Jugend in Serbien nach Milošević

: After the Revolution. Youth, Democracy, and the Politics of Disappointment in Serbia. Stanford 2014 : Stanford University Press, ISBN 978-0-8047-9115-1 235 S. € 22,78

: The shadows of the past. A study of life-world and identity of Serbian youth after the Milošević regime. Uppsala 2012 : Uppsala universitet, ISBN 978-9-150-62263-8 303 S. € 29,49

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elisa Satjukow, Universität Leipzig

Der 5. Oktober 2000 ist fest in das serbische Gedächtnis eingeschrieben als der Tag, an dem Slobodan Miloševićs Herrschaft ihr Ende nahm. Sturz, Umwälzung oder Revolution – die Massendemonstrationen, die zur gewaltsamen Stürmung des Parlamentsgebäudes und schließlich zur Inhaftierung des serbischen Präsidenten führten, tragen viele Namen. Mit ihnen verbunden war die Hoffnung auf ein demokratisches und europäisches Serbien nach einem Jahrzehnt der Kriege und Krisen. Dies galt insbesondere für die jüngere Generation, die einen starken Motor der Revolution darstellte. Ob und wie sich diese Erwartung eingelöst hat, danach fragt Jessica Greenbergs Studie „After the Revolution. Youth, Democracy and the Politics of Disappointment in Serbia“. Die amerikanische Ethnologin untersucht am Beispiel der Universitätsreformen das Erbe der Revolution des Oktobers 2000. Ihr empirisches Material gewinnt sie aus teilnehmender Beobachtung und qualitativen Interviews, anhand derer sie maßgebliche studentische Akteure porträtiert und ihre (bildungs)politischen Initiativen an den Universitäten in Belgrad, Novi Sad und Niš nachzeichnet und analysiert. Die von ihr zwischen 2002 und 2004 durchgeführte Feldforschung steht unter dem Eindruck der Ermordung des pro-europäischen Reformpolitikers Zoran Đinđić im Jahre 2003. Mit diesem tragischen Ereignis fand, so stellt Greenberg einleitend fest, die kurzzeitige „romance with democracy“ (S. 3) nach dem Ende der Milošević-Ära ein abruptes Ende.

Greenberg führt den Leser zunächst mitten in die serbische Hauptstadt am Tag der Ermordung Đinđićs. Es ist der 12. März 2003, „the day [when] the spirit of Serbia’s democratic revolution died“ (S. 1). Die von ihr untersuchte Zäsurerfahrung der Revolution und die daran geknüpften Erwartungen seien nicht zu trennen von der Erfahrung ihrer Enttäuschung: „Disappointment was thus a condition of living in contradiction, of persisting in the interstitial spaces of expectation and regret.“ (S. 8) Die hier eingeführte analytische Kategorie der „politics of disappointment“ wird von der Autorin jedoch nicht als Hemmnis der demokratischen Umgestaltungsprozesse beschrieben, sondern vielmehr als eine produktive Kraft. Wie sie im Folgenden zeigt, verblieben die universitären Initiativen eben gerade nicht desillusioniert, sondern begegneten der auf die Revolution folgenden gesellschaftlichen Ernüchterung proaktiv und mit rationalem Engagement.

„Biče bolje“ – „Es wird besser“ – mit dieser Losung beschreibt Greenberg im Einführungskapitel „Against the Future: Youth and the Politics of Disappointment in Serbia“ die grundsätzliche Diskrepanz zwischen den jungen Erwachsenen der 2000er-Jahre und ihrer in Titos Jugoslawien sozialisierten Elterngeneration. Die von der Autorin untersuchten studentischen Aktivisten machen die „Alten“ verantwortlich für die Fehler der Vergangenheit, für eine Politik, die stets auf eine utopische Zukunft gerichtet war und sich nicht mit den Missständen der Gegenwart befasste. Auf diesen Trümmern baut die von ihr untersuchte Jugend ihre Existenz – entschlossen, dass es nur dann „besser wird“, wenn man nicht nur darauf hofft, sondern auch etwas dafür tut.

Es ist der grundlegende Wechsel von einer Kultur des quantitativen hin zu einer Praxis des qualitativen Protests, den Greenberg im Kapitel „Embodying Citizenship: The Changing Politics of Protest“ als Strategie der studentischen Aktivisten ausmacht. Waren es bei den großen Demonstrationen gegen Slobodan Milošević im Winter 1996/97 und im Oktober 2000 Hunderttausende, die gemeinsam auf die Straße gingen und letztlich den Regimewechsel herbeiführten – „You had the soccer fans, and you had all those people who you would not necessarily like to go to have coffee with.“ (S. 75) –, so ließ die Protestbereitschaft der bürgerlichen Massen im Folgenden bald nach. Der vereinte Ruf nach einem demokratischen Serbien besaß eine hohe Integrationskraft, doch wie so oft nach politischen Umbrüchen gingen jene, die gerade noch Seite an Seite die sogenannte „Bager revolucija“, die „Bagger-Revolution“, anführten nach dem Sturz Miloševićs wieder getrennte Wege. Dem Versuch studentischer Aktivistengruppen, die Proteste durch inhaltliche Diskussionen um konkrete Reformen zur Demokratisierung des Landes neu zu entfachen, fehlte es letztlich an Mobilisierungskraft.

