Titel
Transplantierte Alltage. Zur Produktion von Normalität nach einer Organtransplantation


Autor(en)
Amelang, Katrin
Reihe
VerKörperungen 21
Anzahl Seiten
258 S.
Preis
€ 32,99
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Denny Chakkalakal, Berlin School of Public Health, Charité Universitätsmedizin Berlin

Mit „Transplantierte Alltage. Zur Produktion von Normalität nach einer Organtransplantation“ legte die Kulturanthropologin Katrin Amelang eine ethnografische Fallstudie vor, die sich bewusst einer Seite der Transplantationsmedizin zuwendet, die in öffentlichen Diskursen gerne übersehen wird: dem Alltag danach. In ihrer 2012 als Dissertation in der Europäischen Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin eingereichten Studie zeichnet Amelang einen aus den Fugen geraten Alltag nach – einen Alltag, der nach einer Lebertransplantation das Selbstverständliche verloren hat; der neu erlernt, der pharmazeutisch reguliert und immer wieder neu erarbeitet werden muss. In diesem Spannungsfeld entwickelt Amelang ihre Forschungsperspektive. So möchte sie nicht nur eine spezifische Alltagskultur untersuchen, sondern nimmt sich zum Ziel „ nicht allein ein Phänomen im Alltag, sondern Alltag selbst in den Blick zu nehmen“(S. 7).

Entlang von sechs Kapiteln wird der Leser in den Post-Transplantations-Alltag mitgenommen; sie sind durchzogen mit Beobachtungen und Geschichten der Transplantierten aus ihrer ausgiebigen Feldforschung. Nach einer Einleitung in die zentrale Fragestellung und die Kontextualisierung des Forschungsgegenstandes Post-Transplantations-Alltags beginnt Kapitel 2 mit Geschichte(n) der Transplantationsmedizin. Die Autorin greift dabei verschiedenste Aspekte des Transplantations-Universums auf von Ursprungsmythen über Körperkonzepte hin zu Organspende-Diskursen. Geschickt verbindet Amelang diese Kontextualisierung Ihres Feldes mit einem dichten kulturanthropologischen Forschungsstand. Zentral für dieses Kapitel bleibt die Einordnung ihrer Studie in die kulturanthropologische Alltagsforschung; aus dieser wird die Problematisierung ihres eigenen Gegenstandes greifbar. Alltag ist bei Amelang erstens methodischer Ausgangspunk und zweitens erst in der Gegenüberstellung mit dem Nicht-Alltäglichen sichtbar zu machen. Diese alltagswissenschaftlichen Überlegungen verknüpft die Autorin mit Konzepten aus der Medizin- und Körperanthropologie sowie den Science and Technology Studies. Besonders hervorzuheben ist, dass die Autorin es schafft, dieses Spannungsfeld in den drei folgenden empirisch ausgerichteten Kapiteln aufrecht zu erhalten.

Kapitel 3 liefert den ersten Zugang zum Post-Transplantations-Alltag. Im Kapitel „Alltag als Test“ wird Alltag in der Rehabilitation nach der Transplantation eingeübt. Amelang stellt hier einen Zwischenort vor; nach der Krise der Krankheit und der Transplantation und vor dem Alltag mit der neuen Leber. Amelang zeigt, dass es keine einfache Kontinuität von Alltag nach der Transplantation gibt. Alte Routinen müssen mit einem neuen Körper ausgehandelt werden, dessen Immunsystem pharmakologisch geschwächt wird, damit er das neue Transplantat nicht angreift. Aus der Perspektive des Rehabilitationspersonals ist die oberste Prämisse dieses neuen Alltags, die neue Leber zu schützen. Dies umfasst auch den Schutz vor alten Gewohnheiten der OrganträgerInnen. Amelang zeigt, wie es nicht nur zu Interventionen ins Immunsystem in Form von Medikamenten und Kontrolluntersuchungen kommt, sondern wie auch Ernährungs- und Bewegungsstile im Fokus stehen. In der Rehabilitation werden regelrechte „Veralltäglichungschranken“(S. 61) aufgebaut, um dem Alltag seiner Selbstverständlichkeit zu berauben. Alltag erhält so eine Gebrauchsanweisung. Amelang zeigt deutlich die doppelte Gestalt von Alltag: erstens als Alltag der draußen lauert und einen auf die Probe stellt und zweitens als der neue Alltag, der aktiv hergestellt werden kann. Die Produktion von Alltag befindet sich hier jedoch noch im „Testlauf“(S. 125), eine wirkliche Bewährung der neuen Regeln findet sich in der Rehabilitation noch nicht.

