: Scherbakova, Irina (Hrsg.): Sibirien, Sibirien. Tagebuch eines Lageraufsehers. Berlin 2014 : Matthes & Seitz, ISBN 978-3-88221-092-7 287 S. € 24,90

: Muschick, Vytenė; Venclova, Tomas (Hrsg.): Aber der Himmel – grandios. . Berlin 2014 : Matthes & Seitz, ISBN 978-3-88221-387-4 207 S. € 19,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felicitas Fischer von Weikersthal, Historisches Seminar, Universität Heidelberg

“Wir alle leben theoretisch. Von theoretischer Grütze, theoretischem Fett und theoretischer Bekleidung.” (S. 104) Mit diesen wenigen Worten sind die kargen Lebens- und Arbeitsverhältnisse auf den Großbaustellen des Gulag bereits eindeutig umrissen. Theoretisch sollten die Häftlinge alle ein Dach über dem Kopf, adäquate Kleidung, einen begrenzten Arbeitstag und ausreichend Nahrung haben. Praktisch erreichten die ausgegebenen Rationen nie die offiziell festgelegte Höhe, so dass viele aufgrund des Kalorien- und Vitaminmangels an der Grenze zwischen Leben und Tod existierten. Millionen gingen elend in den Lagern zugrunde. Interessanterweise stammen die eingangs zitierten Worte jedoch nicht von einem ehemaligen Häftling und sie sind auch nicht auf die Gefangenen des Gulag gemünzt. Hier klagt vielmehr Ivan Čistjakov, freier Mitarbeiter der Wachmannschaften des Lagers zum Bau der Bajkal-Amur-Magistrale (BAMLag) sein Leid. Ivan Čistjakov, höchst wahrscheinlich um die Jahrhundertwende geboren, wurde Anfang der 1930er-Jahre als Armeeangehöriger an die Baustellen der BAM (vermutlich zwangs-)versetzt und als Kommandeur einer Lagerwachabteilung eingesetzt, eine Position, die weder beliebt noch prestigeträchtig war.

Obwohl Ivan Čistjakov zu den Kadern des Gulag zählte, fällt es schwer, ihn eindeutig als Täter einzuordnen. Zwar gibt er zu, in einigen Fällen verantwortlich dafür zu sein, dass ein Häftling zu Arrest oder einer zweiten Haftfrist verurteilt wurde, was in vielen Fällen einem Todesurteil gleichkam. Dennoch war Čistjakov kaum mehr als ein kleines Rädchen im Getriebe, das am Ende selbst zermahlen wird. Seinem zwischen 1935 und 1936 geführten Tagebuch vertraute er seinen Frust über die Lebens- und Arbeitsumstände an den Baustellen der BAM an, seine Kritik am System. Gleichzeitig durchzieht das Tagebuch die Angst vor der Denunziation und der Inhaftierung. Dabei ist Ivan Čistjakov weniger Fehlverhalten anzulasten als vielmehr rationales Handeln, was aber den Realitäten der BAM und des wirtschaftlichen wie politischen Systems widersprach. Tatsächlich wurde Čistjakov im Zuge des Großen Terrors repressiert und fiel – vermutlich in einem Strafbataillon oder auch als freier Rotarmist, wie die Herausgeberin Irina Scherbakowa meint – noch im Jahr 1941 an der Front. Somit zeugt das Tagebuch von der Irrationalität des sowjetischen Systems, in dem Rationalität, Verstand und Menschlichkeit ihren normativen Gehalt verlieren.