Nichtsdestotrotz, so zeigt das anschließende Kapitel „Revolution and Reform: Citizenship and the Contradictions of Neoliberal University Reform“, ließen sich die beiden hier untersuchten studentischen Gruppen der Belgrader Studentska Unija und der Studentska Asocijacija aus Niš und Novi Sad nicht davon abbringen, auch ohne Unterstützung der Massen, die Reformationsbestrebungen des Oktober 2000 voranzutreiben. Anhand von Gesprächsdokumenten und Beobachtungsprotokollen beschreibt Greenberg die Bemühungen der Studierenden, eine Erneuerung ihrer Alma Mater nach westeuropäischen Vorbildern durchzusetzen. Ihr Ziel war es, sich von dem Erbe sozialistischer Studentenorganisationen zu emanzipieren und neue Wege zu gehen, beispielsweise durch gezielte internationale Vernetzung und das Festschreiben ihrer Interessen in einen durch „policy papers“, Broschüren oder Pamphlete verbreiteten Forderungskatalog. Greenberg nimmt in ihrer Studie die politischen Vorgehensweisen beider Gruppen in den Blick und beschreibt sie detailreich. Dabei macht sie insbesondere auf das Dilemma der Aktivisten aufmerksam, politisch aktiv zu sein in einem Klima des „Antipolitischen“, wie es György Konrád beschrieb: einer Atmosphäre, in der man politischen Eliten misstraut und gesellschaftlicher Veränderung mit Resignation begegnet (S. 152).

Wie kann uns das Konzept einer „Politics of Disappointment“ zum Verständnis dieser Revolution helfen, fragt Jessica Greenberg abschließend. Mit Antonio Gramsci und Hannah Arendt argumentiert sie, dass utopische Ideale Transformationsprozessen mehr entgegensteuern, als dass sie eine konstruktive Kraft entfalten würden. Folglich, so Greenberg, darf das Moment der Enttäuschung nicht als Scheitern eines Reformprozesses betrachtet werden, sondern vielmehr als zentrales Element seiner Umsetzung. In Serbien, so zeigt die Studie der Autorin, war es insbesondere die junge Generation, die aus der Enttäuschung Kraft schöpfte und sich mit einer besonnenen Politik, in Abgrenzung zu ihren Vorgängergenerationen, an den Realitäten der Gegenwart orientierte. „It is at this point that disappointment becomes the beginning and not the end of politics“ (S. 185), so das abschließende Plädoyer der Autorin.

„After the Revolution“ von Jessica Greenberg stellt ein gelungenes Porträt des post-revolutionären Serbien nach dem Sturz Miloševićs im Jahre 2000 dar. Der mikroperspektivische Blick auf studentische Akteure und die Schwierigkeiten und Herausforderungen, die sich ihnen im Implementierungsprozess ihrer Reformbestrebungen stellten, bilden eine wichtige Ergänzung zur Darstellung jugendlicher Protestbewegungen jenseits von „Otpor!“1. Besonders gelungen ist die analytische Erfassung der von ihr untersuchten Prozesse anhand der Kategorie der „Politics of Disappointment“. Die hier vorgenommene Theoretisierung lässt sich als analytisches Modell auch auf andere post-revolutionäre Zustände übertragen, wie es die Autorin in ihrer Zusammenfassung anhand des arabischen Frühlings oder der Occupy-Bewegung andeutet. Wünschenswert wäre ein abschließender Ausblick gewesen, da sich in den zehn Jahren, die zwischen der Erhebungsphase und dem Erscheinen des Buches liegen, die gesellschaftliche Situation vielfach gewandelt hat – politische Machtwechsel, das Fortschreiten des EU-Integrationsprozesses und eine erneute Welle studentischer Proteste 2012 prägten seither das Leben und Handeln der von Greenberg beschriebenen Aktivistengeneration. Was ist aus den Revolutionären von damals geworden? Wohin führten ihre Reformbestrebungen? Und kann Enttäuschung wirklich auf Dauer als Motor politischen Aktivismus wirken? Die Beobachtung der langfristigen gesellschaftlichen Wirkungen und Folgen der 2000er Revolution wäre neue Forschungsanstrengungen wert.

Auch die Kulturanthropologin Jelena Spasenić nimmt in ihrer an der Universität Uppsala vorgelegten Dissertationsschrift „The Shadows of the Past. A Study of Life-World and Identity of Serbian Youth after the Milosevic Regime“ die Kinder der Milošević-Ära in den Blick, die heute als Abiturienten mit gespaltenen Gefühlen auf die Vergangenheit blicken.

Im Fokus ihrer Studie stehen Schülerinnen und Schüler der Oberstufe einer Gesamtschule in Novi Sad, deren Unterricht sie zwischen 2007 und 2009 intensiv begleitet hat. Ihr Ziel war es herauszufinden, wie die Jugend Serbiens die jüngste Vergangenheit bewertet. Was heißt es für ihre Generation im Schatten der Kriege und Krisen der 1990er-Jahre aufzuwachsen? Durch teilnehmende Beobachtung sowie semi-strukturierte Interviews nimmt sich Spasenić fünf Kernthemen an: der Rolle Slobodan Miloševićs, der Frage nach der Verantwortlichkeit für den Zerfall Jugoslawiens und die darauffolgenden Kriege, den Fall von Srebrenica, die Bombardierung durch die NATO 1999 sowie den Blick der heutigen Jugend auf den Westen.

Die Autorin untersuchte zwei Klassen – einerseits Berufsschüler und andererseits Gymnasiasten –, die sich hinsichtlich ihrer Ansichten und Bewertungen der Vergangenheit mitunter stark unterscheiden. Ausgehend von der These, dass jedes Individuum durch sein soziales Umfeld geprägt wird, markiert sie die Trennlinie zwischen den befragten Jugendlichen anhand dichotomer Kategorien: urban / rural, intellektuell / nicht-intellektuell, demokratisch / rechtsorientiert, reich / arm und männlich / weiblich. Einig, so stellt sie ihrer Analyse voran, sei man sich nur in einer Frage, der Schuldfrage: „It is basically impossible to single out one way of looking upon the past or its main actors in Serbia, except for perhaps one thing – the view that Serbs are not the only ones responsible for the Yugoslav war.“ (S. 151)

Fünfzehn Jahre nach den Kriegen in Jugoslawien, elf Jahre nach dem Sturz Miloševićs und zwölf Jahre nach den NATO-Bombardierungen ist die serbische Gesellschaft, so resümiert Spasenić ihre empirischen Erhebungen, noch immer gespalten in ihrer Bewertung der Vergangenheit und der Verantwortlichkeit für die Kriege und Krisen, die sie erlebte. Die Schülerinnen und Schüler selbst besitzen kaum Erinnerungen an das Vergangene und reproduzieren darum das Wissen, das sie durch ihre Sozialisationsinstanzen vermittelt bekommen. Der familiäre Einfluss, die Schule und das soziale Umfeld erweisen sich hier als die wichtigsten Prägungsfaktoren für den Umgang mit der eigenen Geschichte.

Jelena Spasenić hat eine sehr ambitionierte Studie der serbischen Nachkriegsgeneration vorgelegt. Im Mikrokosmos Schule illustriert sie die Unsicherheit wie auch das Unwissen, das vielfach den Blick der jungen Generation auf die „Schatten der Vergangenheit“ bestimmt. Insbesondere der analytische Teil der Arbeit bietet interessantes empirisches Material, das noch konsequenter hätte eingebracht und interpretiert werden können. Anders als die Autorin selbst, die die 1990er-Jahre als Teenager erlebte, sind die von ihr Befragten, „not burdened or traumatized“ (S. 278) und tragen somit ein großes Potenzial in sich, den gesellschaftlichen Wandel weiter voranzutreiben. Sie sind diejenigen die, so appelliert Spasenić, Verantwortung für die Zukunft ihrer Nation übernehmen sollen. Damit schreibt sie der serbischen Jugend – wie auch Jessica Greenberg in ihrer Studie – eine bedeutende Rolle als changemaker zu. Ob und wie sie dieser Aufgabe gerecht werden können und wollen, bleibt abzuwarten – und nicht zuletzt auch wissenschaftlich zu beobachten.

Anmerkung:
1 Das „Otpor!“-Bündnis (dt. Widerstand!) wurde 1998 maßgeblich von Srđa Popović als Protestbewegung gegen Milošević gegründet und gilt als treibende Kraft der 2000er Revolution. Das Bündnis formierte sich 2000 zur Partei, verlor nach dem Sturz Miloševićs jedoch rasch an Popularität und ging 2004 in der Demokratischen Partei Serbiens auf.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Weitere Informationen
After the Revolution
Sprache der Publikation
The shadows of the past
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension