G. Briesewitz: Raum und Nation in der polnischen Westforschung

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Titel
Raum und Nation in der polnischen Westforschung 1918–1948. Wissenschaftsdiskurse, Raumdeutungen und geopolitische Visionen im Kontext der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte


Autor(en)
Briesewitz, Gernot
Reihe
Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau 32
Erschienen
Osnabrück 2014: fibre Verlag
Anzahl Seiten
562 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jonas Grygier, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder)

Die polnischen Westgebiete, also jene Territorien, die nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg durch internationale Abkommen von Deutschland in die polnische Staatlichkeit übergingen, gehören integral zur mental map in Polen und zum polnischen nationalen Identitätsdiskurs. Gebietslegitimierende Aktivitäten wurden nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur vom kommunistischen Regime und seinen Behörden in Angriff genommen; es beteiligten sich daran wesentlich auch andere, nicht-kommunistische Akteure. Eine der herausragenden Gestalten war der Historiker Zygmunt Wojciechowski und das von ihm zu kommunistischen Zeiten gegründete West-Institut (Instytut Zachodni) in Posen, dessen erster Direktor er wurde.1

Die damit zusammenhängenden Raumbilder von Polens Staatlichkeit mit seiner westlichen Ausdehnung fanden Ausdruck im sogenannten Westgedanken (myśl zachodnia)2, der bis heute nachwirkt. Dieser territoriale West-Diskurs ist jedoch älter. Er wird seit über einem Jahrhundert von einer ganzen Reihe von Personen und Institutionen geführt. Doch kann hier nicht von einem einheitlichen Diskurs oder Kommunikationszusammenhang gesprochen werden, da in diesen Zeitraum mindestens fünf Regimeformen, zwei Weltkriege und massive gesellschaftliche und staatensystemische Veränderungen fallen. Wissenschaftler trugen durch ihre akademische Arbeit, aber auch durch populärwissenschaftliche Publikationen sowie ihr politisches Wirken in nicht zu unterschätzender (wohl aber auch nicht zu überschätzender) Weise zur Formierung von Raumbildern über die polnische Staatlichkeit und seine westlichen Grenzen bei. Schließlich integrieren soziale Gruppen solche Vorstellungen in den Konstruktionsprozess kollektiver Identitäten, um diese zu stützen. In seiner diskursgeschichtlichen Arbeit geht Briesewitz solchen Raumbildern von Polens Staatlichkeit nach. Er interessiert sich grundlegend für die Frage, wie sehr die Westforschung vom politisch-geographischen und/oder geopolitischen Diskurs ihrer Zeit geprägt war. Welche Denk- und Argumentationsfiguren wurden übernommen, entwickelt und auf den polnischen Fall angewandt? Was wurde anschließend für den gesamten Westgedanken in Polen wichtig und erzeugte kollektive Raumbilder, die später in nationalhistorische Narrative eingingen?

Briesewitz rekonstruiert also den polnischen Westforschungsdiskurs. Dazu mischt er verschiedene Farbtöne auf einer breiten Personenpalette und trägt sie auf großer Leinwand auf. Der Fokus liegt hierbei auf den Disziplinen der Geographie und Geschichtswissenschaft – sowohl in Polen als auch in Deutschland. Das ist eine klare Stärke dieses Buches: Briesewitz begrenzt seine Diskursanalyse nicht auf die polnische Westforschung, sondern nähert sich ihr von der deutschen (Ost-)Forschung her. Das ist insofern sinnvoll, als dass die polnischen Wissenschaftler der Zwischenkriegszeit und davor massiv von der deutschsprachigen Wissenschaft akademisch sozialisiert waren. Ein Großteil dieser Personen, wie etwa Eugeniusz Romer, Stanisław Pawłowski oder Franciszek Bujak, studierten im preußischen oder österreichischen Teilungsgebiet. Von Bedeutung ist zudem, dass die deutsche Geographie aber auch die Geschichtswissenschaft selbst Träger eines Deutschtumgedankens waren. Sie waren nicht unwesentlich an der Konstruktion deutscher Raumbilder beteiligt und trugen auch dazu bei, politische Ambitionen, wie den „Drang nach Osten“, wissenschaftlich zu unterfüttern. In Polen musste dies eine wissenschaftliche Abwehrreaktion auslösen. Briesewitz hat vollkommen Recht, wenn er die deutsche Politische Geographie und deren Raumbilder und -topoi als Ausgangspunkt für seine Betrachtungen wählt und immer wieder auf die Verflechtungen beider Wissenschaftsdiskurse eingeht.

Briesewitz gelingt es, umfassend Einblick in Konstruktionsmomente, Topoi, wissenschaftliche Moden, Wissenskulturen und -netzwerke sowie in die Konzepte der Politischen Geographie zu geben. Neben einer Vielzahl an Erkenntnissen sticht vor allem derjenige zur raumbildnerischen Ambivalenz der polnischen Westforschung heraus. Obzwar die Westforschung geopolitisches und politisch-geographisches Denken in ihren Diskurs integrierte, ist sie aber nicht gänzlich darin aufgegangen und entwickelte keinen Geodeterminismus, wie er sich in der deutschsprachigen Wissenschaft spätestens unter den Nationalsozialisten durchsetzte. Entgegen der in Deutschland zur Mode gekommenen Allgegenwart eines raumbezogenen geographischen Diskurses hätten sich polnische Forscher nur auf einzelne geographische Raumdeterminanten bezogen: Neben dem für die polnische Westforschung zentralen Land-Paradigma und weitreichenden hydrogeographischen Vorstellungen spielten auch organische Ansichten vom staatlichen Raumgebilde eine Rolle. Im Gegensatz zu Deutschland, wo zudem der Grenz-Topos, der Raumbegriff selbst und die Idee eines unvermeidlichen Raumkampfes viele Konzepte beherrschten, bleiben in Polen kulturanthropologische Ansätze weiterhin ein zentraler Bezugspunkt für die Westforschung.

Das Land-Paradigma, so Briesewitz, bezeichnete die Vorstellung von der räumlichen Deckungsgleichheit des angestammten Ur-Landes und der ethnischen, heute in Nationalstaaten organisierten Gemeinschaft. Diesem Paradigma, das in der deutschen Forschung weniger stark ausgeprägt gewesen ist, sei in Polen eine identitätsstiftende, wenngleich weniger konkret gebietsfordernde Funktion zugekommen. So hätten polnische Geographen und Historiker die vermeintlich ursprünglichen Siedlungsorte der Piasten im Oder-Weichsel-Raum verortet, als Staatsvorläufer Polens gedeutet und erinnerungspolitisch dazu genutzt, sowohl eine abstrakte Idee der polnischen Identität und politischen Einheit zu beschwören, als auch, um auf vermeintliche historische Fehler der damaligen Herrscher hinzuweisen. So wurde die Ostorientierung Polens unter den Jagiellonen von der Westforschung als politischer Irrtum mit nicht zu Ende gedachten Konsequenzen bewertet. Konkrete außenpolitische Ziele hätten die polnischen Westforscher damit aber nicht verfolgt. Das ‚alte‘ Polen galt ihnen als untergangenes Reich. Erst die Westverschiebung Polens nach 1945 und die veränderten internationalen Rahmenbedingungen aktualisierten den politischen Charakter dieses Konzepts. In diesem Zusammenhang ist die These bemerkenswert, dass die üblich als schroffe beschriebene Gegenüberstellung der beiden unterschiedlichen Staatskonzepte zu Zeiten der Zweiten Polnischen Republik – eines „piastischen“ (häufig mit dem Politiker Dmowski identifiziert), also westwärts ausgerichteten polnischen Staate und eines „jagiellonischen“ (für das Piłsudski stand), also ostwärts ausgerichteten Polens – keine Entsprechung in der Forschung gefunden habe. Dort hätte sich vielmehr ein Mix aus beiden Konzepten ergeben, der nicht zu ihrem gegenseitigen Ausschluss führte.

So einig sich die polnischen Forscher in diesen Fragen gewesen seien, so sehr stritten sie untereinander über die „richtige“ territoriale Beschaffenheit Polens und damit über das Wesen des polnischen Staates. Noch vor der polnischen Unabhängigkeit stand die sogenannte Nałkowski-Romer-Kontroverse im Mittelpunkt dieser Debatte. Wacław Nałkowski (er war bereits 1911 verstorben) behauptete, dass Polen keine konkrete Raumgestalt besäße und eher ein „Übergangsland zwischen dem geographischen Ost- und Westeuropa“ (S. 141) sei, dem „natürliche Grenzen“ (S. 143) fehlten. Eugeniusz Romer polemisierte gegen diese Auffassung. Er vertrat die Ansicht, dass Polen eine klare geographische Einheit besäße, nämlich als Landbrücke zwischen Ostsee und Schwarzen Meer charakterisiert werden könne. Keiner der beiden Standpunkte konnte sich durchsetzen; beide gingen später in verwässerter Form in den Raumdiskurs der Westforschung ein. Diese Debatte drückte, so Briesewitz, aber auch neben dem nationalpolitischen Streit einen methodisch disziplinären aus. Er sieht sie als sinnfällig an für den Disput in der damaligen Geographie zwischen einem possibilistischen, anthropogeographischen (Nałkowski) und einem eher deterministischen, strikt politisch-geographischen (Romer) Ansatz. Eine solche innerwissenschaftliche Auseinandersetzung habe in ganz Europa das wissenschaftsgeographische Denken bestimmt. Insofern verdeutlicht Briesewitz auch, wie sehr sich die polnische Forschung in europäischen Denkbezügen entwickelt habe, dabei aber eigene Lösungen für ihre speziellen politischen Nationsprobleme zu finden versuchte.

Die Arbeit von Gernot Briesewitz stellt eine Bereicherung für die beziehungsgeschichtliche Geschichtsforschung dar. Sie zeigt jene vielfachen Verstrickungen, Verflechtungen, gegenseitigen Bezugnahmen im deutsch-polnischen Verhältnis, die einen transnationalen Kommunikationsraum schufen, der wiederum auf die nationalen Vorgänge Einfluss nahm. Aber auch die Unterschiede zwischen beiden Forschungsdiskursen werden deutlich heraus gearbeitet. Überzeugend ist die These, dass die polnische Westforschung kein rein den aktuellen politischen Zielen untergeordnete Unternehmung darstellte. Die Bestimmung der Eindringtiefe der von ihr erzeugten Raumbilder in die polnische Gesellschaft bedarf indes weiterer Forschungen.

Anmerkungen:
1 Markus Krzoska, Für ein Polen an Oder und Ostsee. Zygmunt Wojciechowski (1900–1955) als Historiker und Publizist, Osnabrück 2003.
2 Roland Gehrke, Der polnische Westgedanke bis zur Wiedererrichtung des polnischen Staates nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Genese und Begründung polnischer Gebietsansprüche gegenüber Deutschland im Zeitalter des europäischen Nationalismus, Marburg 2001; Jörg Hackmann, Ost- und Westpreußen in deutscher und polnischer Sicht. Landeshistorie als beziehungsgeschichtliches Problem, Wiesbaden 1996; Jan M. Piskorski (Hrsg.), Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Disziplinen im Vergleich, Osnabrück 2002.

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