W. Hedeler: Nikolai Bucharin

Cover
Titel
Nikolai Bucharin. Stalins tragischer Opponent. Eine politische Biographie


Autor(en)
Hedeler, Wladislaw
Erschienen
Berlin 2015: Matthes & Seitz
Anzahl Seiten
639 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Oberender, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Im Moskauer Museum für Moderne Geschichte Russlands, dem früheren Revolutionsmuseum, gibt es ein Exponat, das nicht recht zu den anderen Ausstellungsstücken passen will. Es ist ein Malkasten. Der Kasten enthält eine Palette mit eingetrockneten Farbresten, mehrere Pinsel und ein paar zerdrückte Farbtuben, auf denen man noch den Namen eines bekannten deutschen Herstellers von Künstlerfarben erkennen kann. Dieser Malkasten gehörte einst Nikolai Bucharin (1888–1938). In den 1920er-Jahren zählte Bucharin zum Führungszirkel der Sowjetunion. Nach Lenins Tod galt er als bedeutendster Theoretiker der Kommunistischen Partei. Zunächst Verbündeter, später jedoch Kritiker und Widersacher Stalins, erlitt Bucharin das Schicksal vieler prominenter Altbolschewiki: Politische Marginalisierung, physische Vernichtung, Tilgung aus der Geschichte. Bucharins persönliche Hinterlassenschaft beschränkt sich auf ein Objekt ohne politische Konnotation, das an eine der musischen Leidenschaften dieses vielseitig interessierten Mannes erinnert, die Malerei. Der Malkasten verweist auf den privaten Bucharin, den Dichter, Tierfreund, Alpinisten. Doch wie verhält es sich mit dem politischen Bucharin, dem Revolutionär, Parteiführer und Theoretiker? Welche Spuren hat er in der Geschichte hinterlassen, und welche historische Bedeutung kommt ihm aus heutiger Sicht zu?

Bucharin, der vor allem als leidenschaftlicher Verfechter der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) in Erinnerung geblieben ist, lässt sich mit Lew Trotzki vergleichen. Noch heute glauben Trotzkis Erben, die Geschichte der Sowjetunion hätte einen anderen, „besseren“ Verlauf genommen, wenn sich Trotzki gegen Stalin durchgesetzt hätte. Auch Bucharin steht seit langem für eine vermeintliche Alternative zu Stalins „Revolution von oben“ (forcierte Industrialisierung, Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, Kulturrevolution). Deshalb hat er immer wieder das Interesse der Geschichtswissenschaft auf sich gezogen. Unter den westlichen Historikern, die Bucharins Leben und politische Tätigkeit erforschen, nimmt Wladislaw Hedeler eine Sonderstellung ein. Hedelers intensive Beschäftigung mit Bucharin reicht bis in die frühen 1980er-Jahre zurück. Nach mehreren Einzelstudien und zwei bibliographischen Kompendien hat Hedeler eine Bucharin-Biographie vorgelegt. Das ist in doppelter Hinsicht bedeutsam, zum einen in Hinblick auf die Bucharin-Forschung selbst, zum anderen deshalb, weil die politische Biographik innerhalb der deutschen Sowjetunion-Forschung noch immer eine marginale Rolle spielt. Jede neue biographische Arbeit ist daher zu begrüßen.

