K. Linke: Das Tulare Assembly Center

Cover
Titel
Das Tulare Assembly Center. Alltag in einem Lager für Japanoamerikaner im Zweiten Weltkrieg


Autor(en)
Linke, Konrad
Reihe
Mosaic 51
Anzahl Seiten
281 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Mariko Jacoby, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Email:

Es gehört zu den hierzulande weniger bekannten Facetten des Zweiten Weltkrieges, dass die USA, angeblich aus „militärischer Notwendigkeit“, japanische Einwanderer und deren Nachkommen als potentielle Fünfte Kolonne in Lagern festgehalten haben. Spätestens seit den 1970er-Jahren gehört dieses Phänomen bereits zu den etablierten Themen der Historiographie in den USA zum Zweiten Weltkrieg1, doch gibt es noch einige Forschungsdesiderate, besonders zu den Lagern selbst, von denen längst noch nicht alle erschöpfend dokumentiert sind.2 Dies gilt vor allem für die Assembly Center, die als provisorische Lager im Frühjahr 1942 aus dem Boden gestampft wurden, um die japanischstämmige Bevölkerung der amerikanischen Westküste zu versammeln, bevor sie im Herbst 1942 in die inzwischen fertiggestellten Relocation Camps überführt wurde. Diese Lücke sucht Konrad Linke mit seinem Buch zu schließen. Es handelt sich um den ersten Teil seiner Dissertation, in der der Alltag in dem in Kalifornien gelegenen Tulare Assembly Center sowie dem im benachbarten Arizona errichteten Gila River Relocation Camp (in das fast alle Insassen aus Tulare verlegt wurden) thematisiert wird. Veröffentlicht ist in dem vorliegenden Buch allerdings nur der Teil über das Tulare Assembly Center. Darin geht es ihm darum, den Alltag des bisher kaum erforschten Lagers mikrohistorisch zu rekonstruieren. Im Zentrum seines Interesses steht das Ausloten der individuellen Handlungsspielräume und Bewältigungsstrategien im Angesicht der Gefangenschaft.

Das Tulare Assembly Center wurde im März 1942 auf dem Grundstück eines örtlichen Landschaftsmesse- und Rummelplatzes errichtet und beherbergte zwischen April und September 1942 ca. 5.000 Personen. Linkes Untersuchungszeitraum beschränkt sich also auf ein halbes Jahr, das er mit einer Fülle von Quellen detailreich rekonstruiert. Hierbei stützt er sich im Wesentlichen auf drei Erfahrungsberichte dreier Akteure, die je einen Gefangenentypus repräsentieren: Hatsuye Egami für die „Issei“, die erste Generation von Einwanderern, Taki Asakura als „Nisei“, die zweite Generation, sowie James Sadoka für die „Kibei“, eine Sondergruppe innerhalb der zweiten Generation, die für ihre Ausbildung nach Japan zurückgekehrt war. Weitere Beachtung finden Dokumente der Lageradministration und Korrespondenz der Lagerleitung mit der Wartime Civil Control Administration (WCAA), der für die Internierung der Japanoamerikaner verantwortlichen Behörde. Ergänzt werden diese durch zahlreiche weitere Briefe und Ego-Dokumente. Linke hat für die Bearbeitung dieser Quellen einen klassischen alltagsgeschichtlichen Ansatz gewählt. Ihm geht es mit Alf Lüdke um das Ausloten von Agency der Gefangenen unter Zwang und Gefangenschaft, also um die Handlungsspielräume des Einzelnen im Umgang mit von außen vorgegebenen normativen Strukturen (S. 8f.). Dieses Vorgehen soll verhindern, in einfache Täter-Opfer-Dichotomien zu verfallen. Der Schwerpunkt soll nicht, wie man es bei einer Lagergeschichte erwarten würde, auf Konflikten und Dissens liegen, sondern auf dem Aufzeigen von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung (S. 11). Das Herausarbeiten von möglichst vielen Einzelfällen ist bei Linke heuristisches Prinzip. Die Quellen verwebt er hierbei im Sinne von Clifford Geertz' dichter Beschreibung zu einer Erzählung über das Lagerleben im Tulare Assembly Center.

