A. Ortmann: Machtvolle Verhandlungen

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Titel
Machtvolle Verhandlungen. Zur Kulturgeschichte der deutschen Strafjustiz 1879–1924


Autor(en)
Ortmann, Alexandra
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 215
Erschienen
Göttingen 2014: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
348 S.
Preis
€ 64,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Angela Borgstedt, Historisches Institut, Universität Mannheim

Machtvolle Verhandlungen: Der Titel dieser Göttinger Dissertation ist zugleich die formelhafte Verdichtung ihres Befunds. Machtvolles Verhandeln vor Gericht? Allein die symbolische Ausstattung von Institution und Handelnden legt nahe, wer hier machtvoll verhandelte. Machtvoll agierten die durch Robe und Sitzordnung herausgehobenen Richter, denen freilich schon ihre Herkunft und Ausbildung entsprechendes Sozialkapital verliehen hatten. Kaum weniger machtvoll agierten die Staatsanwälte. Blieb angesichts der asymmetrischen Machtverteilung vor Gericht dem Angeklagten, aber auch Prozessbeobachter oder Zeugen anderes als Passivität, als Ohnmacht? Hatte er unter den Prämissen sozialer Ungleichheit, einer viel beschworenen „Klassenjustiz“ Spielräume für eigenständiges, nach seinen Möglichkeiten machtvolles Agieren? Alexandra Ortmanns Entscheidung für den kulturwissenschaftlichen Schlüsselbegriff der Verhandlung legt dies nahe: Dieser meint diskursives Handeln, meint Aushandlungsprozesse. Und so wie Ortmanns Angeklagte, Verdächtige und Zeugen agierten, waren sie im Strafprozess des deutschen Kaiserreichs so machtlos nicht.

Wo war der Ort machtvollen Verhandelns? In den Justizpalästen großer Land- und Oberlandesgerichte wie Berlin, Breslau, Dresden, Hamm oder München? In jenen großstädtischen Gerichtssälen, aus denen breit, mitunter skandalträchtig aufbereitet, berichtet wurde? Auch hier unterläuft Ortmann die Erwartungen: Nicht der außergewöhnlichen Judikatur einiger Berliner Sensationsprozesse gilt das Interesse, vielmehr befasst sich die mikrohistorische Untersuchung mit ganz alltäglichen Strafdelikten und Strafverfahren und mit den „Laien vor Gericht“ – noch dazu im eher ländlichen Milieu. Es sind kleine Diebe, Betrüger und Meineidige, wie wir sie aus den großartigen Studien von Natalie Zemon Davis bis Rebekka Habermas kennen1, Kleinbauern, Dienstknechte und Gastwirte, die Ortmann in Gerichtsakten der Landgerichtsbezirke Augsburg und Kempten, vor allem des einstigen Bezirksamts Marktoberdorf im Allgäu begegnen.

Ortsmanns Erkenntnisinteresse gilt zweierlei: zum einen allgemein der Rolle der Öffentlichkeit sowie speziell der Laien – Zeuge, Angeklagter, Publikum – in Strafprozessen des Kaiserreichs, zum zweiten der Frage, ob sich die Entwicklung des Strafrechts in dieser Zeit als mehr oder weniger geradliniger Prozess vollzog oder als kontinuierlicher Aushandlungsprozess von Wandel und Persistenz. Das sind nicht originär rechtshistorische Perspektiven, sondern vielmehr Fragestellungen, die Antworten von allgemeiner gesellschaftlicher Relevanz erwarten lassen. „Die Strafjustiz war emblematisch für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft im Kaiserreich“, ein Ort machtvoller Verhandlungen wie der Verhandlung über Macht, so Ortmann (S. 282f.). Wer hier sein Recht beanspruchte, behauptete und vielleicht bekam, der handelte nicht länger als Untertan, sondern als Staatsbürger. Insofern kann Alexandra Ortmanns Studie über die Strafjustiz die Wahrnehmung gesellschaftspolitischer Verhältnisse insgesamt deutlicher konturieren und gehört zentral zur allgemeinen Geschichte des deutschen Kaiserreichs. So unspektakulär das Thema Justiz als Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse und Entwicklungen zunächst anmutet, es ist ein keineswegs nur für die frühe Neuzeit noch immer überraschend ertragreicher Ansatz.

Alexandra Ortmann hat ihre Untersuchung in drei Teile gegliedert. Im ersten steht das Selbstbild der kaiserzeitlichen Strafjustiz im Mittelpunkt. Hier kommen die Akteure wie Berufs- und Laienrichter, Staats- und Rechtsanwalt zu Wort, vor allem aber geht es zum einen um das spezifische Narrativ der Gerichtsakte und zum anderen um den Wahrheitsbegriff sowie die Methodik der Wahrheitsfindung zu Zeiten, da inquisitorische Verfahren nicht mehr und kriminalistische allenfalls in Ansätzen anzuwenden erlaubt waren – was die Zeugenaussage entsprechend aufwertete. Hinsichtlich der Akteure kann Ortmann das inzwischen gut erforschte Thema der Professionalisierung2 bzw. der Konkurrenzabwehr seitens der Fachjuristen um einen spannenden Aspekt bereichern: den Diskurs über das Verhältnis der Berufs- zu Laienrichtern und der Beibehaltung oder Infragestellung der Schwurgerichte. Interessant ist die instrumentelle Nutzung der juristischen Fachzeitschriften in diesem Zusammenhang, die Ortmann eindrucksvoll aufzeigen kann. Methodisch reizvoller noch ist ihr Kapitel über das Narrativ der Gerichtsakte, das nicht nur das Problem juristischer, sondern implizit auch historischer Wahrheit reflektiert. Wie viel Wahrheit steckt in einer keineswegs einfach protokollierten Zeugenaussage, die weder sprachidiomatische noch individuelle Besonderheiten wiedergibt, sondern oral history in einen juristischen Duktus und Kausalnexus zwängt?

