S. Kreutzer: Arbeits- und Lebensalltag evangelischer Krankenpflege

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Titel
Arbeits- und Lebensalltag evangelischer Krankenpflege. Organisation, soziale Praxis und biographische Erfahrungen, 1945–1980


Autor(en)
Kreutzer, Susanne
Reihe
Pflegewissenschaft und Pflegebildung 9
Erschienen
Göttingen 2014: V&R unipress
Anzahl Seiten
281 S.
Preis
€ 44,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nina Grabe, Göttingen

Die Tätigkeit der Krankenpflege galt gemäß der christlichen Pflegetradition als „Liebesdienst“, der nicht als Arbeit, sondern als Berufung zu verstehen sei und sich durch die Einheit von Leibes- und Seelenpflege auszeichne. Die westdeutsche Krankenpflege war bis in die 1960er-Jahre von diesem Pflegekonzept geprägt, unterlag jedoch ab Mitte der 1950er-Jahre einem tiefgreifenden Transformationsprozess. Dieser war durch eine „Verberuflichung, Professionalisierung, Rationalisierung und Modernisierung“ der Pflege charakterisiert (S. 18). Wie sich die mit einer Ausdifferenzierung, Rationalisierung und Technisierung verbundenen Wandlungsprozesse auf die evangelische Mutterhausdiakonie und den Alltag evangelischer Schwestern auswirkten, untersucht Susanne Kreutzer in ihrer Habilitationsschrift am Beispiel der Hannoverschen Henriettenstiftung, dem größten Diakonissenmutterhaus Niedersachsens. Im Fokus der Arbeit stehen die in der Krankenhaus- und der Gemeindepflege tätigen Mutterhausschwestern. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich auf die Jahre zwischen 1945 und 1980.

Die Transformation der westdeutschen Pflege wird auf drei Ebenen analysiert. Auf der ersten Ebene stehen die Schwestern und ihre Alltagserfahrungen im Mittelpunkt. Von Interesse sind unter anderem die Motivationen der Frauen für ihren Eintritt in die Mutterhausgemeinschaft. Die soziale Praxis wird auf der zweiten Ebene untersucht. Schließlich nimmt die Autorin auf einer dritten Ebene die Situation der Schwestern in der Mutterhausgemeinschaft sowie der sie beschäftigenden Institutionen in den Blick.

Um die spezifische Lebenswelt der Mutterhausschwestern innerhalb der Pflegegeschichte besser verorten zu können, wurden als Ergänzung drei vergleichende Kontrastanalysen durchgeführt. So konnten zum Einen die Erfahrungen und das Selbstverständnis von Frauen ermittelt werden, die zu den Pionierinnen einer Akademisierung der westdeutschen Pflege zählten; zum Anderen findet für einen internationalen Vergleich die Situation evangelischer Krankenhaus- und Gemeindeschwestern in Schweden und den USA Berücksichtigung. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt aber auf den Schwestern der Hannoverschen Henriettenstiftung.

Zur Geschichte der evangelischen Krankenpflege im 20. Jahrhundert liegen bereits zahlreiche Veröffentlichungen vor. Diese beschränken sich jedoch überwiegend auf die Vorkriegszeit und beschäftigen sich meist nur ansatzweise mit der pflegerischen Praxis.1 Zu den Ausnahmen gehören unter anderem Kreutzers eigene Forschungsarbeiten, die eine Basis für die vorliegende Studie darstellen.2 Die Autorin greift auf eine Reihe von Quellenbeständen zurück. Im Hausarchiv der Henriettenstiftung in Hannover sind unter anderem die Personalakten der Diakonissen, deren Korrespondenz mit der Mutterhausleitung sowie die Akten der von der Stiftung betreuten Institutionen erhalten. Das umfangreiche Material ermöglichte der Autorin eine dichte Mikrostudie dieser Einrichtung. In Form von halboffenen, narrativen biografischen Zeitzeugeninterviews mit evangelischen Pflegerinnen der Henriettenstiftung und Vorreiterinnen einer Akademisierung der Pflege verfolgt Kreutzer zudem biografiegeschichtliche Ansätze. Zusätzlich erfolgen Kontrastanalysen in Form historischer Vergleiche mit den Vorreiterinnen einer Akademisierung der bundesdeutschen Pflege sowie mit der schwedischen und amerikanischen diakonischen Kranken- bzw. Gemeindepflege. Für ihre Recherchen zur schwedischen und amerikanischen Mutterhausdiakonie hat die Autorin ausschließlich archivalische Quellen herangezogen.