Diese ist teilweise chronologisch und thematisch angeordnet: Beginnend mit der Deportation, der ein kurzer historischer Abriss über die japanische Einwanderung vorgeschaltet ist, und dem Bezug des Lagers, endet sie mit dem Abtransport zum Gila River Relocation Camp und den zeitgenössischen Bilanzierungen der WCAA. Dazwischen behandelt Linke verschiedene Aspekte des Lagerlebens in eigenen Kapiteln: Bewältigung des Alltags, Selbstverwaltung, Lagerdisziplin, die Lagerzeitung, Aktivitäten und Veranstaltungen im Lager, Umgang mit den Lagergrenzen und Grenzüberschreitungen. Diese Abschnitte stehen weitgehend für sich, haben teilweise eigene theoretische Zugänge (besonders gelungen seine Überlegungen zu Grenzen, die das entsprechende Kapitel strukturieren) und sind so auch zum Nachschlagen nützlich. Zusammen ergeben sie ein faszinierendes Panorama des Lagerlebens, das umso erstaunlicher ist, da es sich innerhalb eines halben Jahres entfaltete: Den Internierten wurde vom Lagerdirektor Nils Aanonsen ein hohes Maß an Eigenständigkeit und demokratisch legitimierter Selbstorganisation zugestanden, die sich von Verwaltungsaufgaben bis zu Disziplinierungsmaßnahmen und Freizeitgestaltung erstreckte. Aanonsen versuchte hierbei ein möglichst kooperatives Verhältnis mit den Insassen zu pflegen, obwohl er durch seine Haltung immer mehr in Konflikt mit der WCAA geriet. Das Handlungsspektrum der Gefangenen reichte von bedingungsloser Kooperation bis hin zu Verweigerung und Widerstand, wobei in Tulare keine schwerwiegenden Zwischenfälle oder Widerstandsaktionen zu verzeichnen waren.

Linke gelingt es, überzeugend herauszuarbeiten, dass die Japanoamerikaner im Tulare Assembly Center keine bloßen Opfer waren, die unter Zwang und Gewalt litten, sondern viele Strategien entwickelten, um die Gefangenschaft zu bewältigen, sowie Aneignungsprozesse anstießen, die ihnen Agency zurückgaben. (So nahmen die Gefangenen beispielsweise die Begrünung des Lagers und Gestaltung ihrer Lebensräume selbst in die Hand, S. 118f.). Linke bleibt dabei immer differenzierend und zeigt auf, dass dies nicht immer reibungslos geschah. Der alltagsgeschichtliche Ansatz birgt allerdings auch Probleme in sich. Auch wenn Linke die Einzelaussagen stets korrekt in übergeordnete Zusammenhänge stellt, vermittelt die starke Betonung weniger Ego-Dokumente Einseitigkeit, dies zeigt sich besonders im Fall James Sadoka: Er wird als wichtiges Beispiel dafür genannt, dass Kibei nicht unbedingt so stark von japanischer Ideologie indoktriniert sein mussten, wie es in der Forschungsliteratur stereotyp wiederholt wird. Doch scheint er ein Sonderfall zu sein, der wegen guter persönlicher Verbindungen als Informant der Japanese Evacuation and Resettlement Study (JERS) (ein 1942 gegründetes interdisziplinäres Forschungsprojekt der University of California in Berkeley zur Dokumentation der Internierung) angeworben wurde (S. 57f.).

Ein weiteres Beispiel ist die von Linke postulierte Verbindung zwischen Mikro- und Makroebene (S. 14), die grundsätzlich sehr positiv hervorzuheben ist, aber leider nicht immer gelingt. Dies zeigt sich zum einen daran, dass abgesehen von einigen historischen Abrissen eine Anbindung des Lagerlebens an die Lebenswelt der Japanoamerikaner vor ihrer Internierung unterbleibt. Ob Nachbarschaften oder soziale Hierarchien vor der Lagerzeit im Lager reproduziert oder durchbrochen werden, wird nur angedeutet (S. 108). Durch den alltagsgeschichtlichen Ansatz bleiben die soziale Strukturen unklar, wie Linke auch selbst einräumt (S. 231). Die Beschreibungen kultureller Phänomene und Alltagspraktiken werden in der Regel nicht in den allgemeinen Kontext der japanoamerikanischen Kultur gesetzt. Linke lässt stattdessen den Alltag sich wie in einer Blase innerhalb des Lagers entfalten. So kann er lagerspezifische Alltagsstrategien nicht immer herausarbeiten. Zum anderen wird dieses Manko daran deutlich, dass er die sozialen Bedingungen der Auswanderer in Japan nur verkürzt beschreibt. Anders als Linke schreibt, war das Vier-Stände-System der Edo-Zeit zur Zeit der Auswanderung im späten 19. Jahrhundert bereits abgeschafft. Die nominell hohe Stellung der Bauern in diesem System lässt sich nicht auf die breite Masse der durch die Industrialisierung infolge der Meiji-Restauration verelendeten japanischen Bauern anwenden, die viele Auswanderer stellten (S. 30f.).

Alles in allem handelt es sich um ein lesenswertes und gut lesbares Werk. Es weckt Neugier auf einen zweiten Band über das Gila River Relocation Camp, der hoffentlich auch Verbindungen zwischen beiden Lagern thematisieren wird. Abschließend ist zu wünschen, dass Linkes wichtige empirische Befunde auch eine Übersetzung ins Englische erfahren.

Anmerkungen:
1 Vgl. hierzu auch die bibliographischen Essays in Paul Spickard, Japanese Americans. The Formation and Transformations of an Ethnic Group, New Brunswick 2009.
2 Bislang am umfassendsten dokumentierte Jeffrey Burton u.a., Confinement and Ethnicity. An Overview of World War II Japanese American Relocation Sites, Seattle 2002, die einzelnen Lager, doch liegt bei ihm der Schwerpunkt auf dem Erhaltungszustand und der Eignung der Stätten als Erinnerungsorte.

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