Titel
Erziehung an der Mutterbrust. Eine kritische Kulturgeschichte des Stillens


Autor(en)
Seichter, Sabine
Erschienen
Weinheim 2014: Beltz Juventa
Anzahl Seiten
174 S.
Preis
€ 19,95
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Anne-Laure Garcia, Centre Marc Bloch, Berlin

Das Stillen – wie das Essen oder das Gebären – gehört zu den biologischen Handlungen, die im Sinne Durkheims als soziale Tatsachen definiert werden können. Die Werte, die Normen sowie die Rollenzuschreibungen, in die das Stillen verwickelt ist, machen aus der Brusternährung der Säuglinge einen hoch relevanten soziologischen Gegenstand. Der historische und internationale Vergleich, der in Sabine Seichters Buch „Erziehung an der Mutterbrust. Eine kritische Kulturgeschichte des Stillens“ unternommen wird, bringt bei dieser Gelegenheit alle wichtigen Elemente für einen epistemologischen Bruch zusammen. Indem der Durchgang von der Antike bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts reicht und Diskurse aus dem alten Griechenland, Rom, Frankreich, Preußen, den USA, der BRD, der DDR und anderen Gebieten gegenüberstellt werden, hat das Buch durchaus Potential, den sensus communis – das durch den größten Teil der Gesellschaftsmitglieder geteilte Alltagsverständnis – und das Vorwissen seiner Leser/innen zu irritieren.

An der Kreuzung zwischen geschichtswissenschaftlichen Überblickswerken wie dem von Yvonne Knibiehler1 und historisch-ideologiekritischen Schriften wie im Falle von Barbara Vinken2 oder Elisabeth Badinter3 analysiert Sabine Seichter okzidentale Diskurse der Philosophie, der Religion, der Politik, der Medizin, der Psychologie, der Pädagogik und der Werbe- und Ernährungsindustrien der letzten rund 2500 Jahre. Ihr zentrales Anliegen dabei ist, jene Normativität ans Licht zu bringen, die sich im Laufe der Zeit um das Stillen herum bildete. Durch Aufdeckung von Überzeugungen, Vorstellungen und Glaubensinhalten wird von ihr dabei das Bild der Frau als Mutter in seinen räumlich und zeitlich verschiedenen Kontexten erkundet. Insofern liefert der vorliegende Band auch eine einführende Übersicht zur Mutterschaftsgeschichte. Und beim Laien wird auf diesem Wege zudem der soziologische Blick geschärft für die heutige Debatte um Emanzipation, Entfaltung und Selbstverwirklichung der Frau, trotz oder dank des Stillens ihrer Kinder.

Der kulturgeschichtliche Durchgang bringt die Gleichzeitigkeit von Stabilität und Veränderung in den untersuchten normativen Mustern zum Vorschein, wobei ich im Rahmen dieser Rezension nur drei ausgewählte Beispiele darstellen kann. Einerseits ist die Idee, dass das Stillen eine „staatliche Verpflichtung“ (S. 16) zur Kräftigung und Garantie der Gesundheit kommender Bürger sei, schon in der Antike anzutreffen. Diese Vorstellung wird während der Epoche der Aufklärung zugleich vertieft und erneuert. So sah etwa Jean-Jacques Rousseau wahlweise Niedergang oder Rettung der französischen Gesellschaft voraus, abhängig davon, ob die Mütter ihre ‚naturgegebene‘ Stillpflicht gegenüber den Kindern vernachlässigten oder erfüllten. Diese Politisierung des Stillens sollte ab Ende des 19. Jahrhunderts eine eugenische Verschärfung erleben, die ihren tragischen Höhepunkt im Dritten Reich erfuhr.

Ein zweiter hochinteressanter Punkt ist das Weiterbestehen und die gleichzeitige Adaption der Annahme, dass es einen engen Zusammenhang zwischen der mütterlichen Milch und der Kognition des Kindes gibt. Wenn diese These, dass die Persönlichkeit der Mutter einen Einfluss auf die Charakterbildung des Kindes habe, auch Stück für Stück verschwand – vor allem über die Frage der Auswahlkriterien geeigneter Ammen –, so hat diese Thematik in Wahrheit jedoch bloß eine Verschiebung erfahren: auf das Gebiet der emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten. Hier kann ein wissenswertes Forschungsergebnis aus dem Gebiet der Psychoanalyse hinzugenommen werden: Nicht das Medium – Brust oder Trinkflasche – sondern die Atmosphäre während des Säugens ist entscheidend für die Entwicklung des Kindes (S. 110).

Drittens kann dank des zeitlichen Rahmens der Untersuchung auch ein ständiger Wechsel der Stillvorschriften und teilweise ihre Rückkehr beobachtet werden. So wurde der Zeitraum, der bis zur ersten Nahrungsgabe abzuwarten sei, von Epoche zu Epoche kürzer: von bis zu zwei Wochen in der Antike – zur ‚natürlichen‘ Auswahl der überlebensfähigsten Neugeborenen –, bis zu einem paar Sekunden in den letzten Jahren, was die emotionale Bindung in der Mutter-Kind-Dyade fördern soll. Das Ideal des Stillens nach Bedarf, das heute als ein Import aus Nordamerika gilt, ist derweil keine moderne Erfindung, sondern bereits im jüdischen Talmud zu finden. Ob „on demand“ (S. 110), „à la raison“ (S. 80) oder „nach Takt“ (S. 105), ob sechs, zwölf oder 24 Monate, eines haben diese Stillanweisungen gemeinsam: Die Paradoxie des Erlernens einer als natürlich und instinktiv gestempelten Kulturhandlung.

