Sächsische Akademie der Künste (Hrsg.): Labor der Moderne

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Titel
Labor der Moderne. Nachkriegsarchitektur in Europa / Laboratory of Modernism. Post-war architecture in Europe


Herausgeber
Sächsische Akademie der Künste
Erschienen
Anzahl Seiten
216 S., 195 Abb.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jana Fuchs, Imre Kertész Kolleg, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Um effektiven Denkmalschutz zu betreiben, kommt es auf innovative Kommunikationsstrategien an. Das könnte man nach der Lektüre der letzten beiden Aufsätze des Sammelbandes „Labor der Moderne“ meinen, die bezüglich der Erhaltung des architektonischen Erbes der Nachkriegszeit hoffnungsfroh stimmen. Am Beispiel Wrocławs wird gezeigt, wie durch das Engagement einiger Architekten das öffentliche Interesse für ein zuvor unbeliebtes Ensemble der Nachkriegsmoderne – das zwischen 1968 und 1978 errichtete und nun dringend zu renovierende Viertel am Plac Grunwaldzki – enorm gesteigert werden konnte. Visualisierungen der geplanten Renovierung wurden auf einer Ausstellung präsentiert, welche die Architektur darüber hinaus auf verschiedene Weise ungewöhnlich kontextualisierte. Dass trotz der gestiegenen Aufmerksamkeit und des guten Willens der Stadtverwaltung die Finanzierung des behutsamen und „kritischen Weiterbauens“ bisher nicht gesichert ist, bleibt als bitterer Nachgeschmack.

Ein weiterer Schritt, das Verständnis für die Architektur der Nachkriegsmoderne zu erweitern, ist diese handliche Übersichtsdarstellung. Der gesamteuropäische Ansatz des Bandes ist sicher lobenswert, doch zugleich mag die Frage aufkommen: Ist ungefähr parallel nicht schon ein sehr ähnlicher Sammelband erschienen?1 Ja und nein. Ja, weil sich die Titel ähneln und sich die Inhalte an manchen Stellen überschneiden. Nein, weil sich die jeweilige Blickrichtung unterscheidet. Denn der Ansatz des (sehr viel seitenstärkeren) anderen Sammelbandes „Wiederaufbau europäischer Städte“ liegt vor allem auf der transnationalen Erfahrungsgeschichte, selbst wenn rund ein Drittel dem „Wiederaufbau in der Moderne“ gewidmet ist.2 Der Band der Sächsischen Akademie der Künste hingegen nimmt dezidiert eine architekturhistorische und denkmalpflegerische Perspektive ein. So fällt das „Bemühen um ein aufgeklärtes Weiterbauen an der europäischen Stadt“ (S. 7) hier praxisnäher aus – nicht zuletzt deshalb, weil der zeitliche Untersuchungsrahmen bis in die Gegenwart hineinreicht.3 Weniger erfreulich ist indes die relativ große Schnittmenge der Fallbeispiele in beiden Sammelbänden. So bietet der hier besprochene Band jeweils vier Aufsätze zu Deutschland (das heißt zur Bundesrepublik sowie zur DDR) und zur Volksrepublik Polen, und bis auf die Beiträge über die Tschechoslowakei (Brünn und Bratislava) sowie die Ukraine (Kiew) finden sich alle anderen Fallbeispiele auch in „Wiederaufbau europäischer Städte“: Frankreich, die Niederlande (Rotterdam), Italien und Spanien. Insbesondere ist als Desiderat anzumerken, dass in beiden Fällen Beispiele aus der Sowjetunion beinahe komplett ausgeklammert werden.4

Der Ansatz, über die Teilung des Kalten Kriegs hinweg Aufsätze zur Nachkriegsentwicklung der Architektur zusammenzutragen, ist sehr ergiebig. Auch wegen der Kürze der Texte lassen sich diese gut miteinander in Beziehung setzen, wobei sowohl Unterschiede als auch zum Teil vorher übersehene Parallelen deutlich werden. So ist es interessant, den Umgang mit vorgefundenem historischem Bauerbe im Nachkriegs-Italien, wo die Architekten eher behutsam vorgingen, etwa mit den Praktiken in sozialistischen Staaten wie der Volksrepublik Polen und der Sowjetrepublik Ukraine zu kontrastieren, da sich die jeweilige Berufung auf baukulturelle Traditionen architektonisch anders manifestierte und ideologisch anders fundiert wurde. Ein weiteres Beispiel einer gewinnbringenden parallelen Lektüre sind die großzügig angelegten Wiederaufbaupläne auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs, nämlich einerseits in Le Havre und Rotterdam sowie andererseits in Neubrandenburg und Białystok. Darüber hinaus wird durch die übergreifende Perspektive unterstrichen, dass „die Baugeschichten der ehemaligen Ostblockstaaten dringend ihren gleichberechtigen Platz in der europäischen Gesamtgeschichte [brauchen], um sie, wie auch ihre westlichen Pendants, nach ihren hoch spannenden Verwicklungen in die Konflikte des Kalten Kriegs befragen zu können“ (Wolfgang Kil, S. 49). Denn erst mithilfe solcher vergleichender Veröffentlichungen kann deutlich werden, dass die Moderne nicht nur deshalb ein übergreifend zu betrachtendes Phänomen ist, weil die gemeinsamen Anfänge in der Zeit vor der Teilung Europas liegen, sondern auch deshalb, weil die Architektenschaft ein über die Systemgrenzen hinweg gut vernetzter und mobiler Berufsstand war, wie zum Beispiel die Fallstudien für Brünn und Bratislava zeigen. Des Weiteren kann einer breiteren Öffentlichkeit so bekannt werden, dass in der Volksrepublik Polen „die Idee der Moderne mit einer Radikalität umgesetzt [wurde], von der die Planer in demokratischen Ländern nur träumen konnten“ (S. 187). In diesem Kontext verweist der Autor Arnold Bartetzky auf Kattowitz – „die heimliche Hauptstadt der Ostmoderne“ (S. 191) –, beschränkt sein Urteil für das übrige Volkspolen jedoch auf propagandistisch wichtige Repräsentativbauten.