Im nächsten Kapitel wird ein weiterer Aspekt des Post-Transplantations-Alltag vorgestellt: die Lebertransplantations-Ambulanz mit der die PatientInnen eine mehr oder weniger enge Beziehung führen. Die Autorin spricht hier von einem „Organ-Alltag“ (S. 125), der sich um den Körper dreht, bei dem das Organ, das Immunsystem etc. vermessen und überwacht werden. Diese neue Kontrolle des eigenen Körpers wird zwischen Diagnostik, ärztlichen und pflegerischen Personal, klinischen Erfahrungen und den PatientInnen ausgehandelt. Der LeserIn wird durch detaillierte Beobachtungen eindrucksvoll geschildert, wie normale Körper produziert werden. Die Normalität eines Körpers ist jedoch in der Ambulanz nicht kohärent gegeben, das bedeutet z.B., dass die klinische Erfahrung einer ÄrztIn nicht immer labor-medizinischen Testresultaten entsprechen muss. Amelangs Analysen zeigen dabei etwa, wie ärztliches Handeln zwischen Erfahrung und medizinischen Standardprotokollen und damit unterschiedlichen Wissensordnungen ausgehandelt wird. Die Überwachung und Herstellung dieser normalen Körper blickt also zum einen in den Körper hinein, um beispielsweise Medikamentenlevel zu beobachten und zu verändern, doch wie im Testlauf Rehabilitation wird zum anderen auch hier das Verhalten der TrägerInnen in den Blick genommen: Wie wird die Medikation eingenommen, wird auf die richtigen Hygienevorschriften geachtet? Damit ist die Arbeit, die in diesen Ambulanzen geleistet wird, nie nur eine Intervention in Körper, sondern Herstellung von Alltag.

Während das dritte und vierte Kapitel noch maßgeblich von klinischen beziehungsweise institutionellen Settings handeln, widmet sich Kapitel 5 dem Leben jenseits dieser Orte. Hier wird Alltag „nicht nur neu hergestellt, sondern auch vorgefunden“(S. 177). Mitgebracht ins Leben nach der Transplantation werden die neuen Therapieregime, die von Verhaltensregeln bis hin zur unzähligen Tabletten verschiedenste Formen annehmen können. Den Umgang mit diesen Regeln zeigt Amelang besonders gut am Beispiel der Ernährung. Während für einige Transplantierte Regeln als Einschränkung wahrgenommen werden, versuchen andere diese zu normalisieren. Die Einschränkung hinsichtlich Zucker und Fett wird nicht nur im Lichte der Transplantation beurteilt, sondern im Hinblick auf eine Altersgruppe, so wird etwa der Verzicht eines/r OrganempfängerIn zu dem eines/r Sechzigjährigen. „Praktiken der Normalisierung“ (S. 229) beschreibt die Autorin im Weiteren im Kontext von Familie und Arbeitswelt, sie finden bei ihr immer in Beziehungen statt zu Gruppen, Individuen, Institutionen oder Organen. „Normalität ist in diesen Geschichten gleichermaßen eine Behauptung, eine individuelle wie kollektive Erwartungshaltung an einen medizinischen Eingriff und ein Ergebnis ganz praktischer (statt allein narrativer) Anstrengung der Veralltäglichung und Normalisierung“ (S. 227). Die Autorin schafft es die Komplexität dieser Normalisierungen dicht an Ihrem Material aufzuzeigen. Gerade dieser Raum, den Amelang dem ethnografischen Material lässt und in dem sich die Geschichten entwickeln können, macht den Reiz der Lektüre aus. In den Narrativen der AkteurInnen findet sie neben öffentlichen und medizinischen Diskursen die kleinen und großen Abweichungen in den Erzählungen sowie die Praxis der Betroffenen. Anpassen und Umschreiben von Regeln an das eigene Leben werden jedoch nicht nur dargestellt, sondern zum integralen Bestandteil ihrer Analyse von Alltagsproduktion. Amelang verfällt dabei nie in eine Dichotomie von therapeutischem Regime und widerständigen OrganempfängerInnen, sondern zeigt die immer wieder neu entstehenden Allianzen und Gräben bei der Produktion des Post-Transplantation-Alltags.

Die Auswahl der empirischen Kapitel umschließen verschiedene Orte und Zeiten, wie Reha-Klinik, Transplantationsambulanz, Zuhause der PatientInnen und Prä- und Posttransplantations-Leben. Es wird jedoch nicht nur örtliche und chronologische Variabilität des Gegenstandes eröffnet. Amelang schafft es, die Auswahl auch konzeptionell schlüssig zu vermitteln, vom Testlauf Rehabilitation über neue Normalitäten des Organ-Alltags hin zu den individuellen Anpassungsstrategien. Sie zeigt wie die Orte, die institutionellen sowie persönlichen Arrangements ineinanderfließen und wieder getrennt werden. Amelang lässt die LeserIn verschiedenste AkteuerInnen – PatientInnen, medizinisches Personal, aber auch PartnerInnen, FreundInnen und ChefInnen – bei der Arbeit, Alltag zu erschaffen, verfolgen. Die letztendliche Stärke der Fallstudie ist, dass die Analyse von Alltagsproduktion so dicht aus dem Material erschlossen wird und trotzdem anschlussfähig an allgemeine Überlegungen zu Alltag und dessen Herstellung ist.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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