K. Andresen u.a. (Hrsg.): Es gilt das gesprochene Wort

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Titel
Es gilt das gesprochene Wort. Oral History und Zeitgeschichte heute


Herausgeber
Andresen, Knud; Apel, Linde; Heinsohn, Kirsten
Erschienen
Göttingen 2015: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
222 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Baranowski, Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, Berlin

„Die wichtigste professionelle Intervention […] geschieht nach dem Interview durch die systematische Befragung des Textes aus der Haltung einer kritischen Geschichtswissenschaft. Das Interview wird dabei zur Quelle für die subjektive Deutungsgeschichte eines bestimmten Individuums […].“ Es geht „um die Grundhaltung der kritischen Befragung“.1 Geäußert hat diese Einsicht in die Notwendigkeit analytischer Erschließung lebensgeschichtlicher Interviews die Historikerin Dorothee Wierling. Ihr Name ist mit grundlegenden Erkenntnissen zur Methodologie und Praxis der Oral History und einer ebenso mutigen wie gelassenen Beschäftigung mit der allgegenwärtigen Figur des Zeitzeugen verbunden. Anlässlich ihres 65. Geburtstags veranstalteten die Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und die Körber-Stiftung im März 2015 eine wissenschaftliche Tagung, die auf einem Sammelband beruhte, dessen Beiträge jedoch über „das gesprochene Wort“ der Tagung hinausreichen.

In dem von Knud Andresen, Linde Apel und Kirsten Heinsohn herausgegebenen Band geht es um die Verbindungen von Zeitgeschichte und Oral History. In elf Aufsätzen widmen sich die Autorinnen und Autoren dem Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln, rücken dabei verschiedene Oral-History-Projekte in den Mittelpunkt und diskutieren selbstkritisch Entwicklungen, Chancen und Desiderate ihrer Fachrichtungen. Eine Stärke des Bandes zeigt sich bereits in der Anlage: Die Aufsätze sind nicht zu ereignisgeschichtlichen, chronologischen oder fachspezifischen Zusammenhängen gruppiert. Sie folgen vielmehr einer thematischen Differenzierung, die eine stärkere Konturierung von Argumentation und Stoßrichtung der verhandelten Themen ermöglicht. So können Projektbeschreibungen neben Methodendiskussionen und biografische Rückblenden neben medienkritischen Bestandsaufnahmen stehen, ohne dass der Eindruck einer Beliebigkeit im Aufbau entstünde. Jenseits der dargestellten Interviewprojekte erhalten somit auch grundsätzlichere Fragen an das Verhältnis von Zeitgeschichte und Oral History Profil. Dadurch, dass sich der Band zudem nur am Rande mit den Großprojekten der Oral History zum Nationalsozialismus und zum Holocaust beschäftigt, geraten erfreulicherweise einige oftmals weniger beachtete Interviewsammlungen in den Blick.

Die erste Sektion „Erfolg erzählen?“ widmet sich Projekten, in denen es um Lebensgeschichten geht, die von Aufstieg oder Abstieg handeln. Andrea Althaus berichtet von Interviews mit Arbeitsmigrantinnen aus Österreich und Deutschland, die zwischen 1945 und 1965 in der Schweiz berufstätig waren. Wie unterschiedlich die Protagonistinnen ihre Erfahrungen deuten, wird durch die Herausarbeitung der Erzählstrukturen einzelner Interviews kenntlich. Althaus zeigt dadurch, wie man die narrative Analyse für eine kritische Geschichtswissenschaft nutzbar und gleichzeitig die singulären Erfahrungen Einzelner sichtbar machen kann. Janine Schemmer hat Interviews mit ehemaligen Hafenarbeitern durchgeführt. Die Frage nach dem Wandel der Arbeit im Hafen nach 1950 sei zunächst – wie Schemmer selbstkritisch ausführt – sehr stark von eigenen Vorannahmen geprägt gewesen. Sie macht auf verschiedene externe, situative und persönliche Faktoren aufmerksam, die während des Interviewprozesses eine entscheidende Rolle bei der Frage nach dem beruflichen Erfolg oder Misserfolg der Interviewten spielten.

Linde Apel untersucht Interviews mit Frauen und Männern, die während ihrer Schulzeit zwischen 1967 und 1977 politisch engagiert waren, und kommt dabei zu einem aufschlussreichen Befund: Da im öffentlichen Bewusstsein eher solche Ereignisse präsent sind, die für politisch links stehende Schülerinnen und Schüler identitätsstiftend waren (1968, Studentenproteste, Vietnam), werden Erzählungen von dem linken Spektrum zuzurechnenden Personen eher als Erfolgserzählungen präsentiert. Apel verdeutlicht, wie sehr die rückblickende Sinngebung einer Lebensgeschichte als Erfolg oder Misserfolg von der Medialisierung vergangener Ereignisse geprägt ist. Knud Andresen beschäftigt sich mit Veränderungen in der Arbeitswelt im Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft; er zieht dazu Interviews mit Gewerkschaftsrepräsentanten insbesondere über Betriebskrisen in den frühen 1980er-Jahren heran. Der angenommene Bedeutungsverlust von Gewerkschaften und Gewerkschaftlern taucht in den Erzählungen jedoch kaum auf; im Mittelpunkt stehen positive Erfahrungen von Gemeinschaft und Solidarität. Andresen macht darauf aufmerksam, wie sich die Interviewten als Handelnde verstehen und entwerfen: Nicht der Niedergang eines Betriebs oder ganzer Arbeitswelten, sondern die individuellen Versuche – auch wenn diese letztlich scheiterten –, anderen zu helfen oder Situationen produktiv zu lösen, bewirken, dass die Lebens- als Erfolgsgeschichten erzählt werden.

Innerhalb welches Deutungsrahmens Lebensgeschichten dargestellt werden und wie sich dies auf die Einordnung und Gewichtung spezifischer Lebensereignisse auswirkt, zeigen die drei Aufsätze im zweiten Teil des Bandes („Was gilt?“). Julia Obertreis beschäftigt sich mit Interviewten, die über ihr Leben in den Staaten des „Ostblocks“ befragt wurden. An Beispielen aus verschiedenen Ländern erläutert sie die besonderen Herausforderungen, wenn Interviews sehr stark von sich fortwährend verändernden offiziellen Deutungsangeboten abhängen. Die unterschiedlichen Diskurse über den Staatssozialismus seit 1989/90 bewirken, dass es schon im Abstand von wenigen Jahren völlig verschiedene Deutungen des Lebens vor dem politischen Umbruch gibt. Ines Langelüddecke beschreibt in ihrem Aufsatz, welche Unsicherheiten bei Interviewten entstehen können, wenn kein Deutungsrahmen etabliert ist. Sie stellt fest, dass im Rahmen von Interviews über die DDR die Befragten nach einer gewissen Zeit ein Thema von selbst ansprechen: die Rolle der Staatssicherheit. Das abrupte Sprechen darüber scheint von einer Unsicherheit umgeben zu sein, weil sich die individuell vielschichtigen Erfahrungen und Erinnerungen von der gängigen massenmedial vermittelten Deutung dessen, was die DDR und speziell die Staatssicherheit gewesen sei, unterscheiden. Annette Leo diskutiert in Form einer autobiografischen Rückschau ihre Entwicklung als Interviewerin: Durch Ausführungen zum Enttypisierungsschock (die Interviewten erzählen nicht das, was die Fragenden erwartet haben), zu Problemen und Chancen biografischer Nähe und zum Interviewen als Kunstform zwischen Distanz und Einfühlung macht Leo implizit deutlich, vor welche Herausforderungen sich neue Interviewprojekte heute gestellt sehen und auf welche methodischen Vorarbeiten sie aufbauen können.

Um verschiedene Anwendungsbereiche geht es im dritten Teil „Wozu Oral History gebraucht wird“. Zunächst erläutert Malte Thießen am Beispiel des abgeschlossenen, unter anderem von Dorothee Wierling geleiteten Projekts zum „Hamburger Feuersturm“2 eindringlich, welche Möglichkeiten sich aus der interdisziplinären Zusammenarbeit (in diesem Fall zwischen Psychoanalyse und Geschichtswissenschaft) für die Oral History ergeben. Durch die detaillierte Schilderung der Prozesse innerhalb der Interviewergruppen verdeutlicht Thießen, dass sich Interdisziplinarität weniger im Hinblick auf die Inhalte des Forschungsprojekts auszahlt, sondern vielmehr für die Vorannahmen der gemeinsamen Arbeit, die Sicht auf das eigene Fach und die Schärfung von Begriffen. Lu Seegers zeigt, wie biografische Sinnstiftung vermittelt über die Rezeption von Geschichtssendungen funktioniert: Diese liefern ein Angebot, das von vielen angenommen und aufgrund ihrer Allgegenwart als lebensgeschichtlich bedeutsam angesehen wird. Die Interviewten der „Kriegskindergeneration“ (Jahrgänge 1930 bis 1945) haben anscheinend eine generationelle Erfahrung gemacht, die öffentliche Aufmerksamkeit findet und der somit Sinn zugeschrieben werden kann. Für die Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Gegenwart gibt es solche Sinnangebote, die über als authentisch empfundene Zeitzeugen vermittelt werden, (noch) nicht.

Mit fernsehwissenschaftlichem Blick nähert sich Judith Keilbach der aus Zeitzeugeninterviews bestehenden Online-Plattform „Das Gedächtnis der Nation“.3 Die Interviews werden dort nur in Ausschnitten vorgestellt, bleiben für die Rezipienten ohne erkennbaren narrativen Zusammenhang und verstärken auf fatale Weise ein irreführendes Bild von Zeitzeugenschaft als bloßer Wiedergabe von Fakten. Keilbach verdeutlicht minutiös, dass sich unter dem Deckmantel eines vorgeblichen Oral-History-Archivs nichts anderes als ein Format verbirgt, das einer Fernsehsendung vergleichbar die redaktionelle Kontrolle über die Inhalte steuert und keine eigene Auseinandersetzung der Zuschauer/innen mit Zeitzeugeninterviews ermöglicht. Im abschließenden Beitrag würdigt Axel Schildt den seit 1973 veranstalteten Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte (Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten) als eines der zentralen Ereignisse zur Durchsetzung alltagsgeschichtlich interessierter Forschung und zur Anerkennung der Oral History. Was in allen Beiträgen des Bandes mehr oder weniger explizit zu vernehmen ist, wird bei Schildt noch einmal vollends deutlich: die große Bedeutung Dorothee Wierlings für zeitgeschichtliche Fragestellungen und die Etablierung der Oral History. Schildts Beitrag mündet in eine Würdigung der Historikerin, die seit 1990 im wissenschaftlichen Beirat des Schülerwettbewerbs tätig ist. Eine Übersicht zu Wierlings Schriften beschließt diesen anregenden und vielschichtigen Sammelband.

Knud Andresen, Linde Apel und Kirsten Heinsohn ist zu danken, dass sie nicht bloß einen weiteren Band mit unterschiedlichen Aufsätzen zum Thema „Oral History“ vorgelegt haben, sondern zugespitzt Forschungsperspektiven profilieren: Zur Beantwortung welcher Fragen und für welche Fächer lässt sich Oral History einsetzen? Wie stark sind Lebenserinnerungen vom Zeitpunkt der Erhebung eines Interviews, von den vorherrschenden Sinnangeboten und Deutungsrahmungen abhängig? Wann und warum werden Lebensgeschichten als Erfolgs- oder Misserfolgsgeschichten erzählt? Dies führt letztlich auf eine Grundfrage von Dorothee Wierling: Wie können Lebensgeschichten als historische Quellen genutzt werden?

Anmerkungen:
1 Dorothee Wierling, Zeitgeschichte ohne Zeitzeugen. Vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis – drei Geschichten und zwölf Thesen, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 21 (2008), Heft 1, S. 28–36, hier S. 34.
2 <http://www.gerda-henkel-stiftung.de/?page_id=77283> (08.06.2015).
3 <http://www.gedaechtnis-der-nation.de> (08.06.2015).