Ivan Čistjakov war kein typischer Vertreter der Wachmannschaften. Der Autor des Tagebuchs gibt sich gebildet, künstlerisch interessiert, während ein Großteil der Wachmannschaften aus eher einfachen Verhältnissen stammte und kaum über eine weiterführende Bildung verfügte. Dies bedeutete gleich eine zweifache Isolation für den Autor: räumlich durch die Abgeschiedenheit seines Einsatzortes und persönlich durch den Mangel an ebenbürtigen Gesprächspartnern. Auch das Verhältnis zu den Häftlingen bleibt in den Tagebucheinträgen distanziert bis gespannt. Čistjakov ärgert sich über das Verhalten der Gefangenen ihm gegenüber: sie „wollen nicht verstehen, dass man sich menschlich zu ihnen verhält“. (S. 81) Insbesondere die häufigen Fluchtversuche zermürben Ivan Čistjakov und verhärten seine Einstellung gegenüber den zeki, wie er die Inhaftierten entsprechend der Behördensprache nennt. Die Häftlinge genießen in seinen Augen Narrenfreiheit, während ihm bei jeder falschen Handlung die 3. Abteilung und damit eine Strafverfolgung droht. Ohnmächtig muss er etwa mit ansehen, wie eine ehemalige Arbeitsleiterin totgeschlagen wird, wie sich die zeki prügeln. Ein Eingreifen ist ihm untersagt. Insbesondere auf die inhaftierten Frauen, zumeist wohl Kriminelle und Prostituierte, schaut Čistjakov beinahe mit Ekel: „Wie verdammt tief Frauen sinken können.“ (S. 60) Dennoch mischt sich in seine eher negative Darstellung der Inhaftierten die Einsicht, dass die Lager „für die meisten […] keine Besserungsarbeitslager sind“ (S. 71) sondern eher ein „tiefer Schlaf, abscheulicher, wüster Traum“ (S. 80) und dass Arbeitsverweigerung wie auch Flucht aus den Lebens- und Arbeitsbedingungen resultieren und damit auf die Lagerverwaltung bzw. das System zurückfallen.

Nur selten scheint Mitleid durch Čistjakovs Bericht hindurch, etwa wenn er die Lebensumstände im Lager beschreibt: „Ach, Schiet, Leben! Warum verhöhnst du die Menschen. Nackte Holzpritschen, überall Ritzen, Schnee auf den Schlafenden, kein Brennholz. […] Die Lageradministration kümmert sich nicht um die Menschen.“ (S. 48f.) In dieser Hinsicht trifft sich in seiner Wahrnehmung sein Schicksal mit dem der Häftlinge. Auch er selbst lebt – wie im Übrigen viele der in die Lager versetzten Militärangehörigen1 – in äußert begrenzten Wohnverhältnissen, hat nach einer Verlegung oft wochenlang keine anständige Unterkunft. Er fühlt sich von seinen Vorgesetzten und der Lagerverwaltung verraten: „Sie werfen dich weg, wie unnütz, wie nicht zu gebrauchen.“ (S. 62f.)

Die systemimmanente Verachtung des menschlichen Lebens bekommt auch Dalia Grinkevičiūtė zu spüren. Sie wird im Juni 1941 mit ihrer Familie als Angehörige der litauischen Elite nach Sibirien deportiert, wovon sie in ihren Memoiren „Aber der Himmel – grandios“ eindrucksvoll Zeugnis ablegt. Die 2014 auf Deutsch erschienene Version beruht auf den ursprünglichen Aufzeichnungen, welche, 1949/50 verfasst und im Garten des Elternhauses vergraben, erst 1991 wiederentdeckt wurden. Die 1987 verstorbene Autorin war zu diesem Zeitpunkt bereits inner- wie außerhalb Litauens als Dissidentin bekannt, unter anderem aufgrund der Veröffentlichung einer zweiten Fassung der Memoiren, die sie mit weitaus größerem Abstand 1974 niedergeschrieben hatte. Während diese zweite Version wesentlich politischer, aber auch analytischer und systemkritischer ist, besticht die ältere Fassung durch Emotionalität und politische Unbeflecktheit. Durchaus stehen das auf Betrug und Diebstahl basierende Sowjetsystem und die „systematische Vernichtung von Menschen“ (S. 161) im Winter 1941/42 am Pranger. Der Schwerpunkt der Beschreibung liegt jedoch auf der exakten Beobachtung der unterschiedlichen menschlichen Verhaltensweisen unter lebensbedrohlichen Extrembedingungen: „Im Kampf ums Überleben und im Angesicht des Todes wird jeder, wer er wirklich ist.“ (S. 133)

Entgegen der geläufigen Darstellung und entgegen der Aussagen von Tomas Venclova im Nachwort kommt Dalia Grinkevičiūtė mit ihrer Familie 1941 nicht in ein Lager des Gulag, sondern erreicht nach einer langen entbehrungsreichen Fahrt das Lena-Delta kurz vor der Laptewsee. Hier sollen die Zwangsdeportierten als „Exilsiedler“ (ssylnoposelenzy) aus dem Nichts und ohne ausreichend Materialien eine Siedlung in der polaren Einöde aufbauen. Als potentiell besonders gefährlich eingestuft, unterschied sich die gesellschaftliche Stellung der „Siedler“ nur geringfügig von derjenigen der Gulag-Häftlinge. Die Deportierten besaßen keinerlei bürgerliche Rechte, sie durften sich nicht von der Siedlung entfernen und mussten Zwangsarbeit leisten. Als „Freie“ erhielten sie Lebensmittelkarten zur Selbstversorgung. Die notdürftig zusammengezimmerten Baracken hielten kaum den extremen Wetterbedingungen stand und versanken einen Großteil des Jahres im Schnee. Im Frühling und Herbst, stand das Wasser knöcheltief. Die dürftigen und eintönigen Lebensmittel deckten nicht einmal ansatzweise die Grundversorgung, alle litten an Hunger und aufgrund der Mangelernährung, der unhygienischen Zustände und der Kälte an Durchfall, Skorbut, Typhus, Erfrierungen. Für Dalia Grinkevičiūtė wird das kümmerliche Mittagessen, das aus Wasser und einem Stück Brot besteht, zu dem „glücklichste[n] Moment am Tag, ich warte so sehr auf ihn, im Schlaf träume ich davon!“ (S. 54). Der Gedanke an Essen bestimmt einen Großteil der Gespräche. Neidvoll blickt das ewig hungernde junge Mädchen auf eine Brigade von Häftlingen, die neben ihr arbeitet: „Wattejacken und -hosen, warme Stiefel und Pelzhandschuhe. […] Die Gesichter dieser Häftlinge sind rot und rund. Man sieht ihnen an, dass sie satt sind.“ (S. 130f.) Es ist dies sicherlich ein durch den extremen Hunger des Winters 1941/42, in dem das junge Mädchen den Hungertod vieler Mitdeportierter erleben musste, getrübter Blick. Denn auch die Häftlinge litten insbesondere in den Kriegsjahren unter chronischer Unterversorgung.

Insgesamt wurden in den wenigen Juni-Tagen 1941 circa 19.000 Litauer als angebliche Klassenfeinde deportiert, die Männer in die Lager des Gulag verbracht und Frauen, Kinder und Alte in der lebensfeindlichen Umgebung des äußerten Sibiriens ohne ausreichend Ausrüstung und Versorgung angesiedelt. Die 14-jährige Dalia Grinkevičiūtė zählt zu den circa 5.500 deportierten Kindern und Minderjährigen,2 die besonders unter der Kälte, dem Hunger und den physischen Anstrengungen litten. Dies scheint auch in Grinkevičiūtės Text durch, der von den Herausgebern mit Fotografien aus der Zeit vor dem Krieg kontrastiert wird. Dadurch tritt der Verlust der Kindheit, des schützenden Elternhauses und die zerstörerische Kraft des stalinistischen Systems umso deutlicher zutage. Ein Mädchen, gerade noch im „Frühling meines Lebens“, das noch vor kurzem vor überschäumender Lebensfreude zu platzen schien („Ach wie schön ist es zu leben!“, S. 75), verliert über Nacht alles Kindliche und Unbeschwerte, als sie mit der fortschreitenden Entmenschlichung und moralischen Zersetzung in der Extremsituation konfrontiert wird. Insbesondere die Beschreibung von Korruption, Egoismus und verschobener Moral angesichts der lebensfeindlichen Umgebung lässt die frühe Version der Memoiren in die Nähe der Erzählungen Warlam Schalamows rücken.

Zugleich riefen die Memoiren die Kritik anderer Überlebender hervor, widersprechen Grinkevičiūtės Darstellungen doch zentralen Narrativen. Erstens laufen sie mit ihren stark individualisierten Beobachtungen der heterogenen litauischen Gemeinschaft der Beschwörung einer ethnisch zusammengeschweißten Schicksalsgemeinschaft zuwider – ein Narrativ, das Grinkevičiūtė in der zweiten Fassung der Memoiren bedient hatte. Zweitens vermeidet die junge Autorin eine klare Trennung in Freund und Feind, denn es sind auch Deportierte, die sich bereichern oder zulasten der anderen leben. Drittens gibt sie Anhaltspunkte dafür, dass dem Sowjetstaat keine Tötungsabsicht im Sinne eines „Auschwitz ohne Öfen“ unterstellt werden kann. Im Frühjahr 1942 tritt mit der Ankunft des Arztes Dr. Samodurow die Wende ein, die Kranken werden verlegt, alle wieder aufgepäppelt (S. 122f.).

Beide hier zu besprechenden Texte, so unterschiedlich ihre Autoren und ihre Entstehungs- und Überlieferungsumstände auch waren, eint die Kritik an einem System, das weder in der Lage war, die Großbaustellen mit den nötigen Materialien auszustatten, noch die Häftlinge, Zwangsdeportierten oder gar eigenen Leute angemessen zu versorgen. „Verknöcherung, Bürokratismus oder Schädlingstätigkeit“ (Sibirien, Sibirien, S. 57) führen zu Überfluss an der einen Stelle und Mangel an der anderen. Vor dem Hintergrund dieser Misswirtschaft und Unterversorgung verschiebt sich für beide Autoren die moralische Grenze. Arbeitsverweigerung, Diebstahl, die Anbiederung mancher Frauen an Mitarbeiter der Lageradministration werden legitimiert durch die unmenschlichen, vom System geschaffenen Umstände. Beide Autoren dürsten nach geistiger Herausforderung. Beide verfallen angesichts der Lebens- und Arbeitsumstände in melancholische Depression. Während Dalia Grinkevičiūtė zumindest kurzfristig seelische und körperliche Befreiung während des Schulunterrichtes sowie Bestätigung und Anteilnahme durch Leidensgenoss/innen findet, wird Ivan Čistjakov durch die vergebliche Suche nach einem ebenbürtigen Gesprächspartner oder geistiger Nahrung zermürbt. Allein der Anblick der Natur verschafft ihm Momente der Ruhe: „Aber die Natur bezaubert durch ihre Schönheit und Wildheit“ (Sibirien, Sibirien, S. 60) – eine Natur, deren unmittelbarer Schönheit sich selbst die junge Dalia Grinkevičiūtė nicht verschließen kann, wie bereits der deutsche Titel ihrer Memoiren veranschaulicht.

Im starken Gegensatz zu den Naturbeschreibungen steht die bildhafte Beschreibung der während der harten physischen Arbeiten durchlittenen Höllenqualen: „Mein Körper krümmt sich von selbst nach unten, meine Hände berühren fast den Boden. Ein Schritt, noch ein Schritt … das Seil schnürt meine linke Schulter ab, mein Herz wird wie von einem Schraubstock zusammengedrückt, alles verschwimmt vor meinen Augen: Der Schnee, der Berg – die Umrisse werden eins. Gott, hilf mir, diesen Stamm nach oben zu bringen, nur diesen einzigen“ (Aber der Himmel, S. 53). Mit Beschreibungen wie diesen setzt Dalia Grinkevičiūtė all den durch Stalin repressierten Litauern und der durch Stalin zerstörten Jugend ein erschütterndes Denkmal. Ivan Čistjakovs Tagebuch überzeugt hingegen durch die Unmittelbarkeit und die Tristesse des Alltags jenseits des Stacheldrahtes. Er erweitert den Blick auf die Lager um die Perspektive der involvierten Außenansicht. Das Tagebuch Ivan Čistjakovs und die Jugenderinnerungen der Dalia Grinkevičiūtė sind aber vor allem hervorragende Quellen für die Emotions- und die Kulturgeschichte vor dem Hintergrund von Extremsituationen, totalitärer Herrschaft und den damit einhergehenden Normverschiebungen. Damit liegen hier zwei ansprechend edierte Quellen zur Geschichte der stalinistischen Repressionen vor, die es verdienen, von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden.

Anmerkungen:
1 Galina M. Ivanova, Wie und warum konnte der Gulag entstehen?, in: Schwarzbuch Gulag. Die sowjetischen Konzentrationslager, hrsg. von I.W. Dobrowolski, Graz/Stuttgart 1993, S. 13–125, hier S. 92f.
2 Tomas Balkelis, Lithuanian Children in the Gulag. Deportations, Ethnicity and Identity. Memoirs of Children Deportees, 1941–1952, in: Lituanus. Lithuanian Quarterly Journal of Arts and Sciences 51,3 (2005) <http://www.lituanus.org/2005/05_3_2Balkelis.htm> (27.11.2015).

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