Cover
Titel
Jaqueline Tyrwhitt. A Transnational Life in Urban Planning and Design


Autor(en)
Shoshkes, Ellen
Erschienen
Farnham 2013: Ashgate
Anzahl Seiten
260 S.
Preis
£ 60.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Phillip Wagner, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Jaqueline Tyrwhitt (1905–1983) war eine bedeutende Planungstheoretikerin und Entwicklungshelferin in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Ohne eine formelle Ausbildung als Planerin wurde sie eine der treibenden Kräfte hinter der Verwissenschaftlichung der britischen Sozial- und Raumplanung während des Zweiten Weltkriegs. Nach 1945 konnte sie die Entwicklung von bis heute breit rezipierten Planungskonzepten der Nachkriegsmoderne prägen und assistierte der UN bei der Grundlegung einer urbanen Entwicklungshilfe. Es ist das Verdienst von Ellen Shoshkes, endlich auf Grundlagen intensiver Archivrecherchen die Lebensgeschichte dieser Expertin aufgearbeitet zu haben. Damit wirft sie Licht auf die Biographie einer Frau, die oft im Schatten vermeintlich großer Männer entscheidende Impulse für den Diskurs über Planung, Modernisierung und Entwicklung geben konnte und deren Biographie weit über das Feld der Stadtplanungsgeschichte hinaus interessante Einblicke in die Mechanismen der (transnationalen) Expertengeschichte der Hochmoderne bieten könnte. Anhand von Tyrwhitts Beispiel lassen sich so unterschiedliche Themenfelder studieren wie die „performative Konstruktion“1 des Experten in geschlechtergeschichtlicher Perspektive, die Entwicklung von modernem Expertenwissen im Prozess des transnationalen Austauschs oder die Genealogien von Konzepten des Umweltschutzes als politische Ordnungsmodelle der Spätmoderne.

In den ersten sechs Kapiteln beschreibt Shoshkes stringent den beruflichen Werdegang von Tyrwhitt in Großbritannien. Diese Teile der Studie bieten interessante Ansatzpunkte für geschlechtergeschichtliche Fragen. Wie konnte sich eine Frau in einem von Männern dominierten Expertenfeld durch bestimmte inszenatorische Strategien durchsetzen, welche gesellschaftlichen Erwartungen an Weiblichkeit akzeptierte sie, und was für ein Rollenverständnis prägte sie schließlich in diesem Prozess aus. Shoshkes widmet sich zuerst den frühen Prägungen der aus einer traditionsreichen Familie des englischen Gentry kommenden Tyrwhitt. Die Britin wandte sich in den hochpolitisierten 1920er-Jahren der Organisation unterschiedlicher politischer und sozialtechnischer Initiativen zu. Die junge Frau war zuerst Büroleiterin von Organisationen im rechten Tory-Milieu. In den 1930er-Jahren wurde Tyrwhitt unter anderem Sekretärin der League of Industry, einer planungsaffinen Denkfabrik für die Steuerung von Arbeitsbeziehungen. Nach einem siebenmonatigen Aufenthalt an der Technischen Universität Berlin, wo die Britin die nationalsozialistische Stadtplanung kennenlernte, absolvierte sie zwischen 1937 und 1939 ein Studium an der School of Planning and Research for National Development.

Obwohl sie aufgrund des Kriegsausbruches nie ihr Diplom machen konnte, wurde sie 1941 zur Direktorin der Forschungsabteilung der neu gegründeten Association for Planning and Regional Reconstruction berufen, wo sie es vermochte, bedeutende Soziologen und Geographen der Exil-Community für ihre Projekte zu mobilisieren, mit anderen Expertenkomitees des Wiederaufbaus zusammenzuarbeiten und durch ihre persönlichen Kontakte zahlreiche Expertisen für die staatlichen Wiederaufbaubehörden zu lancieren. Auf diese Weise trug sie dazu bei, eine wissenschaftlich fundierte Stadt- und Regionalplanung auf der staatlichen Ebene zu verankern.

Immer wieder kommt Shoshkes darauf zurück, dass in diese Zeit die Ausprägung von Tyrwhitts Selbstbildes als Expertin fällt. Die Britin akzeptierte ihre Position in der Geschlechterordnung der britischen Gesellschaft und versuchte sie gleichzeitig zu unterlaufen. Aufgrund der damaligen Erwartung, dass sich eine Frau im Berufsleben dem Mann unterzuordnen hat, kaprizierte sich Tyrwhitt auf die Organisation von Expertenbeziehungen (und nicht primär auf inhaltliche Arbeit). Sie beschrieb ihre Position als die eines Katalysators für die Verbreitung von bestimmten Vorstellungen von Stadt- und Regionalplanung. Gleichzeitig erfand sie das Modell des „collective leadership“ (S. 77), um ihre eigene netzwerkerische Arbeitsweise zu institutionalisieren. Allerdings ist mitunter bedrückend zu lesen, wie die großen Namen der Stadtplanungsgeschichte, allen voran der berühmte Architekturtheoretiker Sigfried Giedion, diesen Arbeitsethos für eigene Zwecke ausgenutzt haben. Shoshkes zeigt überzeugend, wie sehr Tyrwhitt als eine Art Privatsekretärin von Giedion dessen Positionen geprägt hat, ohne dafür öffentlich gewürdigt zu werden.

Die Kapitel sieben bis 14 folgen Tyrwhitts unterschiedlichen internationalen Projekten in den 1940er- und 1950er-Jahren mittels einer strikt chronologischen Erzählweise. Shoshkes befasst sich hier damit, wie die englische Expertin ihre Planungskonzepte im unablässigen transnationalen Austausch verfeinerte sowie in die unterschiedlichen nationalen und lokalen Kontexte einspeiste, etwa ihr Konzept einer regionalen Steuerungspolitik. Dabei verband sie den „Bioregionalismus“ des schottischen Planungstheoretikers Patrick Geddes, der dafür plädierte, zusammenhängende Regionen zu identifizieren und integral zu planen, mit den Diskursen der modernen Architektur mitsamt ihren Forderungen, Räume effizient und rational zu organisieren. Shoshkes beschreibt, wie nach 1945 die unsichere Situation in Großbritannien als auch die Unterstützung ihrer zahlreichen nationalen und internationalen Kontakte dazu beitrug, dass Tyrwhitt vor allem Stellen im Ausland annahm. Die Autorin erzählt in manchmal verwirrender Detailgenauigkeit die nun folgende zehnjährige Odyssee ihrer Protagonistin durch die USA, Kanada und Indien, in der sich Phasen intensiver Betriebsamkeit mit Zeiten der Arbeitslosigkeit abwechselten. Tyrwhitts US-amerikanische Erfahrungen halfen ihr, den zunehmend standardisierten Wiederaufbau in Großbritannien zu kritisieren. In den Congrès Internationaux d'Architecture Moderne gelang es ihr unter anderem den Begriff der „urban constellation“ 1951 in die Diskussion einzuschleusen. Ziel der Planung sollte es ihrer Ansicht nach sein, im regionalen Maßstab unterschiedliche Zentren der Gemeinschaftsbildung zu organisieren. Mit diesen Forderungen gab sie der Debatte über die Verbindung von Sozial- und Stadtplanung wichtige Impulse. 1953 bekam Tyrwhitt die Möglichkeit, ihre Vorstellungen von Planung und Entwicklung zu globaler Relevanz zu verhelfen. Für die UN beriet sie die indische Regierung bei der Durchführung einer internationalen Ausstellung über Wohnungsreform und Stadtplanung. In diesem Zusammenhang entwickelte sie das „Village Center“, das der Gemeinschaftsstiftung im vom Bürgerkrieg zerrütteten Land dienen sollte.

Ihre zunehmende internationale Reputation führte dazu, dass Tyrwhitt 1955 einen Ruf als Associate Professor nach Harvard bekam. Shoshkes beschreibt verhältnismäßig kurz, wie diese Ivy League-Universität Tyrwhitt bis zu ihrer Emeritierung 1969 eine Chance gab, wissenschaftsbasierte und interdisziplinäre Regionalplanung im Curriculum zu verankern. Harvard diente auch als Plattform für ihre zahlreichen internationalen Projekte, so zum Beispiel für ihre Beratertätigkeit für unterschiedliche UN-Entwicklungshilfemissionen.