In der Vielfalt der vorgestellten Beispiele liegt allerdings insofern ein Problem, als die Ansätze der einzelnen Beiträge größtenteils sehr verschieden sind. Einige Texte gehen auf die gesamtstaatliche Situation ein, während andere sich detailreich mit einzelnen Städten oder gar mit Ensembles wie dem Boulevard Chreščatyk in Kiew auseinandersetzen. Darüber hinaus werden die Beispiele unterschiedlich ausführlich und überzeugend eingebettet; sie liegen zwischen dem einen Extrem wie in Carlos García Vázquez’ Aufsatz zu Spanien, der das Hauptaugenmerk auf die sozioökonomische Kontextualisierung legt, und der Aneinanderreihung wichtiger Architekten und Bauwerke wie in Štefan Šlachtas Aufsatz zu Bratislava. Daher ist der Band teilweise nicht ganz ausbalanciert, was sich auch in den drei blumig betitelten Blöcken „Make it Big“, „Architektur als Spiegelbild“ und „Labor der Moderne“ widerspiegelt, die dem Werk keine nachvollziehbare Struktur verleihen. Dennoch hat der Sammelband einen erkennbaren roten Faden – dank der Prägnanz und der Zweisprachigkeit der Beiträge bietet er eine vorzügliche, reich bebilderte Einführung in die Architektur der Nachkriegsmoderne und ihre Rezeption.

Das Stichwort Rezeption leitet über zu einem weiteren Vorzug dieses Bandes. Denn aufgrund der langen Untersuchungsperspektive von 1945 bis heute lässt sich hervorragend zeigen, dass auch die Rezeption der Stadt verschiedene Phasen durchläuft, ebenso wie Baukunst und Städtebau selbst. Daraus folgt, dass das heutige Urteil leicht vorschnell sein kann, wenn die derzeitige Meinung absolut gesetzt wird und bestimmte Epochen aufgrund „vordergründiger Ressentiments“ (Engelbert Lütke Daldrup / Andreas Wolf, S. 6) rigoros abgelehnt werden. Die Grundannahme des Bandes lautet: Die Nachkriegsmoderne „ist in weiten Teilen ein wichtiger, wenn nicht unverzichtbarer Teil der europäischen Stadt“ und „ein einzigartiges Spiegelbild der politischen Entwicklung im Nachkriegseuropa“ (S. 7). Den Wert dieser Einsicht zu erkennen ist für Stadtplaner, Politiker genauso wie für Theoretiker durchaus relevant. Denn das Urteil der meisten Autoren zum Umgang mit dem architektonischen Erbe der Nachkriegszeit seit 1989/90 ist, abgesehen von dem eingangs erwähnten Beispiel aus Wrocław, eher pessimistisch. Viel – zu viel, so der Tenor der Aufsätze – ist schon abgerissen worden, und vieles wäre womöglich zu erhalten gewesen, wenn es eine ausführliche Debatte gegeben hätte. Werner Durths Urteil bezüglich des Mainzer Rathauses – eines 1970–1973 errichteten Bauwerks, das wegen seines schlechten Zustands und der drohenden Sanierungskosten seit einigen Jahren öffentlicher Kritik ausgesetzt ist – kann als gutes Fazit dieses Buchs dienen: Diskussionen über Bauwerke der Nachkriegsmoderne böten „die Chance, einerseits mit Blick auf die Bedingungen der Entstehungszeit ein neues Verständnis für die Besonderheit dieses Bauwerks zu vermitteln und andererseits berechtigte Kritik aufzunehmen“ (S. 24). Denn dass historische Gebäude behutsam modernisiert werden müssen, wenn sie weiterhin genutzt werden sollen, ist ebenfalls eine historische Konstante und eine dauerhafte Herausforderung.

Anmerkungen:
1 Georg Wagner-Kyora (Hrsg.), Wiederaufbau europäischer Städte / Rebuilding European Cities. Rekonstruktionen, die Moderne und die lokale Identitätspolitik seit 1945 / Reconstructions, Modernity and the Local Politics of Identity Construction since 1945, Stuttgart 2014.
2 Vgl. die Rezension von Leonie Treber, in: H-Soz-Kult, 16.10.2014, <http://www.hsozkult.de/review/id/rezbuecher-22432> (17.02.2015).
3 Vgl. für eine ausschließliche Beschäftigung mit dem Phänomen Ost-Moderne, insbesondere der Architektur der DDR: Mark Escherich (Hrsg.), Denkmal Ost-Moderne. Aneignung und Erhaltung des baulichen Erbes der Nachkriegsmoderne, Berlin 2012.
4 Für eine exzellent bebilderte Einführung in die Architektur der Sowjetmoderne vgl. Katharina Ritter (Hrsg.), Sowjetmoderne 1955–1991: Unbekannte Geschichte, Zürich 2012.

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