M. Mühlnikel: Fürst, sind Sie unverletzt?

Cover
Titel
"Fürst, sind Sie unverletzt?". Attentate im Kaiserreich 1871–1914


Autor(en)
Mühlnikel, Marcus
Erschienen
Paderborn 2014: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
337 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Iwan Iwanov, SFB/TRR 138 "Dynamiken der Sicherheit", Justus-Liebig-Universität Gießen

Wie hat die zum Gruß erhobene rechte Hand dem Reichskanzler Bismarck 1874 das Leben gerettet? Wer hatte mehr Angst vor Attentaten: der eiserne Kanzler oder Kaiser Wilhelm I.? Welche Sicherheitsvorkehrungen von Seiten der Polizei machten die Bahnreisen der kaiserlichen Familie um 1900 erforderlich? Wer Antworten auf diese und viele ähnliche Fragen sucht, wird dieses fundierte und gut recherchierte Buch mit Gewinn lesen.

In seiner Bayreuther Dissertation von 2013 erforscht Marcus Mühlnikel die dem Schutz der politischen Führung dienenden Maßnahmen. Dabei konzentriert er sich auf die Zeitspanne von der Reichsgründung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Das Buch beruht auf intensiven Quellenrecherchen. So hat der Autor allein in Deutschland die Bestände von nicht weniger als zwanzig privaten sowie öffentlichen Archiven ausgewertet; zwei Archive in Österreich und je eines in Polen und in der Schweiz kommen hinzu. Darüber hinaus hat Mühlnikel zahlreiche gedruckte Quellen amtlichen wie privaten Charakters herangezogen, nämlich politische Schriften, Korrespondenzen, Memoiren, Tagebücher, stenographische Reichstagsberichte sowie Zeitungsartikel. Seine Ausführungen behandeln folgende Anschläge: das Attentat des Böttchergesellen Eduard Kullmann auf Bismarck in Kissingen (1874), die Anschläge Max Hödels und Karl Nobilings auf Wilhelm I. in Berlin, die die Auflösung des Reichstags, die Neuwahlen und die Verabschiedung des Sozialistengesetzes zur Folge hatten (1878), das fehlgeschlagene Dynamit-Attentat der Elberfelder Anarchistengruppe um August Reinsdorf auf den Festzug zur Einweihung des Niederwald-Denkmals in Rüdesheim (1883) und schließlich die Würfe auf Wilhelm II. mit einem Beil in Breslau durch Selma Schnapka (1900) und mit einem Eisenstück in Bremen durch Diedrich Weiland (1901).

Das Buch ist in drei Hauptabschnitte untergliedert. Im ersten größeren Abschnitt rekonstruiert Mühlnikel den jeweiligen Tathergang und legt besonderen Wert darauf, die Persönlichkeitsstruktur der Attentäter, ihre unmittelbaren Motive, das politische Umfeld und die gegen sie durchgeführten Ermittlungen genau auszuleuchten. In einem zweiten Schritt wechselt der Verfasser die Perspektive, indem er sich auf die Wahrnehmung der Attentate und der von ihnen ausgehenden Gefahr von Seiten der Opfer konzentriert. Dabei stellt er deutliche Unterschiede im Weltbild seiner Protagonisten fest. Im abschließenden Kapitel werden schließlich die von der Regierung zur Attentatsprävention eingeleiteten Maßnahmen dargelegt, die sich von der Intensivierung des Rechtsschutzes über den institutionellen Ausbau der politischen Polizei und die ersten Ansätze der internationalen Polizeikooperation bis hin zu detaillierten Sicherheitsvorkehrungen zum Personenschutz des Kaisers und des Kanzlers erstreckten. Dabei unterscheidet Mühlnikel mehrere Institutionen, die für den Schutz oberster Staatsrepräsentanten im Kaiserreich zuständig waren (diverse Polizeieinrichtungen, Leibwache, Militär).

Trotz des stringenten Aufbaus bleiben der Forschungsbegriff sowie der gesamte Ansatz des Buchs insgesamt jedoch vage und unbestimmt. So kümmert sich der Verfasser wenig darum, in welchem Verhältnis das Attentat als Phänomen der politischen Kriminalität seit dem 19. Jahrhundert zur historischen Terrorismusforschung steht. Bis zum Schluss wird nicht deutlich, von welchem Attentatskonzept Mühlnikel in seiner Studie Gebrauch macht und wie dieses sich zum zeitgenössischen Quellenbegriff verhält. Zwar qualifiziert Mühlnikel den Attentatsbegriff von Alexander Demandt als unzulänglich ab (S. 11)1, seine eigene Konzeption erläutert er aber an keiner anderen Stelle, so dass dem Leser nicht ersichtlich wird, an welchen Leitvorstellungen sich der Verfasser letztlich orientiert.

Unstrittig zählen hervorragende Quellenkenntnis, flüssiger Erzählstil, klarer Aufbau und prägnante Zusammenfassungen zu den Stärken des Buchs. Allerdings ist der zu bewältigende faktische Stoff eine Herausforderung, weil der Autor, der sich zugutehält, seine Arbeit ohne „ein wie auch immer geartetes Denkkorsett“ geschrieben zu haben (S. 247), dem Leser keine Deutungshilfe über seine methodischen Vorentscheidungen an die Hand gibt. Es hätte einer Erklärung bedurft, warum der Autor die angesichts des Themas naheliegend erscheinende Option verwirft und etwa darauf verzichtet, die institutionelle Konkurrenz einzelner Sicherheitsakteure zu thematisieren, obwohl vorhandene Friktionen seiner Aufmerksamkeit nicht entgehen. Zudem zeigt sich Mühlnikel an einer wie auch immer gearteten Klassifizierung des Gefährdungspotentials unterschiedlicher Räume aus der Akteursperspektive wenig interessiert, obwohl er auf die Vielfalt räumlicher Umstände, unter denen Attentate verübt wurden, durchaus eingeht.

Ein analytischerer Ansatz im Umgang mit den Kategorien 'Akteure' und 'Raum' hätte ermöglicht, den im Buch verwendeten Attentatsbegriff zu schärfen und die Arbeit stärker in die Forschungsdebatte einzubinden. Denn von einer Arbeit, die sich das ambitionierte Ziel setzt, die Bedeutung der Attentate für eine ganze Epoche herauszuarbeiten (S. 9f.), kann verlangt werden, dass sie ihren Gegenstand und Zugang besonders genau definiert. Es wäre nötig, stärker zu etikettieren, was sie eigentlich tut, worüber sie spricht, warum sie darüber spricht und auf welchen Grundlagen sie dies tut.

Fazit: Der Rezensent hat es hier mit einem Buch zu tun, das stutzig macht: einem Buch, das durch quellengesättigtes Detailwissen angereichert ist und dabei an der aktuellen Forschungsdiskussion ziemlich teilnahmslos vorbeizieht. Ein recht eigensinniges Buch!

Anmerkung:
1 Alexander Demandt, Das Attentat als Ereignis, in: ders. (Hrsg.), Das Attentat in der Geschichte, Augsburg 2000, S. 501.

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