Ein weiterer Meilenstein der beruflichen Karriere von Tyrwhitt, auf den Shoshkes leider nur sehr kursorisch eingeht, war ihre Zusammenarbeit mit dem Planungsbüro von Konstantinos Doxiadis zwischen 1963 und 1972. Um den Griechen sammelte sich ab dem Ende der 1950er-Jahre eine transnationale Gruppe von Ministerialbürokraten, Universitätslehrern und freien Planern, die geeint wurden durch ihre Kritik an der Modernisierungspolitik der vergangenen Jahrzehnte, ihr Projekt einer Reform der UN und später auch ihre Entdeckung des Umweltschutzes als Politikfeld. Neben organisatorischen und publizistischen Tätigkeiten für diese Organisation gab Tyrwhitt zentrale theoretische und praktische Impulse für die Debatten. Beispielsweise regte sie eine kritische Debatte über die Errungenschaften von Wiederaufbau und Stadtplanung an. Statt punktueller Sanierungsmaßnahmen propagierte die Britin eine holistische Perspektive auf Stadt, Region und Gesellschaft. An die Stelle von rigiden Planungsszenarien wollte sie flexible und anpassungsfähige Programme auf Grundlage der Systemtheorie setzen. Die Harvard-Professorin trug auch zu den Versuchen der Gruppe um Doxiadis bei, die Struktur der Vereinten Nationen hin zu größerer Dezentralität zu reformieren, um Erfordernissen einer zunehmenden globalen Interdependenz gerecht zu werden. Schließlich hatte die englische Planerin auch Anteil daran, dass der Zirkel um Doxiadis den Umweltschutz als neues Politikfeld entdeckte. Im Kontrast zu den Umweltaktivisten der 1970er- und 1980er-Jahre glaubten Tyrwhitt und ihre Kollegen, dass sich die Probleme der Gegenwart mit den technischen und wissenschaftlichen Mitteln der Moderne lösen lassen können. Die regionalplanerische Perspektive der Britin half dabei, die Sichtweise der Gruppe auf die Umweltprobleme, ihr Denken in ökologischen Metaphern und ihre Forderung nach einem internationalen Umweltmanagement zu prägen. Unter Tyrwhitts Ägide konnte das Netzwerk ihre Vorstellungen gar auf die Agenda des UN Environmental Programme (1972) setzen.

Eine Bilanz von Shoshkes’ Tyrwhitt-Biographie fällt ambivalent aus. Auf der einen Seite besticht die Studie dadurch, dass sie die Bedeutung einer lange vergessenen Regionalplanerin für die transnationalen Diskurse herausstellt. Auch schafft es die Autorin durch ihre strikt chronologische Erzählweise zu zeigen, dass internationale Karrieren in den Nachkriegsjahrzehnten abseits des UN-Beamtenstabs viel weniger schillernd und oftmals von Prekarität gekennzeichnet waren. Schließlich hilft Shoshkes’ dichte Beschreibung von Tyrwhitts Projekten nachzuvollziehen, dass sich die Globalisierung spezieller Konzepte auf das Handeln bestimmter Personen zurückführen lässt – ein Gedanke, der in der Globalgeschichte noch recht neu ist.2

Auf der anderen Seite offenbaren sich in Shoshkes Arbeit zahlreiche Schwächen. Undeutlich bleibt, warum die Autorin die Jahre 1941 bis 1956 in den Mittelpunkt gerückt hat und welche Folgen diese Schwerpunktsetzung für ihr Argument hat. Auch fällt der merkwürdig unreflektierte Gebrauch des Adjektivs „global“ negativ auf. Hier hätte diskutiert werden können, was für einen Modus von Globalität die Karriere der Britin repräsentiert und warum die vermeintlich globale Expertin hauptsächlich in Asien aktiv war, aber beispielsweise nie in Lateinamerika einen Auftrag annahm. Schließlich muss betont werden, dass es die Autorin vor allem im Mittelteil der Studie mit ihrer chronologischen Herangehensweise nicht schafft, den Stoff sinnvoll zu bündeln. Über weite Strecken belässt sie es bei einer Aufzählung der unterschiedlichen Vortragsreisen, Anstellungen und Forschungsprojekte ohne klaren analytischen Fokus und Bezug zu übergeordneten Fragestellungen wie beispielsweise nach dem Verhältnis zwischen Europa und Amerika nach 1945 oder den Genealogien des „globalen New Deals“ der UN. Die Studie benötigt an diesen Stellen einen aktiven Leser, der selber Themenstränge identifiziert und Zusammenhänge herstellt. Obwohl die Biographie von Tyrwhitt neues Licht auf einige Aspekte der Geschichte von Stadtplanung und Entwicklungshilfe wirft, beschleicht den Rezensenten doch am Ende seiner Lektüre der Eindruck, dass aus der Lebensgeschichte dieser Frau noch mehr hätte gemacht werden können.

Anmerkungen:
1 Eric J. Engstrom / Volker Hess / Ulrike Thoms, Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: dies. (Hrsg.), Figurationen des Experten. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2005, S. 7–19.
2 Dazu demnächst: Debora Gerstenberger / Joël Glasman (Hrsg.), Techniken der Globalisierung. Globalgeschichte meets Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2015 (im Erscheinen).

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