A. Franz: Kooperation statt Klassenkampf?

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Titel
Kooperation statt Klassenkampf?. Zur Bedeutung kooperativer wirtschaftlicher Leitbilder für die Arbeitszeitsenkung in Kaiserreich und Bundesrepublik


Autor(en)
Franz, Albrecht
Reihe
Perspektiven der Wirtschaftsgeschichte 4
Erschienen
Stuttgart 2014: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nina Kleinöder, Institut für Geschichtswissenschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Trotz aktueller Neuausrichtungen in der Arbeiter- und Industriegeschichte orientiert sich die Geschichte der Arbeitsbeziehungen vielfach noch immer an Begriffen wie „Kampf“ und „Konflikt“. Zugleich finden Kooperationsideale in der „klassischen“ Geschichte der Arbeiterbewegung über die Begriffe des „Korporatismus“ oder der „Sozialpartnerschaft“ durchaus ihren Niederschlag1. Die Dissertation von Albrecht Franz will kein grundsätzliches „‚Gegen-Narrativ‘ zum Konflikt“ aufwerfen. Vielmehr zielt sie darauf ab, den Blick auf „konsensuale Deutungen und Verhaltensweisen bei der Verhandlung von Arbeitszeiten“ zu weiten (S. 15). Dazu werden mögliche Kooperationsideale auf die betriebliche Ebene übertragen, am Beispiel der Unternehmen Siemens und Bayer untersucht und punktuell durch BASF, AEG und Zeiss ergänzt. Die Quellenauswahl und der unternehmenshistorische Ansatz grenzen damit den übergeordneten Titel der Arbeit ein: Die „Bedeutung kooperativer wirtschaftlicher Leitbilder“ bezieht sich in erster Linie auf die betriebliche Perspektive der Arbeitszeitregulierung.

Die Studie gliedert sich in eine umfangreiche Einleitung mit einem ausführlichen theoretischen Zugang, vier inhaltliche Hauptkapitel und ein pointiertes Fazit. Sie hinterfragt die Rolle von Kooperation vor der Folie des „Patriarchalismus“ (Kaiserreich) und der „Sozialpartnerschaft“ (BRD). Albrecht Franz vertritt dabei die These, „die Arbeitszeitverkürzung als eine Anforderung zu beschreiben, die aus der gesellschaftlichen Umwelt der Unternehmen hervorging, und zu der sie sich positionieren mussten“ (S. 39). Dabei „boten die Ordnungsvorstellungen Orientierung: Sie bildeten den Hintergrund vor dem die Debatten über die Gestaltung der Arbeitszeiten gedeutet wurden.“(S. 14) Der theoretische Zugang erfolgt über den im Umfeld von Clemens Wischermann gepflegten Neo-Institutionalismus. So rückt insbesondere die Frage der sozialen und kulturellen Prägung von betrieblichen Institutionen ins Zentrum der Untersuchung. Aushandlungsprozesse und die Kommunikationspraxis werden in Anlehnung an Pierre Bourdieu anhand des „organisationalen Feldes“ (S. 45) analysiert und der „Möglichkeitsraum“ (S. 47) der Unternehmen ausgelotet, innerhalb dessen sich der Umgang mit der Arbeitszeitfrage niederschlug. Dazu werden die Entwicklungen im Kaiserreich und in der Bundesrepublik der 1950er- und 1960er-Jahre verglichen. Ungewöhnlich und zunächst gewöhnungsbedürftig erscheint die Wahl der Vergleichszeiträume, die jedoch zurecht nicht ganz ohne den Verweis auf Kontinuitätslinien zur Weimarer Republik auskommt.

