S. Gersh (Hrsg.): Interpreting Proclus

Cover
Titel
Interpreting Proclus. From Antiquity to the Renaissance


Herausgeber
Gersh, Stephen
Erschienen
Anzahl Seiten
IX, 409 S.
Preis
£ 70.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Perkams, Institut für Philosophie und Institut für Altertumswissenschaften, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Neuplatoniker Proklos ist schon immer die Geschichte seiner Rezeption gewesen. Das ergibt sich bereits aus deren Umfang, aber auch aus der Größe der Namen, die Teil dieser Wirkungsgeschichte sind: Hierzu gehören mit dem griechischen Christen Pseudo-Dionysios Areopagita, dem arabischen Liber de causis, Nikolaus von Kues sowie Hegel – um nur wenige zu nennen – einige der ganz großen Namen der europäisch-vorderorientalischen Geistesgeschichte. Hinter deren Glanz – so der Eindruck, den man gewinnen konnte – verblasst das Werk des Proklos selbst, den die Geschichtsschreibung der antiken Philosophie eher wie ein Stiefkind behandelt, wie eine scholastisierende Ausmalung der grandiosen Skizze, die sein innovativ-origineller Vorgänger Plotin hinterlassen hatte. Obwohl die neuere Forschung dieses Bild inzwischen variiert, ist die Zahl der Proklos gewidmeten Publikationen im Vergleich zu anderen spätantiken Philosophen nach wie vor klein, und nicht weniges davon beschäftigt sich mit seiner Rezeption.1 Das gilt umso mehr, wenn man die umfangreiche Spezialforschung berücksichtigt, die sich mit den schon genannten Texten, aber auch mit der byzantinischen Philosophie, der deutschen Dominikanerschule im 13./14. Jahrhundert sowie den Renaissancedenkern um Marsilio Ficino beschäftigen: Aufgrund der zentralen Stellung, die Proklos für diese Autoren hat, ist die Beschäftigung mit ihnen auch immer bis zu einem gewissen Grad die Erforschung der Rezeption des Proklos.

Diese Vorüberlegungen erweisen schon die Relevanz, die eine synoptische Darstellung wie dieser Band haben kann, der verschiedene Stadien der Proklos-Rezeption mit einem recht detaillierten Überblick zu Proklos’ eigenem Werk zusammenbringt: Gerade die Fülle der von Proklos abhängigen Autoren macht es für den einzelnen Forscher schwer, seine eigene Arbeit zu kontextualisieren und ihre philosophiehistorische Tragweite richtig einschätzen zu können. Das gilt umso mehr, als Proklos’ eigenes Gedankengebäude äußerst komplex ist, so dass ein Einzelgedanke nicht leicht ohne seinen breiteren Kontext richtig einzuschätzen ist, was auch die Würdigung seiner Rezeption beeinflusst. Zudem weist die Übersicht auf ein zentrales Problem der Proklos-Forschung hin: Die Ideen des Athener Diadochen sind eng verbunden mit einem breiteren Strom neuplatonisch-antiken Gedankenguts, und sie werden teilweise in bewusst anonymisierter und veränderter Form überliefert, namentlich durch Pseudo-Dionysios und den Liber de causis. Die Erforschung des proklischen Erbes ist daher darauf angewiesen, möglichst genau über die verfügbaren Werke des Proklos, ihre Textgestalt und Rezeption zu einer bestimmten Zeit Bescheid zu wissen.

Der vorliegende Band wird der Aufgabe, in diese Situation einzuleiten auf mehrfache Weise gerecht. Er enthält zunächst eine einleitende Übersicht über die Rezeptionsgeschichte der proklischen Philosophie durch den Herausgeber Stephen Gersh, die auf einige wiederkehrende (und häufiger wiederholte) Grundprobleme aufmerksam macht, etwa die Tatsache, dass die Proklos-Rezeption bei Christen häufig unter dem Vorzeichen stattfand, dass Proklos von dem zeitlich vermeintlich früheren Dionysios, angeblich ein Schüler des Paulos, abhängig sei – was die Rezeption einerseits legitimierte, andererseits einer systematischen Unterschätzung des Proklos Vorschub leistete. Nicht zuletzt wird (wie auch später bei Steel und Porro) an Thomas von Aquins wegweisende Erkenntnis erinnert, dass in der Tat der Liber de causis nicht aristotelisch, sondern eine Bearbeitung von Proklos’ Elementatio theologica ist.

Proklos’ Leben und Werk werden sodann in drei Artikeln des Herausgebers sowie von Lucas Siorvanes und Anne Sheppard vorgestellt. Darauf folgen Beiträge zur Spätantike (zu Dionysios von John M. Dillon sowie zu Damaskios und Boethius von Gersh), zum Liber de causis (Cristina D’Ancona), zur byzantinischen Philosophie (zu Psellos von Dominic J. O’Meara; zu Italos, Eustratios und Nikolaus von Methone von Michele Trizio; zu Plethon von Gersh), zur georgischen Übersetzung der Elementatio theologica durch Johannes Petritsi (Lela Alexidze), zu den lateinischen Proklos-Übersetzungen des Wilhelm von Moerbeke (Carlos Steel), zur Proklos-Rezeption in Paris im 13. Jahrhundert (Pasquale Porro) und im deutschen Raum im 13. und 14. Jahrhundert (Markus Führer und Gersh) sowie zu Cusanus (Gersh), Ficino (Michael J.B. Allen) und Francesco Patrizi (Thomas Leinkauf). Somit werden also sowohl eine inhaltliche Grundlegung gegeben, die nicht zu kurz ausfällt und daher auch dem Forscher helfen wird, der kein Detailkenner des Proklos ist, als auch die wichtigsten Rezipienten des Proklos eigens behandelt; untersucht werden dabei sowohl die philosophischen Feinheiten der Auslegung als auch die Übersetzungen bzw. Adaptionen im Arabischen, Georgischen und Lateinischen. Man vermisst in dieser Übersicht allenfalls weitere Überlegungen zur arabischen Rezeption, so etwa bei al-Kindī oder al-Amīrī, sowie zur Proklos-Rezeption Hegels. Obwohl die Grenze des Bandes am Ende der Renaissance gut zu rechtfertigen ist, sind Hegels Proklos-Bezüge ebenso relevant wie hinreichend erforscht, sodass ihr Fehlen in diesem Band für den philosophisch interessierten Leser nicht recht verständlich wird.

Die Beiträge zu Proklos, insbesondere die von Gersh sowie von Sheppard, tun einiges, um dessen sehr speziellem geistigen Profil gerecht zu werden. Das zeigt sich insbesondere an seiner Einschätzung als Exeget (Sheppard) bzw. Theologe (Gersh), die, mit einigen neueren Beiträgen2, zu Recht die religiöse Dimension der proklischen Philosophie betonen. Herausragend ist Gershs eigener Beitrag über „Proclus as Theologian“, der sich als Frucht einer sehr gründlichen systematischen Beschäftigung mit dem Diadochen lesen lässt. Leider leidet er etwas unter einer Kürze, die es schwierig macht, den geistigen Höheflügen der proklischen Terminologie in Gersh’sher Deutung zu folgen. Andererseits wird selbst ein guter Proklos-Kenner diese Ausführungen mit Gewinn lesen. Überhaupt gewinnt der Band seine Einheit und Geschlossenheit durch die Beiträge des Herausgebers, deren philologische Akribie in Verbindung mit systematischen Scharfsinn ihn einmal mehr als einen der bedeutendsten Kenner und originellsten Interpreten des proklischen Neuplatonismus in unserer Zeit ausweisen.

Im Übrigen zeigt schon die Übersicht, dass der Leser dieses Bandes – und man kann ihn mit Genuss von vorne bis hinten durchlesen – einiges an Informationen über teils wenig bekannte Epochen der Philosophiegeschichte erhält, die einen umso besseren Einblick ermöglichen, als teils gerade diese Epochen von Proklos stark geprägt waren. Faszinierend waren für den Rezensenten in dieser Hinsicht beispielsweise die Beiträge zu den weniger bekannten byzantinischen Denkern, die Proklos in recht großer Vollständigkeit kannten und als Philosophen mit dem Christentum zu vereinbaren suchten, ohne die Differenzen zu verschweigen. Lediglich Plethon fällt durch eine Neigung auf, die antike Religion in seiner Zeit zu aktualisieren. Besonders bemerkenswert ist der Beitrag über Johannes Petritsi. Man erfährt hier nicht nur, dass die georgische Philosophietradition offenbar erst spät beginnt (im 12. Jahrhundert; in Armenien dagegen schon seit dem 6./7. Jahrhundert) und nur durch Petritsis Proklos-Bearbeitung sowie einen Kategorien-Kommentar bekannt ist. Vor allem lernt man aber, dass Petritsi in der Tat für die Wahrheit der proklischen Lehre eintritt, und zwar auch – anders als seine byzantinischen Zeitgenossen – dort, wo eine Vereinbarkeit mit christlichen Ansichten mehr als fraglich ist. Lediglich in einem Epilog wird ein Versuch der Versöhnung unternommen. Kaum minder interessant ist Steels plausibler Nachweis, dass Moerbeke offenbar Proklos’ gesamten Timaios-Kommentar übersetzt hat. Porro arbeitet insbesondere die Rolle des Proklos in der Debatte zwischen Intellektualisten und Voluntaristen im späten 13. Jahrhundert heraus – wobei freilich der Eindruck bestehen bleibt, dass mit Proklos eben keine Selbstbewegung des Willens nachzuweisen war. In der deutschen Dominikanerschule (soweit dieser Ausdruck gerechtfertigt ist) lässt sich Dietrich von Freiberg direkt von vielen Propositionen der Elementatio theologica inspirieren, und Berthold von Moosburg stellt in seinem ausführlichen Kommentar zur Elementatio bemerkenswerte Überlegungen zur philosophiehistorischen Einordnung des Proklos an, wandelt aber zugleich einige seiner Lehren nicht unwesentlich um. Die Wirkung des Proklos auf Cusanus, soweit sie nicht über Dionysios vermittelt ist, lässt sich nur über ein genaues Studium der Marginalia zu Cusanus’ Proklos-Handschriften klären, die darauf hindeuten, dass Nikolaus häufig eher nachträglich von Proklos bestätigt wurde, als dass er von ihm angeregt wäre. Ficino tritt Proklos mit beträchtlichen Reserven von christlicher Seite her gegenüber, schafft aber ein Oeuvre, das wie kein anderes an Proklos erinnert. Bei Patrizi schließlich vermischt sich der Einfluss des Proklos mit dem des Damaskios.

Während die Beiträge so eine herausragende Übersicht zur Proklos-Rezeption liefern, ist nicht alles in ihnen grundlegend neu, sondern vieles resümiert, soweit das dem Rezensenten bekannt ist, die bisherige Forschung der Autoren, die zumeist auf ihrem Gebiet führend sind, sie setzen aber durchaus auch neue Akzente. Erschlossen wird der Band durch ein Sach- und ein Namenregister. Als ausgesprochener Mangel muss vermerkt werden, dass ein Stellenregister fehlt. Ein solches wäre hervorragend geeignet gewesen, schnell herauszufinden, welche Proklos-Texte wo wie interpretiert wurden, und so Vergleiche für die eigenen Arbeiten zu gewinnen.

Insgesamt ist der Band ein hervorragender Ausgangspunkt für weitere Forschungen auf speziellen Gebieten und kann den Weg weisen zu einem Blick über den eigenen Tellerrand, der in der derzeitigen, von Spezialforschung geprägten Landschaft so dringend notwendig ist. Die Rezeption des Proklos ist einer der roten Fäden, an denen gerade philosophiehistorische Forschung Epochengrenzen überwinden und die Kontinuität und Veränderung der Ideen verfolgen kann, die das heutige Philosophie- und Wissenschaftsverständnis sowohl ermöglicht haben als auch immer wieder in seiner Selbstgenügsamkeit infrage zu stellen vermögen.

Anmerkungen:
1 Hervorgehoben seien verschiedene Arbeiten von Werner Beierwaltes (Denken des Einen, Frankfurt 1985; Procliana, Frankfurt 2007; Platonismus im Christentum, Frankfurt 1998; Platonismus und Idealismus, 2. Aufl., Frankfurt 2004) sowie der Sammelband Gilbert Boss / Gerhard Seel (Hrsg.), Proclus et son influence, Zürich 1987.
2 Insbesondere das hervorragende Buch von Radek Chlup, Proclus. An Introduction, Cambridge 2012.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension