G. Rittersporn: Anguish, Anger, and Folkways in Soviet Russia

Cover
Titel
Anguish, Anger, and Folkways in Soviet Russia.


Autor(en)
Rittersporn, Gábor T.
Reihe
Pitt Series in Russian and East European Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 396 S.
Preis
$ 27.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietrich Beyrau, Institut für osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Universität Tübingen

Der Band fasst verstreut erschienene Aufsätze Rittersporns seit den 1990er-Jahren zusammen. Der Rezensent hat nicht geprüft, ob sie wortwörtlich übernommen, erweitert oder verändert worden sind. Sie lassen sich als Fortsetzung und weitere Ausdifferenzierung seiner ersten großen Monographie lesen.1 Zusammengefasst kann man hier noch einmal die wichtigsten Thesen und Argumente Rittersporns zu den Diskussionen um das Russland Stalins nachverfolgen. In der Einleitung bezeichnet er sich als Anhänger eines „konservativen Revisionismus“ (S. 3). Gemeint ist damit, dass er Sozialgeschichte, wie sie von den sogenannten Revisionisten der 1980er-Jahre vertreten wurde, als sozialhistorische Unterfütterung der politischen Geschichte versteht. In seinem Fall bedeutet dies auch, dass er an den zentralen Hypothesen zu den Ursachen und Mechanismen des Terrors festhält, wie sie seit den späten 1980er-Jahren von ihm selbst, J. Arch Getty, Ju. N. Zukov und anderen vertreten wurden: Stalin gilt als schwacher Diktator und Getriebener; sein Umfeld und die „Apparate“ werden als von Ängsten geplagt vorgestellt, Angst vor geplanter, aber nicht realisierter Reform der Sowjetwahlen, vor den Kulaken, vor den Gläubigen et cetera Verschwörungstheorien und Jagd auf Feinde und Spione aller Art werden als Ausdrucksformen einer solchen Angst gedeutet – eine Wald- und Wiesen-Psychologie, die recht spekulativ bleibt. Sie könnte durch beliebige, auch nicht unbedingt überzeugendere psychologische Deutungen ersetzt werden, wie zum Beispiel durch Jörg Baberowskis Präsentation Stalins als „bösartigen Psychopathen“, der Lust an der Gewalt fand.2 Obwohl Binners, Bonwetschs und Junges Monographien zum Terror genutzt werden, findet keine Auseinandersetzung mit ihrer Präsentation der Apparate als „willing executioners“3 statt und auch nicht mit Oleg Chlewnjuks Thesen von Stalin als dem zentralen Initiator und Akteur des Terrors.4

Die Stärken des Sammelbandes liegen im zweiten Teil „Anger“ und im dritten Teil über „Folkways“. Im zweiten Teil geht es um das Agieren verschiedener Gruppen im sowjetischen System: einerseits um die Herausforderungen, denen sich die oft überforderten „Apparate“ gegenübersahen – Kontrolle und Disziplinierung der Jugend und der Arbeitskräfte, andererseits um Verhaltensweisen und Strategien von Jugendlichen in einem Umfeld, in dem Gewalt zur Routine gehörte, von Parteimitgliedern und Engagierten, die unter der Diskrepanz zwischen hehren sozialistischen Idealen und den Realitäten litten, aber sich doch irgendwie einrichteten.

Das „Sich Einrichten“ in der Planwirtschaft und in der Parteidiktatur ist das zentrale Thema des dritten Teils. Vielleicht sind „folkways“ am besten mit Lebensweise oder routinierten Verhaltensweisen zu übersetzen. Hier wird das breite Spektrum an politischen und weniger politischen Initiativen und Organisationsversuchen – von Schülerclubs bis zu Rjutins Plattform – vorgestellt, gebrochen immer in der Überlieferung der „Organe“ oder anderer amtlicher Stellen. Dazu gehörte auch ein gelegentlich eher „karnevalistischer“ Umgang mit dem Regime, wie er sich in Spottversen (tschastuschki), Anekdoten et cetera niederschlug und seinen Weg in die Archive fand. Alle diese Formen von Widerspruch, Spott oder einfach Initiativen auch jenseits des Politischen blieben in der Regel dem sowjetischen Normenkatalog verbunden, wurden aber von den Behörden misstrauisch registriert und oft genug verfolgt.