Die Biographie ist chronologisch angelegt und in acht Teile gegliedert, die einzelnen Abschnitten von Bucharins Lebensweg entsprechen. Ein Viertel des Textes entfällt auf die Jahre 1936 bis 1938. Die Ausführlichkeit, mit der Hedeler Bucharins letzte Lebensphase behandelt, vermisst der Leser bei vielen anderen Aspekten und Themen, seien sie politischer, seien sie privater Natur. Bucharins Privat- und Familienleben nach der Revolution wird ausgeblendet. Seine zweite und dritte Ehefrau finden erst am Ende des Buches Erwähnung, in einem Abschnitt über die Schicksale von Bucharins Angehörigen und Verwandten. Das ist symptomatisch für die gravierenden darstellerischen und inhaltlichen Defizite und Mängel des Buches. Trotz ihres stattlichen Umfanges ist die Biographie seltsam unergiebig. Über weite Strecken wirkt der Text wie eine unbearbeitete Rohfassung. Es springen zahllose Komma- und Rechtschreibfehler ins Auge. Mit dem Verzicht auf eine sorgfältige Bearbeitung des Manuskripts hat der Verlag sowohl dem Autor als auch den Lesern einen schlechten Dienst erwiesen. Zu den darstellerischen Schwächen gehören endlose Blockzitate, abrupte chronologische und thematische Sprünge innerhalb von Kapiteln, Diskrepanzen zwischen Kapitelüberschriften und Kapitelinhalten sowie ausuferndes Name-Dropping. Im Buch kommen Hunderte von Personen vor, die Hedeler in den meisten Fällen nicht angemessen einführt und vorstellt. Gelegentlich gleitet Hedeler in den Sprachduktus der DDR-Geschichtswissenschaft ab: Bucharin „vermochte es nicht, die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen wissenschaftlich exakt zu bestimmen, konnte nicht zu einer eindeutigen Definition der Triebkräfte der gesellschaftlichen Entwicklung gelangen“ (S. 93).

Die inhaltlichen Schwächen, die bei der Lektüre zu Tage treten, lassen sich schon in der Einleitung erahnen. Hedeler formuliert keinerlei Fragestellungen, die das Buch strukturieren könnten. Es fehlen Überlegungen, was eine politische Biographie ausmacht. Von einer Anbindung des Buches an den aktuellen Forschungsstand kann nur in Ansätzen die Rede sein. Der Blick ins Literaturverzeichnis offenbart eine irritierend selektive Rezeption der Sekundärliteratur zur sowjetischen Geschichte der 1920er- und 1930er-Jahre. Augenscheinlich existiert die westliche und russische Forschung der letzten 25 Jahre für Hedeler nicht. Das Hauptproblem besteht jedoch darin, dass das Buch keine politische Biographie ist, wie es der Untertitel ankündigt. Hedeler interessiert sich nur für Bucharins intellektuellen Werdegang und Wirken als marxistischer Theoretiker. Allerdings unterzieht er kaum eine von Bucharins zahlreichen Schriften einer eingehenden Analyse und kritischen Würdigung. Der Inhalt von Bucharins Broschüren und Artikeln bleibt in den meisten Fällen verschwommen. Selbst über das bekannte „ABC des Kommunismus“, das Bucharin während des Russischen Bürgerkrieges zusammen mit Jewgeni Preobrashenski verfasste, geht Hedeler mit wenigen Worten hinweg (S. 177). In den Kapiteln, die Bucharins Jugend und Leben im Exil behandeln, stehen theoretische Debatten innerhalb der russischen Sozialdemokratie im Vordergrund. Der junge Bucharin beteiligte sich an den Kontroversen zwischen Lenin, Georgi Plechanow und Alexander Bogdanow. Ob diese Dispute aus heutiger Sicht überhaupt noch von Belang sind, diese Frage hat sich Hedeler nicht gestellt. Auch in den Kapiteln über die Revolutions- und Bürgerkriegszeit und die 1920er-Jahre, die eigentlich den ergiebigsten Teil der Biographie ausmachen müssten, untersucht Hedeler fast ausschließlich Bucharins Tätigkeit als Publizist und Theoretiker. Das politische Geschehen der 1920er-Jahre kommt nur am Rande vor. Es entsteht kein aussagekräftiges und zusammenhängendes Bild von Bucharins politischen und sonstigen Aktivitäten.