Das Vorhaben, die Normativität des Stillens umfassend an Diskursen von Philosophen, Theologen, Politikern, Ärzten, Pädagogen unter anderem wissenschaftlich herauszuarbeiten und dies für 2500 Jahre auf 174 Seiten (Literaturliste inklusive) zu leisten, war eine per se nicht einzulösende Herausforderung. Ist es auch vorstellbar, mit einer hohen Stringenz der Argumentation, einer sehr präzisen Referenzarbeit sowie zahlreichen Fußnoten zur weiteren inhaltlichen Vertiefung sich einem solchen Projekt so gut als möglich anzunähern, so hat sich Sabine Seichter offenbar für eine andere Schreibstrategie entschieden: eine einzige Fußnote im ganzen Buch, lückenhafte bibliographische Referenzen zur Mutterschaftsgeschichte und -soziologie sowie ausführliche „Seitenblicke“, hinter denen die eigentliche Thematik immer wieder verschwindet. Darüber hinaus werden immer wieder en passant soziologische und philosophische Begriffe (z.B. Bourdieus „Inkorporierung“, S. 51) und theoretische Debatten (etwa die „Erfindung“ der Mutterliebe oder der Kindheit, S. 38) angedeutet, aber kaum erläutert. Die Untersuchung scheint so in keinem ausreichend ausgearbeiteten theoretischen Rahmen verankert. Und um die Frage nach der Wissenschaftlichkeit abzuschließen, muss schließlich gesagt werden, dass Sabine Seichters historischer Durchgang zwar zahlreiche interessante Zitate und Zusammenfassungen von Diskursen enthält, die methodisch kontrollierte Auswertung des qualitativen Materials aber nicht nachvollziehbar gestaltet wird. Hauptmanko hierbei ist, dass die Zitate oft nur illustrativ genutzt werden, ihre Kommentare aber meistens auf der Ebene des immanenten Sinns bleiben und kein genaueres Auswertungsverfahren erkennbar wird.

Eine Fokussierung der Studie auf den deutschen Fall, die Hysteresis-Effekte sowie Transfer und Verflechtung mit anderen Gesellschaften sichtbar macht, wäre in vielen Hinsichten dem spannenden Vorhaben, die Normativität des Stillens aufzudecken, eher gerecht geworden. So hätte etwa der Zusammenhang mit hoch interessanten deutschen Besonderheiten, wie dem Mythos der Mütterlichkeit, dem Naturalismus oder dem sozialistischen Frauenbild der DDR auf diese Weise wissenschaftlich herausgearbeitet werden können. In einem damit auch engeren zeitlichen und räumlichen Rahmen hätte der Mix von geschichtswissenschaftlichem Anspruch und ideologiekritischem Desiderat vielleicht besser funktioniert.

Trotz dieser Einschränkungen bietet das Buch einen zitatenreichen Überblick, der den Laien zum Nachdenken anregen wird. Durch diesen Band werden die Leser/innen für das Wahrnehmen von Normen in ihrer privaten wie gesellschaftlichen Umgebung sensibilisiert, wie etwa für eine ständige Betonung der ‚natürlichen‘ Überlegenheit der Muttermilch durch die deutsche Stillkommission oder in der Werbung. Ebenso erfährt man so vom Fehlen großer Forschungsprojekte zur Untersuchung der Qualität der biologischen Muttermilch (z.B. auf Schwermetalle und Dioxin) oder vom Schweigen über mütterliche Beschwerden (durch Milchstau oder Schrunden der Brustwarzen) und solche auf Seiten der Kinder (etwa durch fehlende Sättigung oder Koliken), die durch eine Ernährung mit der Babyflasche und/oder mit künstlicher Milch verringert oder sogar ganz zum Verschwinden gebracht werden können. Dank der kritisch-kulturgeschichtlichen Perspektive kann dieses Buch schließlich bei seinen Leser/innen auch Fragen über die heutige Gesellschaft erwecken: Ist die bezahlte Elternzeit als versteckte Stillprämie zu betrachten? Inwiefern kann eine frühe Beteiligung des Vaters in der Ernährung auch die emotionale Entwicklung des Kleinkindes fördern? Was wären vorstellbare gesellschaftliche Folgen einer Entgeschlechtlichung der Säuglingsernährung?

Anmerkungen:
1 Yvonne Knibiehler, Histoire des mères et de la maternité en Occident, Presses Universitaires de France, Paris 2000.
2 Barbara Vinken, Die deutsche Mutter. Der lange Schatten eines Mythos, Piper Verlag, München 2001.
3 Elisabeth Badinter, Der Konflikt: Die Frau und die Mutter, C. H. Beck Verlag, München 2010.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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