A. M. Fellner u.a. (Hrsg.): Gender überall?

Cover
Titel
Gender überall!?: Beiträge zur interdisziplinären Geschlechterforschung.


Herausgeber
Fellner, Astrid M.; Conrad, Anne; Moos, Jennifer J*
Erschienen
Anzahl Seiten
284 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Olaf Stieglitz, Anglo-Amerikanische Abteilung, Universität zu Köln

Gender überall!? – die Herausgeberinnen haben den Titel ihrer Anthologie sowohl mit einem Anführungszeichen wie mit einem Fragezeichen versehen, und beide Satzzeichen zusammen signalisieren die Anliegen, Motivationen und Ziele des Bandes. Sie bringen einerseits eine freudige Verwunderung, eine optimistische (Selbst-)Wahrnehmung zum Ausdruck: Gender überall!, Gender ist in aller Munde und „offenbar in der Gesellschaft angekommen“ (S. 13). Geschlechterforschung und Geschlechterpolitik waren und sind erfolgreich, niemand „kann es sich leisten, das Thema Gender auszusparen“ (ebd.). Das hinzugefügte Fragezeichen weist vor diesem Hintergrund vor allem nach vorn, in die Zukunft: Welche Konsequenzen bringen die erzielten akademischen und außer-akademischen ‚Erfolge‘ mit sich, und inwieweit verändern sie das Projekt des Feminismus, das nach wie vor Ausgangspunkt und Referenzrahmen für Geschlechterforschung und Geschlechterpolitik darstellt? In dieser Gemengelage von durchaus zufriedener Rückschau und zugleich gespannter Erwartung haben die Herausgeberinnen ihren Sammelband platziert, der aus einer Ringvorlesung an der Universität Saarbrücken hervorgegangen ist und zehn Beiträge aus unterschiedlichen akademischen Disziplinen vereint, um mit ihrer Hilfe Potenzial und Perspektive interdisziplinärer Geschlechterforschung aufzuzeigen.

Gender überall!? – so formuliert verweist der Titel freilich auch auf gegenwärtige Tendenzen sowohl innerhalb der Universitäten als auch und vor allem jenseits der institutionellen Beschäftigung mit Fragen zu Geschlecht und Sexualität. Auch darüber sind sich die Herausgeberinnen durchaus bewusst, dass die enorme Präsenz und Sichtbarkeit von Genderthemen und Genderpolitiken nicht zuletzt auch durch beständige Kontroversen, Konflikte und Widerstände mit hervorgerufen wurden. Eine zufällige und lediglich auf Eindrücke der letzten Monate beschränkte Liste mag verdeutlichen, welche Ambivalenzen das augenscheinliche Gender überall!? eben auch aufrufen kann. So hat sich etwa „Forschung & Lehre“, die Zeitschrift des Deutschen Hochschulverbands, dem Thema im November 2014 ausgiebig gewidmet.1 Obgleich das sicher eine Form der Anerkennung von Genderfragen an den Hochschulen bedeutete, artikulierten indes viele der im Heft versammelten Stimmen auch Skepsis und Misstrauen gegenüber vermeintlichen ‚Auswüchsen‘ dieser Entwicklung. Damit wurde einer Argumentation Raum gegeben, der man in der medialen Öffentlichkeit viel zu häufig begegnet, man denke nur an die beinahe bizarre Debatte über den Sexualitätsunterricht an Schulen oder die zum Teil überaus heftigen Reaktionen auf Lann Hornscheidts Bemühungen, eine gendergerechte Sprache an Universitäten zu etablieren.2 ‚Gender‘, das ist eben auch eines der wichtigsten Feindbilder der deutschen Political Correctness-Bewegung, die in ihrer ‚Das-wird-man-doch-noch-sagen-dürfen‘ Rhetorik nicht an diffamierenden Wortbeiträgen gegenüber Personen, Programmen und Konzepten spart.
Gender überall!? bezieht sich auf diesen komplexen Rahmen, zielt aber in einer enger formulierten Ausrichtung auch auf ein inner-akademisches Anliegen, auf Gender als verbindendes Glied interdisziplinärer Forschung. Geht es den Herausgeberinnen einerseits darum, mit den im Band versammelten Beiträgen Verbreitung und Vielfalt anzuzeigen, so will die Sammlung darüber hinaus auch den Wert genderbezogener Perspektiven, Theorien und Fragestellungen als wichtige Brücken zwischen unterschiedlichen Fächern und Wissenschaftstraditionen stark machen. So entstammen die Artikel keineswegs allein aus den Disziplinen der Kultur-, Sozial- oder Erziehungswissenschaften, sondern auch aus Naturwissenschaften und Medizin. In diesem Nebeneinander wird tatsächlich eindrücklich erkennbar, mit welcher Routine und Selbstverständlich und auch mit welchem Gewinn beispielsweise Theorie über scheinbar fest etablierte Disziplinengrenzen zirkuliert und sich dabei immer wieder verschieden mit anderen Aspekten zu innovativen Argumenten neu verknüpft.