Der zweite Teil befasst sich mit der Öffentlichkeit als Machtfaktor im Strafprozess: der Gerichtspublizistik von der Lokalpresse bis zum Roman, der Partizipation von Öffentlichkeit im Gericht und daraus resultierenden Konflikten, aber auch dem Ort gerichtlicher Ermittlung und Verhandlung. Dieser war gerade im ländlichen Untersuchungsraum keineswegs identisch mit den gerade in der Gründerzeit oft neu errichteten und palastartig ausgestalteten Gerichtsgebäuden. Während hier die Trennung öffentlicher von nicht-öffentlicher Verhandlung und die Separierung der Zeugen untereinander räumlich oft vorgesehen war, konnte sie im Nebenzimmer einer Gastwirtschaft, wo zumindest Voruntersuchungen im ländlichen Raum stattfanden, kaum vorgenommen werden. Zur Stützung ihrer These zentral ist das Kapitel über das Verhältnis von Juristen und Öffentlichkeit. Ortmann konstatiert Bestrebungen seitens der mehrheitlich konservativen Justizjuristen, Nichtfachleute von Strafprozessen auszuschließen. Dies betraf allgemein die Öffentlichkeit von Verhandlungen, aber auch die Mitwirkung von Laien in Schwurgerichtsprozessen. Argumentiert wurde mit dem sittlichen Schutz der Öffentlichkeit, weshalb die Zustimmung vor allem im kirchlichen Milieu groß war. Die Distanzierung von zentralen Forderungen des Vormärz und der 1848er Revolution verdeutlicht, dass die Implementierung einer modernen Rechtsordnung keineswegs linear verlief. Andererseits ermöglichte die Etablierung einer Rechtshilfe oder -beratung einem weit größeren sozialen Spektrum das Auftreten vor Gericht tatsächlich als Akteur – wenngleich eher in sozial- und arbeitsrechtlichen denn in Strafverfahren.

Im dritten Teil betrachtet Ortmann den Laien als Akteur vor Gericht: als durchaus selbstbewusster Zeuge, Angeklagter und Kläger. Ortmann konstatiert hier ein noch immer asymmetrisches Verhältnis von Fachjuristen und Laien, jedoch handelte es sich nicht zwingend um einen diametralen Gegensatz von Macht und Ohnmacht. Tatsächlich verfügten längst auch Nichtjuristen ein Alltagswissen über Strafjustiz, das Handlungsspielräume eröffnete. Aussagen wurden strategisch getätigt, bestimmten den Fortgang von Ermittlungen, erschütterten die Glaubwürdigkeit anderer Beteiligter, rückten sie in ein schlechtes Licht, ja machten sie womöglich sogar selbst zu Angeklagten. Laien waren aktive Gestalter, keine passiven oder ohnmächtigen Figuren. Sie erlernten und erlebten auf diese Weise Recht, nahmen ihre Rechte – wie machtvoll im Einzelnen auch immer – in Anspruch und praktizierten in einem Teilbereich, was Margret Lavinia Anderson allgemein für die Einübung staatsbürgerlicher Kompetenzen im Kaiserreich beschrieben hat.3

Rechtsgeschichte, dies hat Alexandra Ortmann eindrucksvoll verdeutlicht, ist für das Verständnis allgemeingesellschaftlicher Prozesse zentral. Mit ihrer kulturgeschichtlichen Untersuchung der Strafjustiz 1879 bis 1924 bestätigt sie die Scharnierfunktion des Kaiserreichs zwischen Monarchie und Republik, einer politischen Ordnung mit durchaus zukunftsweisender normativer Rechtsordnung und einer Rechtswirklichkeit, um die noch machtvoll gerungen wurde. Nicht zuletzt unterstreicht Ortmann die Bedeutung der mikrohistorischen Analyse für die Makrohistorie: zum einen mit dem Untersuchungsgegenstand der Justiz als Spiegel gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen, zum anderen mit einem lokalen Tiefenschnitt, der, ohne etwa für preußische Gerichtsbezirke geprüft zu sein, die bekannten Skandalfälle der Strafjustiz des Kaiserreichs in ihrem Skandal- und Ausnahmecharakter bestätigt.

Anmerkungen:
1 Nathalie Zemon Davis, Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler, Berlin 1988; dies., Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre, München 1984; Rebekka Habermas, Diebe vor Gericht. Die Entstehung der modernen Rechtsordnung im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2008.
2 Für die Anwaltschaft vgl. Hannes Siegrist, Advokat, Bürger und Staat. Sozialgeschichte der Rechtsanwälte in Deutschland, Italien und der Schweiz (18.–20. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1996; Kenneth F. Ledford, From General Estate to Special Interest. German Lawyers 1878–1933, Cambridge 1996.
3 Margaret L. Anderson, Practicing Democracy. Elections and Political Culture in Imperial Germany, Princeton 2000.

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