtung vielleicht den Vorwurf aufkommen, dass hier einer terminologischen Beliebigkeit von „Politik“ als kulturwissenschaftlicher catch-all-Kategorie Vorschub geleistet wird. In gleicher Weise, wie dies einmal Aleida Assmann für die Fachdiskurse zu Erinnerungskultur und kulturellem Gedächtnis formuliert hat 2, lässt sich „das Politische“ in diesem Sammelbandes allerdings viel gewinnbringender als Komplementärkonzept lesen, das eine zusammenhängende Untersuchung bisher separat wahrgenommener Phänomene erst möglich macht. In dieser Hinsicht hätte die Einleitung durchaus noch programmatischer ausfallen dürfen. Die Beispiele sprechen indes für sich: Mit dem fokussierten Blick auf das totale soziale Phänomen Nahrung / Ernährung / Mahlzeit werden über den Ereigniszusammenhang hinaus auch dahinterstehende Ordnungs- und Machtkomplexe in ihren alltagskulturellen Verstrickungen sichtbar. Das macht Mahlzeiten „politisch“.

Stolpert man nicht über gelegentliche handwerkliche Mängel der Publikation, der man ein ordentlicheres Lektorat gewünscht hätte, bietet dieses „Lesebuch“ einen reichen Fundus an Perspektiven für eine „gastropolitische“ Forschung, die sich ausgehend von den versammelten Beiträgen in jede Richtung weiterdenken lässt.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a.: Michaela Fenske (Hrsg.), Alltag als Politik – Politik im Alltag. Dimensionen des Politischen in Vergangenheit und Gegenwart. Berlin 2010; Asta Vonderau / Adam Jens (Hrsg.), Formationen des Politischen. Anthropologie politischer Felder. Bielefeld 2014; sowie die Perspektiven der dgv-Kommission “Europäisierung –Globalisierung: Ethnographien des Politischen: <http://www.d-g-v.org/kommissionen/interkulturelle-kommunikation> (17.11.2015).
2 Aleida Assmann, Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften, in: Lutz Musner / Gotthart Wunberg (Hrsg.), Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen, Wien 2002., S. 27–45.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/