K. Trampedach: Politische Mantik

Cover
Titel
Politische Mantik. Die Kommunikation über Götterzeichen und Orakel im klassischen Griechenland


Autor(en)
Trampedach, Kai
Reihe
Studien zur Alten Geschichte 21
Erschienen
Heidelberg 2015: Verlag Antike
Anzahl Seiten
650 S.
Preis
€ 89,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Engels, Département d'Histoire, Arts et Archéologie, Faculté de Philosophie et Sciences sociales, Université libre de Bruxelles (ULB)

Während die römische Divination in den letzten Jahren zum Objekt einer Fülle von grundlegenden Studien geworden ist, scheint das Interesse an der griechischen Mantik seit vielen Jahrzehnten nur auf Einzelfragen beschränkt zu bleiben. Es ist daher eine äußerst willkommene Bereicherung der neueren Literatur, diese Forschungslücke mit vorliegender Monographie, welche die überarbeitete Fassung einer 2003 an der Universität Konstanz eingereichten Habilitationsschrift darstellt, endlich gefüllt zu sehen – einer Arbeit, die in gewisser Hinsicht den seit Bouché-Leclercqs monumentalen, heute aber veralteten „Histoire de la Divination dans l’Antiquité“1 aufgegebenen Faden einer grundlegenden Darstellung und Neubewertung der griechischen Mantik wieder aufnimmt, freilich unter Beschränkung (wenn das Wort bei einem fast 700-seitigen Buch angebracht ist) auf das klassische Griechenland. Hierbei vermeidet der durch seine Dissertation2 bereits als exzellenter Kenner Platons und der zeitgenössischen athenischen Politik hervorgetretene Kai Trampedach es ganz bewusst, der Versuchung nachzugeben, eine systematische und somit teleologische Geradlinigkeit ebenso wie innere Kohärenz suggerierende Gesamtdarstellung der griechischen Mantik zu liefern, und ist vielmehr bemüht, sich der Vielschichtigkeit ebenso wie der inneren Widersprüchlichkeit (und Dynamik) des Phänomens durch eine Reihe von Einzelstudien anzunähern, die freilich alle von der Grundannahme einer inneren Einheit der griechischen Mantik als religionshistorisches Phänomen geprägt sind.

Auf eine umfangreiche Einleitung (S. 11–29), die gleichzeitig auch Forschungsstand und Definition des Begriffs „Mantik“ beinhaltet, folgt eine erste Reihe von Einzelstudien, die den verschiedenen Gattungen gewidmet sind, in welchen mantische Zeichen sich den Griechen zu offenbaren schienen. Ein erstes Hauptkapitel mit dem Titel „Zeichen des Himmels und der Erde“ (S. 30–94) liefert eine grundsätzliche Analyse der Aussagekräftigkeit und faktengeschichtlichen Kontextualisierung der verschiedensten, divinatorisch gedeuteten meteorologischen oder geologischen Ereignisse, wobei neben Ausführungen zu Götterzeichen wie Sonnen- und Mondfinsternissen, Erdbeben, Blitz und Donner auch grundsätzliche Überlegungen zur Rolle der Divination in der Geschichtsschreibung wie auch der Gattung der omina imperii zu finden sind (wobei sich die Frage stellt, inwieweit das Bedeutungsspektrum der Divination nicht besser in Kapitel 11 und die Historiographie in Kapitel 10 oder 12 aufgehoben wären, aber das nur am Rande). Der nächste Teil mit dem Titel „Symboloi und Vögel“ (S. 95–145) vereint die inhaltlich eigentlich recht unterschiedlichen Kategorien zufällig scheinender, letztlich aber göttlich inspirierter Vorzeichen (der Römer würde hier von omina sprechen) sowie der Vogelschau, während das vierte Kapitel der Tätigkeit der „Opferschau“ (S. 146–178) gewidmet ist und neben technischen und normativen Aspekten auch das Problem von Manipulation und Kontrolle anspricht. Die Teile 5 und 6 der Untersuchung betreffen dann das griechische Orakelwesen und schließen die eher formengeschichtliche Sektion der Arbeit ab: Während Trampedach in „Orakel I: Medialität und Legitimität“ (S. 179–221) das Phänomen als solches in das Zentrum der Überlegungen stellt, betrachtet er in „Orakel II: Übermittlung und Überlieferung“ (S. 222–257) das Problem der Umsetzung performativer Akte in archivarische, historiographische und antiquarische Erinnerung.

