U. v. Bülow u.a. (Hrsg.): DDR-Literatur

Cover
Titel
DDR-Literatur. Eine Archivexpedition


Herausgeber
von Bülow, Ulrich; Wolf, Sabine
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S., 60 Abb.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Dietrich, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Das ist ein kurzweiliges Lesen. Wer nur ein wenig Kenntnis von der schönen Literatur der DDR hat, stößt auf viel Neues und Überraschendes. Wiederum wird der Beweis erbracht: Expeditionen in die Archive lohnen sich immer. Es geht insonderheit um die Archive der Literatur. Das Archiv der Gauck/Birthler/Jahn-Behörde bleibt berechtigterweise eine „Randerscheinung“. Der Sammelband ging aus einer Doppeltagung hervor, deren erster Teil am 13./14. Dezember 2012 im Deutschen Literaturarchiv Marbach, deren zweiter Teil am 11./12. April 2013 in der Berliner Akademie der Künste stattfand. Einer interessierten Öffentlichkeit sollte bekannt gemacht werden, was an Nachlässen von DDR-Schriftstellerinnen und Schriftstellern in beiden Archiven genutzt werden kann. Einiges davon wird in diesem Band vorgestellt. Untersucht werden künstlerische Wege zwischen Affirmation, Anpassung, kritischer Distanz und offenem Widerstand. Nach einem Vorwort der Herausgeber und einem Grußwort von Ingo Schulze (Berlin) gliedert sich der Band in vier Abschnitte: Konstellationen, Verlagsgeschichten, Fundstücke und Fallstudien, die im Herangehen und in der Länge unterschiedliche, stets jedoch gehaltvolle Beiträge enthalten.

In „Konstellationen“ belegt zuerst Helmut Peitsch (Potsdam) den Wert der Bestände des Literaturarchivs der Akademie der Künste an drei Beispielen: Walter Victor, jüdischer Remigrant nach 1945 in die SBZ/DDR; Ernst Schumacher, Übersiedler von München in die DDR 1962; sowie der Westarbeit des DSV (Deutscher Schriftstellerverband) von 1965. Danach liefert Wolfgang Emmerich (Bremen) eine „Kleine Typologie der Weggegangenen“: der manchmal verzweifelten Melancholiker, die glücklich im Westen Angekommenen und der dauerhaft durch die Dissidenz infizierten, exemplarisch an Klaus Schlesinger, Günter Kunert, Hans (Chaim) Noll und Jürgen Fuchs demonstriert. Mathias Braun (Berlin) beschäftigt sich mit dem schon allseits behandelten Thema „Staatssicherheit und Literatur“. Carsten Gansel (Gießen) denkt über „Störungen und Entstörungsversuche im Literatursystem DDR“ nach, indem er die Debatte um die „harte Schreibweise“ in den 1950/60er-Jahren im DSV analysiert. Sabine Wolf (Berlin) stellt die umfangreichen „Berliner Bestände zur DDR-Literatur“ in ihren Zuschreibungen und ihrer Problematik vor. Ulrich von Bülow (Marbach) fragt nach „Typisch ostdeutsch?“ und beschreibt strukturelle Merkmale von Archivalien aus der DDR, wobei er die DDR allerdings zu einer „vormodernen Gesellschaft“ herabstuft. Und Siegfried Lokatis „Ein Archiv mit Werkstattcharakter“ berichtet über die Leipziger Buchwissenschaft und deren Ergebnisse wie Desiderate hinsichtlich der DDR-Literatur.

In „Verlagsgeschichten“ analysiert Konstantin Ulmer (Bielefeld) in „Eine Art Kriegszustand“ die Konkurrenz und die Intrigen zwischen Luchterhand und Suhrkamp um die DDR-Literatur vor allem in den Siebzigern. Und Julia Frohn (Berlin) behandelt in „Deutsches Mosaik“ (Titel eines geplanten offiziellen Olympia-Geschenkbuches für München 1972, das den Protest der DDR und der UdSSR hervorrief und darum nicht verteilt wurde) das Bemühen des Suhrkamp Verlags um ostdeutsche Literatur zwischen 1950 und 1972.

In „Fundstücke“ finden sich sieben inhaltsreiche und reizvolle Miniaturen: Von Katrin von Boltenstern (Berlin): „Mein Schreiben“. Richard Leisings kleine Poetologie aus dem Nachlass. Von Manuela Buck (Berlin): „Wenn einer geht…“ Eine Korrespondenz zwischen Hartmut Lange und Peter Hacks. Von Rui Ma (Berlin/Hangzhou): „und was sonst ließe ein Volk leben oder tot sein als seine lebendige Sprache und Kultur?“. Der sorbische Schriftsteller Jurij Brezan – ein Dokument aus dem Jahr 1964. Von Judith Mach (Berlin): „Und verschwenden Sie sich nicht“. Die Korrespondenz Hans Joachim Schädlichs mit dem Hinstorff Verlag. Von Pauline Selbig (Berlin): „da hat es früher Einschneidenderes gegeben“. Ein Dialog zwischen Sarah Kirsch und Hans Joachim Schädlich, ein Blick in Diarien. Von Sabine Wickert (Berlin): „Dichterei“ als „Notwehr“. Hermann Kants unveröffentlichte Lyrikversuche in frühen Notiz- und Tagebüchern. Und von Maria Büttner (Berlin): „Ja, das kränkt uns als Frauen“. Hilde Domin an Irmtraut Morgner, 15. Juni 1975.

„Fallstudien“ enthält acht literaturwissenschaftliche Beiträge. Uwe Brandes (Massachusetts) untersucht Anna Seghers’ Schreiben zwischen 1947 und 1949, das eine verblüffende Nähe zur sogenannten „Trümmerliteratur“ besaß und noch der sozialistischen Perspektive ermangelte. Claude D. Conter (Mersch) berichtet über ein fast vergessenes Stück Literatur: Bruno Apitz’ Novelle Esther oder die Archäologie eines Missverständnisses. Annett Gröschner (Berlin) begab sich auf Recherchepfade in den Marbacher Nachlass von Christa Reinig. Roland Berbig (Berlin) fragt, ob Günter Kunert – ein DDR-Schriftsteller? war. Maria Büttner (Berlin) fand in der Franz-Fühmann-Sammlung der Akademie der Künste Fundstücke einer „Geburttagsmappe für Erich Arendt“. Stephan Pabst (Jena) reflektiert Wolfgang Hilbigs Textarbeit an dem Roman „Eine Übertragung“. Kristin Schulz (Berlin) analysiert Archiv und Werk Georg Seidels unter dem Titel „Die versetzungsgefährdeten / sollten sich / bessere Lehrer suchen / Als mich“. Und Judith Ryan (Harvard) beschreibt beispielhaft Durs Grünbeins „antike Dispositionen“.
Im Anhang des Sammelbandes findet sich ein Personenregister und Autorinnen und Autoren werden vorgestellt. Ganz gleich, wo man diesen Band aufschlägt, es ist immer interessant. Man möchte mehr wissen über die vorgestellten Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Alle Beiträge werfen anschauliche Schlaglichter auf das wechselvolle Verhältnis von Literatur und Gesellschaft in der DDR.

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