C. Wicke: Helmut Kohl's Quest for Normality

Cover
Titel
Helmut Kohl's Quest for Normality. His Representation of the German Nation and Himself


Autor(en)
Wicke, Christian
Reihe
Making Sense of History 20
Erschienen
New York 2015: Berghahn Books
Anzahl Seiten
XIII, 249 S.
Preis
$ 110.00; £ 68.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jacob S. Eder, Historisches Institut, Universität Jena

Etwas voreilig ließ Jürgen Habermas die Kanzlerschaft Helmut Kohls bereits Anfang 1994, ein gutes halbes Jahr vor der Bundestagswahl, Revue passieren. Habermas, der bekanntlich nicht zu den Bewunderern Kohls zählt, zeigte sich angesichts des vermeintlichen Endes einer Ära versöhnlich. „Ehrlich“, beteuerte er, Kohl habe ihn durch alles, was er im vergangenen Jahrzehnt nicht gewesen sei – nationalistisch, neokonservativ oder bedrohlich – „mit der (alten) Bundesrepublik versöhnt“: „Er ist die verkörperte Entwarnung und hätte einen Heine nicht um den Schlaf gebracht.“1 Diese spitze Charakterisierung nimmt Christian Wicke zum Ausgangspunkt, um Politik, Selbstinszenierung, ja politische „Ideologie“ Kohls und das, was er dessen „personal nationalism“ nennt, zu untersuchen. Kohl habe sich nicht nur seit Beginn seiner Karriere als Politiker darum bemüht, ein bestimmtes deutsches Nationalgefühl zu legitimieren, sondern habe bundesrepublikanische „Normalität“ und „Entwarnung“ bewusst verkörpert.

Als Kanzler habe Kohl eine Politik der doppelten „Normalisierung“ betrieben. Ihm sei es darum gegangen, die bundesdeutsche Bevölkerung mit „emotional security“ und einer „deeper, romantic normality“ auszustatten, um ihr ein unbefangenes, aber fest in westlichen Werten verankertes Nationalgefühl zu ermöglichen (alle Zitate in diesem Absatz: S. 5). Ferner habe sich Kohl bemüht, die „culture of Vergangenheitsbewältigung“ – häufig durch Relativierung der NS-Vergangenheit – zu überwinden. Er habe darauf hingearbeitet, den „alten“ anti-westlichen Sonderweg wie auch den „neuen“ post-nationalen Sonderweg der Linken in der Bundesrepublik zu beenden. Bereits in der Einleitung attestiert Wicke der Politik Kohls in dieser Hinsicht eine weitgehend positive Bilanz: „With the solidification of the new Berlin Republic, this double normality, which was the ideal effect of Kohl’s œuvre, has come very close to its realization.“

Nun gibt es an Kohl-Biographien gegenwärtig keinen Mangel, und auch der Altkanzler selbst hat umfangreich über sein Leben geschrieben bzw. schreiben lassen.2 Wicke wählt aber einen methodisch durchaus unkonventionellen Zugang zum Protagonisten der Studie, die auf seiner Dissertation an der Australian National University in Canberra basiert. Ungewohnt und auch anschlussfähig für weitere Forschungen ist vor allem Wickes Verknüpfung einer politischen Biographie mit der Nationalismusforschung. Für ihn ist „Nationalismus“ nicht nur ein globales politisches Massenphänomen des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern er fragt auch, wie sich die Sichtweise Einzelner auf die Nation aus ihren jeweiligen politischen und religiösen Überzeugungen, Erfahrungen, Wunschbildern und Identitäten speiste. So will Wicke nicht nur zeigen, dass sich zahlreiche politische Positionen Kohls biographisch erklären lassen, sondern dass er auch immer wieder gezielt autobiographisch argumentierte, um diese zu bekräftigen.

Der Autor betrachtet die historische Entwicklung von Kohls „personal nationalism“ und sieht dessen Wurzeln bereits in den 1950er-Jahren deutlich ausgeprägt. Im katholischen Milieu des Rheinlands sowie in Kohls Heidelberger Umfeld als Student und Doktorand erkennt Wicke das Fundament der Ideenwelt und des Wertekanons des späteren Kanzlers. Aus der politischen Konstellation der frühen Bundesrepublik habe Kohl eine politische Ideologie („political ideology“) entwickelt, von der er später kaum mehr abgerückt sei – auch wenn er sich selbst freilich als Gegner jeglicher „Ideologe“ gesehen habe. Kohls Haltung basierte laut Wicke auf vier Säulen, die auch die Gliederung des Buchs in vier empirische Kapitel vorgeben. Diese folgen auf die Einleitung und ein vorgelagertes Theoriekapitel (Kapitel 1: „Approaching Nationalism“).

