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Titel
Die Welt in Bildern. Erfahrung und Evidenz in Friedrich J. Bertuchs "Bilderbuch für Kinder" (1790–1830)


Autor(en)
Chakkalakal, Silvy
Erschienen
Göttingen 2014: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
453 S., 71 Abb.
Preis
€ 42,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Michaela Fenske, Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin

Selten halten Bücher erheblich mehr als ihr Klappentext verspricht. Silvy Chakkalakals gerade erschienene, in der Europäischen Ethnologie eingereichte Dissertation ist diesbezüglich eine erfreuliche Ausnahme. Ihre gelungene Studie über das erste enzyklopädisch ausgerichtete Sachbuch für Kinder in deutscher Sprache, das „Bilderbuch für Kinder“ des Verlegers Friedrich Justin Bertuch, nimmt die Verbindung von Kind und Bild zum Ausgangspunkt. Diese Verbindung legitimierte, so eine der zentralen Thesen des Buches, den Einzug des Bildes „als Medium der Weltbetrachtung“ (S. 10). Die kulturanalytische Untersuchung leistet „einen wichtigen Beitrag zur Bild- und Wahrnehmungsgeschichte des 18. Jahrhunderts“ (Klappentext). Vor allem aber ist sie ein Beitrag zur Wissensgeschichte der Moderne. Eindrucksvoll zeichnet Chakkalakal nach, wie sich im Medium Bilderbuch zeitgenössische Diskurse nicht nur verdichteten, sondern wie das Bilderbuch selbst zum Aushandlungsraum zeitgenössischer Debatten in Wissenschaft und Öffentlichkeit wurde.

Die Argumentation der Studie entfaltet sich in drei sehr gut aufeinander abgestimmten Teilen, abgerundet durch Einleitung und Schluss. In Teil 1 legt Chakkalakal wesentliche Grundlagen ihrer Argumentation, indem sie den Zusammenhang zwischen zwei Entwicklungen aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts verfolgt: die Entdeckung der Sinne und die der Kindheit (S. 43–176). In ihrer differenzierten Argumentation zeichnet die Autorin nach, wie mit der Herausstellung von Erfahrung als zentralem Begriff anthropologischer Debatten des 18. Jahrhunderts auch die Bedeutung empirischer Methoden im Zuge der Auseinandersetzung um eine neue, vernunftbegabte Deutung der Welt wuchs. Dem vom Bürgertum gerade „entdeckten“ Kind kam dabei als Verkörperung einer besonderen menschlichen Entwicklungsphase entscheidende Bedeutung zu. Entwicklung und Formung des Kindes wurde zu einer zentralen Aufgabe; die Anthropologie der Sinne sowie die modernen Entwürfe von Erziehung und Bildung des Menschen entwickelten sich im Wechselspiel. Die „Verzeitlichung“ von Natur und Geschichte bedingte demnach auch ein entsprechendes Entwicklungsverständnis der Menschheit und des Menschen: vom Wilden und Ursprünglichen hin zum Zivilisierten. Der Pädagogik kam in diesem Rahmen die Aufgabe zu, das „Rohe“ zu formen und zu gestalten, sie wird zu einem wichtigen Feld anthropologischer Praxis. Bilder erhalten im Zusammenhang der dabei entwickelten didaktischen Modelle eine neue Funktion als zentrale Methode des Wissenserwerbs.

Im zweiten Teil der Studie stellt Chakkalakal das „Bilderbuch für Kinder“ in größere wissenschaftsgeschichtliche Traditionslinien (S. 189–261). Ebenso wie die im ersten Teil dargestellten Entwicklungen ermöglichten erst diese Veränderungen die neue Konzeption des Mediums Bild in Bertuchs „Bilderbuch“. Die bildlichen Darstellungen beruhten nämlich, wie Chakkalakal überzeugend darlegt, auf einem grundlegend neuen Verständnis der Abbildung von Natur. Aus den an herkömmlichen Klassifikationen orientierten Darstellungsformaten der Natur erwuchs allmählich eine an der unmittelbaren Darstellung des Lebens selbst interessierte Auffassung. Lebendige Anschaulichkeit sollte das wachsende Wissen um Natur vermitteln. Mit dem Ruf nach Anschaulichkeit wurde der Verfasserin zufolge auch die Rolle des Bildes als „Träger und Vermittler von Wissen“ (S. 193) neu verhandelt. Das Bild übernahm dabei nun in den betrachteten Genres teilweise auch die Funktion der sprachlichen Erläuterung, in ihm verdichtete sich die Kommunikation. Damit verstärkte sich die Bedeutung des Bildes als wesentlicher Bestandteil der Argumentation. Es entstand eine neue Symbiose von Text und Bild, die intermediale Verflechtung erhielt weiteres Gewicht.