Weder befasst sich Hedeler mit Bucharins Rolle in der Komintern-Führung, noch untersucht er Bucharins langjährige Tätigkeit als Chefredakteur der Parteizeitung „Prawda“. Von 1919 bis 1929 gehörte Bucharin dem Politbüro an. Die zahlreichen Debatten über Fragen der Innen-, Außen- und Wirtschaftspolitik, die das Politbüro in dieser Zeit führte, finden in Hedelers Darstellung nur schwachen Widerhall. Bucharins Beitrag zum Kampf gegen Trotzki und die linke Opposition bleibt ebenso unklar wie sein persönliches Verhältnis zu Stalin und dessen Gefolgsleuten (bis zu seiner Verhaftung Anfang 1937 wohnte Bucharin im Kreml). Hedeler sagt auch nichts über Bucharins Beziehungen zu den beiden anderen Wortführern der sogenannten rechten Abweichung, Regierungschef Alexej Rykow und Gewerkschaftschef Michail Tomski, die sich Ende der 1920er-Jahre ebenfalls gegen Stalin stellten. Die Vernachlässigung des historischen Kontextes macht sich immer dann besonders negativ bemerkbar, wenn Hedeler Bucharins Veröffentlichungen zu Wirtschaftsfragen behandelt. Auf dem wirtschaftshistorischen Auge ist Hedeler vollkommen blind. Man kann keine Bucharin-Biographie schreiben, ohne auf die wirtschaftliche Entwicklung der Sowjetunion zwischen 1921 und 1928/29 einzugehen. Hedeler analysiert Bucharins Texte losgelöst vom tatsächlichen wirtschaftlichen Geschehen. Die zahlreichen Wendungen der Landwirtschaftspolitik, an denen auch Bucharin seinen Anteil hatte, werden nicht greifbar. Bucharins berühmter Appell an die Bauern „Bereichert euch!“ (April 1925) und die Kampagne „Mit dem Gesicht zum Dorf“ (Licom k derevne) finden kein einziges Mal Erwähnung.1 Anstatt sich um eine eigenständige Position zur NÖP zu bemühen, übernimmt Hedeler einfach Bucharins Sicht, die NÖP ermögliche das „Hineinwachsen in den Sozialismus“. War das eine realistische Annahme – oder nicht eher Wunschdenken? Bei der Lektüre fallen ständig Punkte auf, die unklar bleiben oder ungenügend ausgeführt werden: Wo war und was tat Bucharin in den Tagen des Oktoberumsturzes? Was hat es mit der Angabe auf sich, Bucharin sei 1922 im Prozess gegen die Sozialrevolutionäre „als Verteidiger“ aufgetreten (S. 215)? Worum ging es in dem Vortrag, den er 1936 während eines Paris-Aufenthaltes an der Sorbonne hielt (S. 403)?

Unbefriedigend ist das Buch auch deshalb, weil Hedeler der Frage ausweicht, wie Bucharin als Mensch und politischer Akteur einzuschätzen ist. Hedeler versucht sich nicht an einer pointierten Charakterskizze oder einem Psychogramm seines Protagonisten, auch nicht an einer nüchternen Bewertung von Bucharins Fähigkeiten. Er steht Bucharin auffallend unkritisch gegenüber. Eine Tendenz zur Idealisierung und Verklärung lässt sich nicht übersehen. Hedeler stilisiert Bucharin zum „eigentlichen Testamentsvollstrecker“ Lenins, erhebt ihn in den Rang eines „Politökonomen“, „Philosophen“ und „Gesellschaftswissenschaftlers“. Aber war Bucharin wirklich ein ernst zu nehmender Politiker, Theoretiker und Wissenschaftler – oder nicht eher ein genialer Dilettant, der von allem etwas konnte, malen, dichten, philosophieren, über Ökonomie räsonieren? Wie die meisten prominenten Altbolschewiki, die nach der Revolution an die Schalthebel der Macht gelangten, war Bucharin ein Amateur und Autodidakt, ein Mann ohne Beruf und praktische Arbeitserfahrung. Bucharin kannte das Wirtschaftsleben nicht aus eigener Anschauung; er hat nie eine Fabrik, eine Bank, einen Kontor von innen gesehen, von einem Bauernhof ganz zu schweigen. Ihm fehlte der fundierte technisch-ökonomische Sachverstand, wie ihn nur wenige Parteiführer besaßen, etwa Leonid Krasin (Ingenieur, Betriebsdirektor) und Grigori Sokolnikow (promovierter Volkswirt, Finanzfachmann). Bucharin, der vor dem Ersten Weltkrieg ein wenig herumstudiert hatte, war kein Wissenschaftler. Aufgrund seiner vielen Funktionen hatte er in den 1920er-Jahren gar keine Zeit für wissenschaftliche Forschungen. Hedeler hätte untersuchen müssen, wie Bucharin die Arbeiten sowjetischer Ökonomen und Agrarexperten jener Zeit rezipierte und für politische Zwecke nutzte. Bucharins Beziehungen zum Wissenschaftsbetrieb beleuchtet Hedeler aber ebenso wenig wie andere Aspekte von Bucharins sozialer Vernetzung.

Es kommt für den Leser nicht überraschend, dass Hedeler die Ansicht vertritt, Bucharin stehe für eine „Alternative zu Stalins Kurs, vielleicht die einzig wirkliche Alternative, die es in der Geschichte der UdSSR nach Lenins Tod gegeben“ habe (S. 288). Das glauben all jene, die der Meinung sind, im Rahmen der NÖP sei ein friedliches „Hineinwachsen“ in den Sozialismus möglich gewesen. Zweifel an dieser Sichtweise sind angebracht, heute wie schon in der Vergangenheit. Jüngst hat Stephen Kotkin im ersten Band seiner Stalin-Biographie zu bedenken gegeben, dass die Bolschewiki 1928/29 nicht vor der Wahl „Stalin oder Bucharin?“ gestanden hätten. Bucharin habe keine echte Alternative zu Stalin verkörpert, weder in persönlicher noch in programmatischer Hinsicht. Ihm habe alles gefehlt, was nötig gewesen wäre, um Stalin zu verdrängen und zu ersetzen, Machtinstinkt, Führungsstärke, eine breite Anhängerschaft in der Partei. Die Bolschewiki hätten vor einer ganz anderen Wahl gestanden, als ihnen gegen Ende der 1920er-Jahre klar geworden sei, dass der Sozialismus, der Gegenentwurf zur kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, nicht von selbst Gestalt annehmen wollte: Entweder Preisgabe ihres Herrschaftsanspruchs, ihrer ideologischen Obsessionen und ihres Modernisierungsprogrammes – oder eine gewaltsame Umgestaltung der sozioökonomischen Verhältnisse, wie sie Stalin vorschlug.2 Kotkins Überlegungen sind überzeugender als Hedelers Versuch, Bucharin ein weiteres Mal als Alternative zu Stalin ins Gespräch zu bringen.

Als Ergebnis einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit Nikolai Bucharin ist Hedelers Biographie eine herbe Enttäuschung. Erfordert die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem historischen Akteur wie Bucharin neben kritischer Distanz nicht auch ein gewisses Maß an Mut zum Ikonoklasmus und zur Respektlosigkeit? Ist der ernste und pietätvolle Tonfall, in dem Hedeler über russische Marxisten und ihre Werke schreibt, in unserer heutigen Zeit noch angebracht? Bucharins Leben bietet den Stoff für eine spannende Geschichte über Aufstieg und Fall der linksradikalen russischen Intelligenz, über die Selbsttäuschung und ideologische Verblendung einer ganzen Generation. Wladislaw Hedelers Bucharin-Biographie ist eine vertane Chance. Als Referenzwerk für den wissenschaftlichen Gebrauch kommt sie nicht in Betracht. Das Buch überzeugt weder als politische Biographie noch als Studie über den Theoretiker Bucharin. Auf der vorletzten Seite des Schlusskapitels erfährt der Leser zu seiner Überraschung, dass das Buch ungeachtet seines Umfanges lediglich als „biographische Skizze“ zu verstehen ist, als Vorstudie zu einer „lückenlosen Biographie“ (S. 542). Ob es eine solche Biographie jemals geben wird, ist zweifelhaft. Wer soll sie schreiben? Wie wahrscheinlich ist es, dass sich ein anderer Historiker so intensiv mit Bucharin befassen wird, wie es Hedeler getan hat? Am Ende dieser Rezension steht der Wunsch, dass in der deutschen Sowjetunion-Forschung eine Diskussion über konzeptionelle und darstellerische Aspekte der politischen Biographik beginnen möge. Die Schwächen und Mängel von Wladislaw Hedelers Bucharin-Biographie sind auch der Tatsache geschuldet, dass eine solche Diskussion bisher nicht geführt wurde.

Anmerkungen:
1 Siehe dazu Markus Wehner, Bauernpolitik im proletarischen Staat. Die Bauernfrage als zentrales Problem der sowjetischen Innenpolitik 1921–1928, Köln 1998.
2 Stephen Kotkin, Stalin. Band 1: Paradoxes of Power, 1878–1928, New York 2014, S. 724–739.

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