Gegliedert ist der Band in drei thematische gebündelte Blöcke. In ihren literaturwissenschaftliche Studien sondieren Susanne Kleinert, Janett Reinstädler und Christiane Sollte-Gresser zu Beginn ein zentrales Feld der Forschung unter dem verbindenden Gesichtspunkt ‚erzählter Geschlechter‘. Ihre Aufsätze führen uns nach Italien und Frankreich, und sie veranschaulichen, wie ausdifferenziert in den Literaturwissenschaften inzwischen etablierte Theorieentwürfe je nach Fragestellung modifiziert und verfeinert werden. Teil zwei des Sammelbands fragt explizit nach den ‚disziplinären Herausforderungen‘ der Geschlechterforschung und öffnet konzeptionell das Tor von den Kultur- zu den Sozialwissenschaften. Den Beiträgen von Eva Schmidt, Monika Jacobs, Robert Baar sowie Eva Nossem ist gemein, dass sie die vermeintliche Grenze zwischen Theorie und Praxis, zwischen akademischer Forschung und gesellschaftspolitischer Umsetzung kritisch hinterfragen. Unter der Überschrift ‚Uneindeutigkeiten‘ widmet sich der dritte Schwerpunkt des Bands schließlich der Thematisierung von Gender in den Naturwissenschaften und der Medizin. Sigrid Schmitz, Heinz-Jürgen Voß und Erik Schneider unterstreichen dabei in ihren Texten einerseits die Rolle der ‚harten‘ Wissenschaften bei der Etablierung und Verfestigung hegemonialer Geschlechterentwürfe, akzentuieren aber auch wie brüchig, wie widersprüchlich und wie politisch diese Wissensproduktion stets war und ist.

Insgesamt bietet Gender überall!? eine bemerkenswerte Zusammenschau der Reichweite der Geschlechterforschung. Die Qualität der einzelnen Texte ist durchweg hoch, und obgleich die einzelnen thematischen Zuschnitte mitunter sehr speziell sind und sich so vor allem an Leser/innen mit großer Expertise zu richten scheinen, bleibt die Lektüre doch gerade unter dem angesprochenen Gesichtspunkt der travelling theories interessant. Allerdings wünschte man sich, die Herausgeberinnen hätten sich stärker bemüht, aus dem Nebeneinander der Texte ein aktiveres Miteinander zu machen. Interdisziplinarität steht in diesem Band in erster Linie für Vielfalt, umfassende Verbreitung sowie die kreative Bezugnahme auf verschiedene feministisch orientierte Theorierahmen. Weil aber kaum einer der versammelten Beiträge aus sich heraus unterschiedliche disziplinäre Anliegen und Fragestellungen verknüpft, sie stattdessen in ihrer großen Mehrheit die eigene fachspezifische Einbettung unterstreichen, bleibt Interdisziplinarität als konkretes Forschungsprogramm, als Arbeitsauftrag unterbelichtet. Eine ausführlichere Einleitung der Herausgeberinnen und/oder die Hinzunahme ausdrücklich kontextualisierender bzw. kommentierender Texte (vielleicht auch in anderen Formaten, als Interviews etwa) wären eine willkommene Hilfe, um die Ziele des Bands prägnanter zu kommunizieren. Darüber hinaus ist es erstaunlich und auch ein wenig ärgerlich, dass keiner der Beiträge von einem Historiker oder einer Historikerin stammt, wodurch nicht nur ein umfangreiches und wichtiges Feld der Geschlechterforschung insgesamt ‚fehlt‘, sondern auch eine bedeutende Dimension von Theoriebildung und Theorieaneignung ausgeblendet bleibt. Zwar betten einige der Autor/innen ihre Argumentation historisch ein, interdisziplinär im eigentlichen Sinne ist das aber keineswegs, vielmehr bekommt man zuweilen den Eindruck, Geschichte würde so auf eine Hilfs- oder Zulieferfunktion reduziert.
Doch trotz dieser angesprochenen Schwächen bleibt der Nutzen von Gender überall!? unwidersprochen. Der Band zieht seine Stärke aus der Qualität der einzelnen Beiträge und daraus, dass es ihm gelingt, die anhaltende Dynamik von Geschlechterforschung jenseits von Disziplinengrenzen und über die curricularen Vorgaben von universitären Fachbereichen hinaus hervorzuheben. Wenn es dabei mit der Umsetzung von Interdisziplinarität zuweilen noch hapert, dann sollte man das als programmatische Herausforderung begreifen.

Anmerkungen:
1 "Forschung & Lehre", 21, Heft 11 (November) 2014.
2 Vgl. beispielsweise Lann Hornscheid, Gendergerechte Sprache? Pro, in: "Forschung & Lehre", 21, Heft 11 (November) 2014, S. 888.

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