Von der Analyse des Sprechens über die Bilder wechselt Chakkalakal im dritten Teil ihrer Studie hin zur Analyse der Bilder und ihrer Wirkung (S. 263–401). Dabei nimmt sie eine von der Forschung bislang weniger beachtete Perspektive ein: Sie analysiert die dem „Bilderbuch“ beigegebenen Kupferstiche und Zeichnungen als Propagatoren und Multiplikatoren des im 18. Jahrhunderts stark gemachten zeitlichen Denkens. In diesem Teil stehen Themen wie geologisches, mineralogisches und biologisches Wissen sowie deren Verbindung mit ethnologischem und anthropologischem Wissen am Beispiel der kolonialen Perspektive Europas auf das „alte Indien“ (S. 352) im Mittelpunkt. Chakkalakal zeigt, wie in den Bildern das zeitgenössische Wissen um die Welt in seinen Tiefenstrukturen ebenso Gestalt annahm wie der Stand seiner Verhandlung nachvollziehbar gehalten wurde. Als „theoretisch-imaginative[r] Raum“ (S. 337) vermag das Bild auch die Vielheit möglicher Deutungen offen zu halten. Indem die Autorin zeitgenössische Bildwahrnehmungen immer wieder anhand von Einzelbetrachtungen vorführt, werden den Lesenden auch ihre eigenen zeitgebundenen Sehgewohnheiten, und angesichts der Komplexität von Bildinhalten die zu hinterfragenden Selbstverständlichkeiten im Umgang mit dem Medium Bild bewusst.

Medien für Kinder beschränkten sich zur Zeit ihrer Entstehung keineswegs auf die Wiedergabe und „Popularisierung“ des längst Bekannten. Im Gegenteil führt Chakkalakal am Beispiel von Bertuchs „Bilderbuch“ eindrücklich vor, wie in diesem populären Medium der Veranschaulichung und Sichtbarmachung das neue gewonnene Wissen der Zeit auch Gestalt annahm. Der Verleger Bertuch war mit seinem Bilderbuch wohl deshalb so erfolgreich, weil er sich mit seinem Werk für Kinder in besonderem Maße um Aktualität und Innovation bemühte. Damit erinnert Chakkalakals feinsinnige Studie einmal mehr daran, dass die oft immer noch säuberlich gezogene Abgrenzung bestimmter Sphären der Generierung und des Transfers von Wissen in Öffentlichkeiten und Wissenschaften kaum aufrecht zu erhalten ist. Veranschaulichung, Popularisierung und Abkupfern erweisen sich unter Chakkalakals kundigem Blick auch im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts als komplexe Praktiken des Formens und Erschaffens von Wissen. Dem Kind kam dabei als „kulturelle Übergangsfigur“ (S. 405) eine zentrale Rolle zu.

Die Studie von Silvy Chakkalakal verfolgt, dem Verständnis der Europäischen Ethnologie entsprechend, einen holistischen, Chakkalakal selbst spricht von einem „feldübergreifenden“, Zugang. Die damit verbundene Notwendigkeit einer weiten Perspektive bei der Rezeption von Quellen und Sekundärliteratur erfüllt die Autorin. Ihre Argumentation beruht auf tiefgehender Kenntnis der relevanten Texte und geht hinsichtlich des zu erwartenden thematischen Fokus weit darüber hinaus. Überzeugend ist auch der Gang der Argumentation, in dem die Autorin sehr genau markiert, wo sie sich über den bisherigen Kenntnisstand hinausschreibt. Chakkalakals präzise Detailanalysen sowohl der zeitgenössischen Literatur als auch der Bilder begeistern durch ihre analytische Überzeugungskraft. Die dem Buch beigegebenen, teils farbigen Abbildungen stützen die Argumentation hervorragend, sind von sehr guter Qualität und tragen zum Lesevergnügen erheblich bei. Am Ende der Lektüre dieser vielschichtigen Studie steht auch fest: Wer Bilderbücher nur Kindern überließ, verpasste bereits im 18. Jahrhundert unendlich viel. Betrachtet man die Popularität des Bertuchschen „Bilderbuchs“, so war dies dem Bürgertum im 18. Jahrhundert sehr wohl bewusst. Auch der Studie von Silvy Chakkalakal sind fachübergreifend interessierte Leser/innen aus Kulturanthropologie, Europäischer und außereuropäischer Ethnologie, Pädagogik, Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, Kunst- und Literaturwissenschaften zu wünschen.