Das Buch ist in drei Kapitel gegliedert. Nach der Einleitung, in der die aktuelle Methoden- und Theoriediskussion in der historischen Pflegeforschung reflektiert werden, verschafft die Autorin dem Leser im ersten Kapitel am Beispiel der Henriettenstiftung einen Einblick in das Konzept der evangelischen Mutterhausdiakonie. Dabei verweist sie auf die tragende Funktion der ganzheitlichen Körper- und Seelenpflege. Das zweite Kapitel wendet sich den Reformprozessen in der Krankenpflege zu, die mit einer Veränderung des Krankheits- und Pflegeverständnisses einhergingen. Berücksichtigung finden zudem der Nachwuchsmangel und die Initiativen zur Nachwuchsrekrutierung. Im dritten Kapitel wird – vor dem Hintergrund der sich ab den späten 1950er-Jahren vollziehenden Transformation der deutschen Krankenpflege – aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive die Lebenssituation der Schwestern analysiert. Von Interesse sind für die Autorin vor allem die Auswirkungen der Reformen auf die soziale Praxis. Weiterhin stehen das Belastungserleben der Pflegerinnen und ihre Strategien zur Bewältigung des Pflegealltags im Fokus. Für eine bessere Einordnung der Untersuchungsergebnisse erfolgt der Einbezug der oben genannten Kontrastanalysen.

In jedem Kapitel werden Aspekte aus den vorigen Kapiteln aufgegriffen, sodass es zu Wiederholungen kommt, die stellenweise etwas ermüdend wirken. Indem sie jedoch zum Großteil in einen neuen Zusammenhang gestellt werden, wird dem Leser eine Betrachtung aus unterschiedlichen Blickwinkeln ermöglicht.

Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Schweden und den USA waren das Konzept einer ganzheitlichen Pflege und die auf Erfahrung und Beobachtung basierenden Kenntnisse der Schwestern in der Patientenbeobachtung charakteristisch für die diakonische Krankenpflege. Dass die Diakonissen trotz ihres hohen Arbeitspensums und der geringen Vergütung eine insgesamt hohe Zufriedenheit mit ihrer Lebenssituation äußerten, führt Kreutzer auf ihre vergleichsweise große Selbständigkeit, ihr hohes gesellschaftliches Ansehen und ihren starken Glauben zurück. Letzterer spielte eine entscheidende Rolle in ihrem Leben und bot ihnen Rückhalt bei der Bewältigung des vielfach konfliktreichen Alltags sowie bei der Sterbebegleitung.

In den 1960er-Jahren änderte sich der Pflegealltag der Mutterhausschwestern grundlegend. Indem sich ein naturwissenschaftlich begründetes Verständnis von Krankheit durchsetzte, verloren das auf Erfahrung basierende Wissen sowie die ganzheitliche Pflege immer mehr an Bedeutung. Zugleich kam es durch die abnehmende Zahl der Neueintritte in die Mutterhausgemeinschaft auch in der Henriettenstiftung zur vermehrten Einstellung freier Schwestern. Da diese für ein anderes Lebensmodell standen, herrschte nicht selten ein konfliktreiches Verhältnis zwischen den Diakonissen und ihren freien Kolleginnen. Die als Kontrastgruppe herangezogenen Vorreiterinnen einer Akademisierung der Pflege, die zumeist eine höhere Bildung besaßen als der Großteil der Krankenschwestern, unterschieden sich ebenfalls von dem traditionellen Typus der Mutterhausschwester. So zeichneten sie sich durch ein starkes Interesse an einer fundierten theoretischen Ausbildung aus, die ihnen die Begründungen für ihre pflegerischen Tätigkeiten lieferte. Darüber hinaus waren sie kaum noch dazu bereit, sich Autoritäten wie dem Mutterhausvorstand unhinterfragt unterzuordnen.

Dass die Rationalisierung der Pflege leicht zu ihrer „Enthumanisierung“ führen konnte, wurde sowohl in Schweden – wo die Professionalisierung der Krankenpflege bereits in den 1930er-Jahren begann – als auch in Deutschland beklagt. Ebenfalls war die Professionalisierung der evangelischen Pflege in beiden Ländern mit Konflikten verbunden. In der Gemeindepflege konnten die traditionellen Pflegekonzepte zum Teil sogar noch bis Ende der 1970er-Jahre aufrechterhalten werden. Kreutzers Kontrastanalyse zeigt, dass der diakonischen Gemeindepflege in den USA, aufgrund der Konkurrenz durch andere Institutionen, hingegen kein Erfolg beschieden war. Daher zogen sich die dortigen Mutterhäuser schon in den 1940er-Jahren aus der Gemeindearbeit zurück.