Auf diese Reihe von Untersuchungen zu den einzelnen Formen von Vorzeichen folgen nun mehrere Studien, welche die enge Verflechtung von Mantik und Politik zum Inhalt haben. So ist Teil 7 – „Athen: Mantik und Demokratie“ (S. 258–293) – der Bedeutung der Mantik im Athen der Zeit zwischen dem Peloponnesischen Krieg (430–415) und der Schlacht von Chaironeia 339/8 gewidmet und arbeitet deutlich heraus, wie schlecht das politische System der attischen Demokratie mit der gegenüber vielfältigen äußeren Einflüssen anfälligen Mantik vereinbar war, so dass es nicht überrascht, die Divination nach 399 deutlich aus dem politischen Willensbildungsprozess ausgegrenzt zu sehen. Teil 8 mit dem ganz klar auf Teil 7 rekurrierenden Titel „Sparta: Mantik und Basileia“ (S. 295–338) hingegen betrifft die Rolle der Divination in Lakedaimonien, wobei die untersuchte Zeitspanne allerdings von der Absetzung des Demaratos bis zum Feldzug des Agesipolis gegen Argos im Jahre 388 reicht. Das Resultat fällt hier diametral entgegengesetzt zu Athen aus, sollten Zeichen und Orakelsprüche in Sparta doch bis ins 4. Jahrhundert nicht hinwegzudenkende, zentrale Aspekte von Meinungsbildung und Herrschaftsausübung darstellen und Politik wie Mantik in eine enge wechselseitige Beziehung mit Ausbeutungscharakter setzen. Teil 9 schließt dann die eher politisch orientierte zweite Sektion der Arbeit ab, indem in „Hellas: Mantik und Hegemonie“ die gegenseitige Beeinflussung von Divination und Politik im Rahmen der verschiedenen panhellenischen Einigungsversuche des 4. Jahrhunderts dargestellt wird, wobei neben der Rolle Thebens und Makedoniens auch die Bedeutung der panhellenischen Heiligtümer untersucht wird. Die Narration reicht hier von der Beschädigung des delphischen Eurymedon-Denkmals 415 bis zur Ermordung Philipps II, welche ja auch, nimmt man einige Exkurse zu Alexander dem Großen aus, die chronologische Grenze der Monographie bestimmt, die explizit nur das klassische Griechenland behandelt.

Der dritte und letzte Teil der Untersuchung richtet sich an einer eher anthropologischen Fragestellung aus und untersucht die Einbindung der Mantik in die Lebenswelt und Mentalitätsgeschichte der Zeitgenossen. Kapitel 10 – „Götter und Menschen“ (S. 391–442) – betrachtet vor allem den Themenbereich von Herrschaftswissen, Täuschung, Mehrdeutigkeit und Skepsis im Spannungsfeld der bis heute umstrittenen Vorstellungen, welche sich die Griechen von ihren Göttern gebildet hatten und welche, zumindest im Bereich der Volksreligion, trotz der Menschenähnlichkeit der Götter von einer grundsätzlichen Asymmetrie ausgingen, so dass dem Sterblichen zwar eine Annäherung an das Verständnis des Götterwillens möglich schien, letzte Sicherheit über Motivation, Wohlwollen und langfristige Planung der Götter dem Menschen aber versagt bleiben musste.

Dementsprechend widmet sich Kapitel 11 dem Fragekomplex „Deuter und Deutungen“ (S. 443–497), welcher die notwendige Übersetzung der durch Mehrdeutigkeit charakterisierten Götterzeichen in eine dem Menschen zugängliche Form behandelt. Hierbei zeigt sich vor allem, dass mantische Spezialisten in Griechenland trotz ihrer Bedeutung letztlich keinen dauerhaften und institutionalisierten Einfluss auf den politischen Raum erlangten, da die letztgültige Deutung des Zeichens den jeweiligen Adressaten, also Einzelherrschern, Adelsfamilien oder dem Volk in seiner Gesamtheit oblag. Kapitel 12 schließlich trägt den Titel „Gegenwelten, Gegenentwürfe, Gegenmodelle“ (S. 498–549) und nähert sich dem Phänomen der griechischen Mantik durch Untersuchung seiner Alternativformen, wobei neben der ethnographischen Perspektive auch die Frage nach der Stellung der Mantik in der Philosophie und die Diskussion um die wissenschaftliche Natur der Divination behandelt wird.

Ein kurzes Fazit mit dem Titel „Zur Eigenart der griechischen Mantik“ (S. 550–564) rundet die Studie glücklich ab; dankenswerterweise hat der Autor dem Buch neben Abkürzungs- (S. 565–569), Übersetzungs- (S. 570–573) und Literaturverzeichnis (S. 574–610) auch umfangreiche Indices (S. 611–650) beigefügt (Orte; Namen; Tiere und Pflanzen; Sachen und Begriffe; Quellen), welche die Benutzung des Buchs erheblich erleichtern und die übergreifende Erschließung einzelner Sachverhältnisse wesentlich vereinfachen. Insgesamt kann festgehalten werden, dass Kai Trampedachs Studie zur klassischen griechischen Mantik eine wissenschaftlich überaus gelungene und auch stilistisch exzellent verfasste Untersuchung darstellt, welche das Thema ebenso nuanciert wie breiträumig abhandelt, nie den inneren Zusammenhang von Religion, Politik und Geschichtsschreibung aus dem Auge verliert, die umfangreiche Quellen- wie Sekundärliteratur souverän meistert und sowohl der Gefahr anachronistischer Systematisierung als auch der nicht minderen Versuchung unverbundener Einzelstudien entgeht. Trampedach hat das neue Standardbuch zur klassischen griechischen Mantik vorgelegt, und es dürfte wohl zumindest in den nächsten Jahren überaus schwierig sein, die hier vorgelegten Erkenntnisse wesentlich zu modifizieren.

Anmerkungen:
1 Auguste Bouché-Leclercq, Histoire de la divination dans l'Antiquité, Paris 1879.
2 Kai Trampedach, Platon, die Akademie und die zeitgenössische Politik, Stuttgart 1994.

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