Theoretisch erfolgt im zweiten Kapitel zunächst eine ausführliche Verortung der Konzepte des Patriarchalismus und der Sozialpartnerschaft als unterschiedliche „Wissensordnungen“ (Andreas Reckwitz) der betrieblichen Akteure (Unternehmer). Franz deutet den Patriarchalismus für die folgende Untersuchung als eine in erster Linie nach innen gerichtete, „durch das Prinzip von Treue und Fürsorge verbundene Gemeinschaft“ (S. 80). Demgegenüber erfolgte eine Ausweitung der Unternehmerverantwortung vom Betrieb auf die übergeordnete gesellschaftliche, politische und ökonomische Ordnung in der Bundesrepublik, von einer erweiterten Betriebs-„Familie“ zur breiter gefassten „‚Sozial‘-Partnerschaft“ (S. 83).

Kapitel drei stellt zunächst die unternehmensgeschichtliche Perspektive in den Mittelpunkt. Neben einem Überblick zur Entwicklung der Arbeitszeit geht es insbesondere um die Handlungsspielräume in den Betrieben. Zentraler Bezugspunkt ist die Frage nach dem Verhältnis von 5-Tage-Woche und 8-Stunden-Tag. So speiste sich im Kaiserreich die Motivation für Arbeitszeitverkürzungen aus Rationalisierungspotenzialen für den Produktionsbetrieb, wohingegen sich die 5-Tage-Woche in der Bundesrepublik als eine organisatorische Frage gestellt habe. Als zentrales Problem des Kaiserreiches wird ein fehlender gesicherter Aushandlungsrahmen konstatiert: Zwar habe es den Unternehmern nicht an Bereitschaft gemangelt, Arbeitszeitsenkungen durchzuführen. Vielmehr sei durch eine grundlegende Ablehnung der Gewerkschaften als Verhandlungspartner eine überbetriebliche Lösung blockiert worden. So konzentrierten sich die Arbeitszeitsenkungen auf eine betriebliche Umsetzung, die genau „der patriarchalischen Vorstellung des Betriebes als einer geschlossenen Gemeinschaft“ (S. 118) entsprochen habe. Umso deutlicher zeige sich dann der Unterschied zur Bundesrepublik, in der (auch über das neue Betriebsverfassungsgesetz) eine tarifvertragliche Einigung als Chance gesehen worden sei. Die Unternehmer konnten „potenziell konfliktträchtige Verhandlungen“ (S. 119) externalisieren.

Kapitel vier verfolgt die Deutung der Arbeitszeitfrage. Ausgehend vom Kommunikationsprozess der Unternehmen werden „Issue-Felder“ konstituiert und Deutungsgemeinschaften identifiziert. Letztere äußerten sich im Kaiserreich insbesondere durch die Rezeption der Presseberichterstattung, wohingegen sich die Beobachtungsmechanismen in der Bundesrepublik über die professionalisierte Arbeit der Verbände systematisierten. Während im Kaiserreich der persönliche Austausch vorherrschte, trugen nach 1945 die Verbände mit eigenen Deutungsleistungen inhaltlich zu den Arbeitszeitdebatten bei. Vor dem Deutungshorizont des Patriachalismus verblieben so Arbeitszeitsenkungen im Umfeld individueller „Gunstbezeugung“ eine „einzelbetriebliche Entscheidung“ (S. 178). Dagegen wurden in der Bundesrepublik die Arbeitszeitsenkung seit den 1950er-Jahren als langfristiges Ziel, in der Verbindung betrieblicher und gesellschaftlicher Verantwortung, postuliert. Daher wurden nun auch Gewerkschaften als legitime Verhandlungspartner bewusst einbezogen.

Im inhaltlich abschließenden fünften Kapitel wendet sich Franz den Folgen für die Aushandlung auf der betrieblichen Ebene zu. Über die umfassende Einordnung in den Kontext betrieblicher Sozialpolitik legt die Untersuchung noch einmal den Fokus auf das Leitmotiv der Arbeitszeitsenkungen als Anerkennung für die „Treue“ (S. 190) der Arbeiterschaft sowie auf ein übergeordnetes Verantwortungs-Ideal für die betriebliche und auch die übergeordnete Gemeinschaft. Die Rezeption von Informationen war dabei jedoch im Kaiserreich noch stark fragmentiert und auf Einzelfallentscheidungen reduziert. Mit dem Betriebsverfassungsgesetz bestand schließlich in der Bundesrepublik die gesetzliche Pflicht, „Wünsche“ (S. 231) der Belegschaft systematisch umzusetzen. Im Gegensatz zu den vormals stark persönlich geprägten Aushandlungsprozessen wurde nun die Arbeitszeitfrage vor dem Hintergrund verbandlicher Arbeit und der inhaltlichen Eigenleistungen der sozialpolitischen Abteilungen in einem „strikt formal regulierten Rahmen“ (S. 233) verhandelt. Die Instanzen des Betriebsrates, der Sozialabteilungen und der Verbände wirkten als zentrale und vor allem legitime Informationsinstrumente und Foren der Aushandlungsprozesse.

Inhaltlich arbeitet sich Franz vom Beleg der „legitimen Handlungsoptionen“ als „Aushandlungsprozess“ in Kaiserreich und Bundesrepublik (S. 139) über die Ausformung der verschiedenen Deutungen von der Arbeitszeitfrage vor dem Hintergrund von Ordnungsvorstellungen bis zu Aus- und Rückwirkungen der Leitbilder auf die betriebliche (Kommunikations-)Praxis vor. Im Ergebnis kann die Studie am Beispiel von Bayer und Siemens belegen, dass die Unternehmensleitungen sowohl im Kaiserreich als auch in der Bundesrepublik Potenziale und Spielräume zu Arbeitszeitverkürzungen sahen, diese jedoch je nach Zeitraum und Unternehmen unterschiedlich genutzt worden seien. Dabei rücken, vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Wissensordnungen, insbesondere die situativen und umweltbedingten Aspekte unternehmerischen Handelns jenseits rein ökonomischer oder politischer Erklärungsmuster in den Fokus.

Das vergleichsweise umfassend vorgestellte theoretisch-methodische Konzept wird über die gesamte Studie konsequent eingehalten: Immer wieder werden die einzelnen Teilergebnisse aufgegriffen und miteinander verknüpft. Dabei ist die Untersuchung weder strikt chronologisch noch nach Unternehmen gegliedert, sie erfolgt vielmehr entlang sorgfältiger Argumentationslinien. Dadurch lassen sich einige Wiederholungen im Aufbau kaum vermeiden. So soll die eigentliche Stärke hier auch nicht als Schwäche der Arbeit ausgelegt werden: Sie stellt vielmehr einen wichtigen Beitrag zur Erweiterung der Arbeitergeschichte jenseits rein antagonistischer Lesarten dar. Die Fragestellung ist geeignet, den Facettenreichtum (betrieblicher) Aushandlungsprozesse am Fallbeispiel aufzuzeigen. Daher wäre in Anknüpfung an neuere Studien insbesondere zur betrieblichen Sozialpolitik in der Bundesrepublik zu klären, wie tragfähig das Kooperationskonzept für andere betriebliche Bereiche ist und inwieweit die Rezeption unternehmerischen Handelns auch auf die verbandliche Makro-Ebene zurückwirkte.2

Anmerkungen:
1 Vgl. beispielsweise Walther Müller-Jentsch, Gewerkschaften und Korporatismus. Vom Klassenkampf zur Konfliktpartnerschaft; und Werner Plumpe, Vom individuellen Arbeitsrecht zur Sozialpartnerschaft. Carl Duisberg in den sozialen Konflikten zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, beide in: Karl Christian Führer u.a. (Hrsg.), Revolution und Arbeiterbewegung in Deutschland 1918–1920, Essen 2013, S. 81–96 und 285–309.
2 Vgl. zu den jüngsten Studien in der Zusammenschau Rüdiger Gerlachs Rezension zu Bartels, Almuth: Monetarisierung und Individualisierung. Historische Analyse der betrieblichen Sozialpolitik bei Siemens (1945–1989), Stuttgart 2013, in: H-Soz-Kult, 17.04.2014, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-21666> (19.03.2015).

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