Die vorliegende Studie ermöglicht dem Leser ein tieferes Verständnis des christlichen Pflegekonzepts des „Liebesdienstes“ und dessen „Binnenlogik“. Dazu trägt insbesondere das Heranziehen mikrogeschichtlicher Methoden bei. Die individuellen Motive, Denk- und Handlungsweisen der Pflegerinnen, die in den schriftlichen Quellen keinen Niederschlag finden, konnten mit Hilfe biografischer Interviews erfasst werden. Eine historische Verortung und „Überprüfung“ des Erzählten wird durch die zusätzliche Heranziehung des Archivmaterials ermöglicht. Die auf der Basis des umfangreichen Quellenmaterials erfolgte Analyse der Wechselwirkungen von institutionellem Kontext, sozialer Praxis und biografischen Erfahrungen gehört zu den – durchaus innovativen – Stärken der Studie (S. 23). Zugleich verdeutlicht der Blick auf das ganzheitliche Pflegeverständnis, dass die Transformation der Krankenpflege nicht nur als Fortschritt zu bewerten ist, sondern auch zu Einbußen führte, unter anderem bezüglich der Handlungsspielräume der Schwestern. Ebenfalls konnte eine auch Seelsorge und Sterbebegleitung beinhaltende Pflege nur noch eingeschränkt umgesetzt werden und erfuhr immer weniger Wertschätzung. Dies galt gleichfalls für die Krankenbeobachtung, die bislang zu den charakteristischen Kompetenzen des Pflegepersonals gehört hatte, und die nunmehr zunehmend „Maschinen“ übertragen wurde. Dass die Pflegegeschichte demzufolge keinesfalls als stetiger Fortschritt verstanden werden kann, ist eines der Verdienste der Studie. Dabei geht es der Autorin nicht um eine Verklärung der Vergangenheit, sondern vielmehr darum, Anstöße zur Lösung aktueller Konflikte im Pflegesektor zu bieten. So ergeben sich durch den Einblick in traditionelle Pflegekonzepte neue Perspektiven für die noch heute aktuelle Problematik der sogenannten „doppelten Handlungslogik“, das heißt der Frage nach der Vereinbarkeit einer auf wissenschaftlichem Fachwissen und zweckrationaler Handlungsprinzipien beruhenden Pflege mit der personenbezogenen Versorgung, die in starkem Maße bedürfnisorientiert ausgerichtet war und auf Erfahrungswissen basierte (S. 257). Susanne Kreutzers Habilitationsschrift stellt somit zu bisherigen pflegegeschichtlichen Veröffentlichungen eine äußerst wertvolle Ergänzung dar, die nicht nur für die Pflegegeschichte, sondern auch für die aktuelle Pflegewissenschaft von Interesse ist. Schließlich sind der flüssige Schreibstil und die Vielzahl an anschaulichen Beispielen positiv hervorzuheben, die auch den nicht mit der Thematik vertrauten Lesern die Lebenswelt evangelischer Mutterhausschwestern nahebringen.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B.: Ruth Felgentreff, Die Diakonissen. Beruf und Religion im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Beruf und Religion im 19. und 20. Jahrhundert (Konfession und Gesellschaft 26), Stuttgart 2003, S. 195–209; Ute Gause / Cordula Lissner (Hrsg.), Kosmos Diakonissenmutterhaus. Geschichte und Gedächtnis einer protestantischen Frauengemeinschaft, Leipzig 2005; Christoph Schweikardt, Die Entwicklung der Krankenpflege zur staatlich anerkannten Tätigkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert, München 2008.
2 Vgl. u.a.: Susanne Kreutzer, Arbeits- und Lebensalltag evangelischer Krankenpflege. Organisation, soziale Praxis und biographische Erfahrungen, 1945–1980, Göttingen 2014; dies., Rationalisierung evangelischer Krankenpflege. Westdeutsche und US-amerikanische Diakonissenmutterhäuser im Vergleich, 1945–1970, in: Medizinhistorisches Journal 47 (2012), S. 221–243.

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