Ein zentraler Aspekt der Praktiken sind der Umgang mit der Planwirtschaft, die durch sie bestimmten Lebensweisen, die „Aneignung“ und Transformation planwirtschaftlicher und anderer Vorgaben durch die Akteure zu eigenem Nutzen. Dies geschah zumeist in Patronagebeziehungen, informellen Netzwerken, Tauschbeziehungen und Aushandlungsprozessen zwischen allen beteiligten Parteien. Daraus entstand eine spezifisch sowjetische Form von „moral economy“ (S. 272), die nicht auf monetärem, mithin „objektivierbarem“ Austausch, sondern auf Vertrauen und persönliche Beziehungen beruhte. Dies geschah nicht ohne Risiko; in der Stalinzeit konnten solche Beziehungen als „gruppowschtschina“ oder gar als Verschwörung stigmatisiert, oft genug lebensgefährlich werden. Am Beispiel der Fluktuationen in den Betrieben oder Jugendkriminalität wird das Gegeneinander staatlicher Kontroll-, Plan- und Strafwut einerseits und spontaner, nur mit höchst drastischen und willkürlichen Strafen halbwegs einzudämmenden Prozessen andererseits vorgeführt, ein Beleg für den wenig effizienten Staat.

In diesem Zusammenhang nimmt Rittersporn einmal mehr die Frage nach der Modernität der Sowjetunion als einem „gardening state“ auf. Können Verbrechen wie die Kollektivierung, der Terror, die Deportationen und der Gulag als „modern“ definiert werden, weil der Staat als Akteur des „social engineering“ auftritt? Nicht als erster verweist Rittersporn zu Recht darauf, dass all diese Maßnahmen ohne Expertise oder gar unter Ausschaltung der Experten durchgeführt wurden, insofern also trotz aller „modernen“ Ziele wenig von Modernität erkennen lassen, von moralischen Aspekten ganz abgesehen.

Das letzte Kapitel ist den Fragen nach Subjektivität und Identitäten unter den sowjetischen Bedingungen gewidmet. Es ist eine wenig systematische Auseinandersetzung mit den von Stephen Kotkin, Jochen Hellbeck und Igal Halfin aufgeworfenen Fragen nach dem „Selbst“ und seiner Artikulation insbesondere in der Stalinzeit.5 Zu Recht geht Rittersporn von der beträchtlichen sozialisierenden Wirkung dessen aus, was er als „Kulturindustrie“ bezeichnet, die ihre Botschaften gnadenlos in die Köpfe der Menschen hämmerte (S. 280f.). Dieses ideologische „Meta-Universum“ (S. 293) habe ein Eigenleben entfaltet. An zahllosen Beispielen – von Schülerinnen bis zu Schriftstellern – demonstriert er die unterschiedlichsten Kombinationen, in denen sich offizielle Normen – Parteigläubigkeit, Patriotismus, Feindmarkierung et cetera – mit kulturell überlieferten, privaten lebensweltlichen und interessegeleiteten Wünschen und Vorstellungen verbinden konnten. Hier stehen weder Staat und Partei als kollektive Akteure oder ihre Repräsentanten, sondern der Umgang der „Geführten“ mit deren Anforderungen im Zentrum des Interesses. Es geht um die „Aneignung“ und Anverwandlung und damit Veränderung der Vorgaben und Normen der Partei durch die Bevölkerung. Das ist sehr lehrreich und unterscheidet sich beträchtlich vom Bild des „gläubigen“ Subjekts, das Hellbeck und Halfin präsentiert haben. Man hätte sich in der Darstellung nur ein wenig mehr Stringenz und Systematik gewünscht – oder dem Autor einen guten Lektor.

Der Sammelband zerfällt in ältere Teile – über den Stalinismus und Terror. Sie präsentieren eher vergangene historiographische Positionen und würden so heute wohl nicht mehr geschrieben werden. Und es gibt empirisch gesättigte Teile, die der Vielfalt von Situationen und von Lebensentwürfen gerecht zu werden versuchen, wie sie auch im Stalinismus erlebt und gelebt wurden. Dabei wird immer mitbedacht, dass sie uns heute vor allem in der Brechung der „Organe“ überliefert und von den Normen der Zeit geprägt sind. Die gelegentlichen Ausflüge in die nachstalinschen Phasen gehen zwar zu Recht von der anhaltenden Wirkung des Stalinregimes aus, vernachlässigen aber doch zu sehr den Wandel nach 1945 bzw. nach 1953.

Anmerkungen:
1 Gábor T. Rittersporn, Simplifications staliniennes et complications soviétiques. Tensions socials et conflits politiques en U.R.S.S. (1933–1953), Paris 1988.
2 Jörg Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012, S. 21–23.
3 Rolf Binner / Bernd Bonwetsch / Marc Junge, Massenmord und Lagerhaft. Die andere Geschichte des Großen Terrors, Berlin 2009.
4 Oleg V. Chlevnjuk, Politbjuro. Mechanizmy politiceskoj vlasti v 1930e gody, Moskau 1996; zuletzt ders., Stalin: Zizn` odnogo vozdja, Moskau 2015 (Oleg V. Khlevniuk, Stalin: New Biography of a Dictator, New Haven et al. 2015).
5 Igal Halfin / Jochen Hellbeck, Rethinking the Stalinist Subject: Stephen Kotkin`s “Magnetic Mountain” and the State of Soviet Historical Studies, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1996), S. 456–463.

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