So müsse man Kohl zunächst als „Catholic Nationalist“ deuten (Kapitel 2). Sein Bezug zur deutschen Nation, der von ihm vertretene Gestaltungsanspruch der Christdemokratie, die Westbindung, aber auch die prinzipielle Ablehnung des Nationalsozialismus und des Kommunismus hätten vor allem auf katholischen bzw. christlichen Werten basiert. Ferner sei Kohl, geboren 1930, nur als „45er“ zu verstehen. In dieser Generation habe er die Position eines „Liberal Nationalist“ eingenommen (Kapitel 3). Das bedeute vor allem ein Festhalten an der Notwendigkeit einer nationalen Identität und die Betonung positiver Kontinuitäten in der deutschen Geschichte. Kohl selbst habe das Wort „Nationalismus“ zwar vermieden, doch habe sich seine Position durch Schlagwörter wie „Vaterlandsliebe“, „Nationalbewusstsein“ oder „Nationalgefühl“ manifestiert (S. 111).

Auch in Kohls Verwurzelung in der pfälzischen Provinz sieht Wicke einen biographischen Faktor, der es Kohl erlaubt habe, „German normality“ zu demonstrieren. Der „Romantic Nationalist“ Kohl (Kapitel 4) habe beispielsweise durch die Bezugnahme auf (seine) Heimat der angeblichen Orientierungslosigkeit der Postmoderne gegensteuern wollen. All diese Facetten seines „personal nationalism“ habe Kohl nicht nur politisch vertreten, sondern sich bewusst als dessen Verkörperung inszeniert: „He presented his own life as that of an ideal German: Christian, Western, European, rooted in local traditions, conscious of Germany’s glorious past and free of any Nazi guilt.“ (S. 208) Diese angeblich gezielte Inszenierung kann Wicke aber selten durch Beispiele aus zeitgenössischen Quellen belegen, sondern verlässt sich dabei allzu oft auf Episoden aus Kohls „Erinnerungen“ (zum Beispiel S. 64f.).

Ähnlich verhält es sich im letzten Hauptkapitel, in welchem Kohl als „Nationalist Historian“ interpretiert wird (Kapitel 5). Kohl habe die deutsche Geschichte instrumentalisiert – mit dem Ziel, die NS-Vergangenheit in bestimmter Weise zu historisieren, deutsche Verbrechen zu relativieren, die außenpolitische Reputation der Bundesrepublik zu erhöhen und im Inneren linke Kritik am deutschen Patriotismus zu unterminieren. In diesem Kontext habe er sich stets selbst als „ideal image of the German nation“ (S. 188) inszeniert, unter anderem durch die Behauptung, aus der Geschichte des „Dritten Reiches“ gelernt zu haben, selbst aber frei von jeder Schuld zu sein.

Da man über die Inhalte und Praktiken der Geschichtspolitik Kohls in diesem Kapitel kaum etwas Neues lernt, ist die These der bewussten Selbstinszenierung hier wohl der innovativste Gedanke. Allerdings vermag Wicke diesen nur mit der altbekannten Geschichte von der „Gnade der späten Geburt“ zu untermauern. Die zentrale Rolle des „Nationalist Historian“ Kohl für die Entscheidung zum Bau des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin hingegen wird denkbar knapp abgehandelt – vielleicht weil sie Wickes These von der „Normalisierung“ doch etwas verkomplizieren würde? Und auch dass der rechte Rand der Union in Bezug auf „Normalisierung“ eine deutlich markantere Linie fuhr, erfährt man nicht, wohl aber, dass Kohl als Sprachrohr Franz Josef Strauß’ fungiert habe (S. 184).

Vor allem ist indes die ahistorische Verknüpfung von Biographie und Politik zu bemängeln. Beispielsweise sieht Wicke die späteren geschichtspolitischen Ziele des Kanzlers bereits in Kohls jungen Jahren angelegt. Die Dissertation über „Die politische Entwicklung in der Pfalz und das Wiedererstehen der Parteien nach 1945“ von 1957 ist für Wicke kein wissenschaftlicher „Schnellschuss“ (Hans-Peter Schwarz), sondern der „early attempt to normalize German history“ (S. 179).

So facettenreich die Analyse der politischen Positionen Kohls vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte passagenweise ist, so kurzsichtig erscheint die Interpretation in der Gesamtschau. Kohl sind bei Wicke beinahe alle Charakteristika des „personal nationalism“ bereits in die Wiege gelegt. Der Autor glaubt offenbar, dass sich der 15-jährige Helmut Kohl, der das Kriegsende in Berchtesgaden erlebte, schon 1945 auf dem Rückweg nach Ludwigshafen als zukünftigen Gestalter Deutschlands imaginierte: „The search for normality that began with his walk from Berchtesgaden would become his life’s task.“ (S. 101) Dass Kohl dies – wenn auch wesentlich vorsichtiger formuliert – in seinen Memoiren so andeutet, ist natürlich Arbeit am eigenen Mythos.3 Hier hätte Wicke die retrospektive Selbstdeutung eines ehemaligen Spitzenpolitikers aber gründlich hinterfragen müssen. Nicht nur lässt Wickes „intentionalistische“ Sichtweise wenig Raum für eine ergebnisoffene Interpretation des jungen Kohl, die Berücksichtigung späterer Einflüsse auf dessen Lebensweg oder auch die Gewichtung des für Kohl so typischen Lavierens. Deutlich wird auch, wie problematisch der inflationäre Gebrauch des Wortes „normality“ in der vorliegenden Studie ist.

Das Erklärungspotential dieses Schlüsselbegriffs von Wickes Argumentation muss höchst fragwürdig erscheinen.4 Für ihn ist „normality“ nicht nur ein biographisch bedingtes politisches Programm Kohls, das dieser bewusst in der Öffentlichkeit propagierte und mit autobiographischen Verweisen zu verkörpern suchte – sondern Wicke geht davon aus, es gebe tatsächlich einen nationalen Normalzustand, auf den die deutsche Geschichte zulaufe („road to normality“, S. 198; ähnlich unter anderem: S. 3, S. 184, S. 189, S. 216). Das notwendige Ergebnis sei ein gesamtdeutscher Nationalstaat, der sich in puncto Nationalstolz nicht mehr von seinen westlichen Nachbarn unterscheide und dem nur noch das „Stigma“ der NS-Vergangenheit im Wege stehe.

Auf Basis von Wickes apodiktischer Definition – „being nationalist means being normal“ (S. 207) – lässt sich eine solche Entwicklung zwar konstruieren. Übersehen wird dabei jedoch, dass ganz grundsätzlich zwischen der politischen Inszenierung von „normality“ durch den Protagonisten der Studie und „normality“ als Begriff zur historischen Analyse hätte unterschieden werden müssen. Anders gesagt: Es ist durchaus lohnend, die Normalisierungs-Rhetorik der Ära Kohl zu untersuchen, doch taugt dieser Begriff nicht, um die Wandlungsprozesse der Bundesrepublik seit den 1980er-Jahren (oder womöglich schon seit den 1950er-Jahren) bis in die Gegenwart zu beschreiben. Hier hätte eine diskursgeschichtlich informierte Herangehensweise, die Begriffe reflektiert, historisiert und auch in ihren Widersprüchen anerkennt, zu einem überzeugenderen Ergebnis geführt.

Anmerkungen:
1 Jürgen Habermas, Meine Jahre mit Helmut Kohl, in: ZEIT, 11.3.1994, S. 76, <http://www.zeit.de/1994/11/meine-jahre-mit-helmut-kohl> (08.07.2015).
2 Jüngst vor allem Hans-Peter Schwarz, Helmut Kohl. Eine politische Biographie, München 2012, und Henning Köhler, Helmut Kohl. Ein Leben für die Politik. Die Biografie, Köln 2014. Siehe auch Helmut Kohl, Erinnerungen, 3 Bde., München 2004–2007.
3 Vgl. Helmut Kohl, Erinnerungen. 1930–1982, München 2004, S. 38-45.
4 Der Begriff findet sich in mehreren anglo-amerikanischen Studien zur politischen Kultur der „alten“ und „neuen“ Bundesrepublik, auf die sich Wicke auch bezieht, zum Beispiel bei Stuart Taberner / Paul Cooke (Hrsg.), German Culture, Politics, and Literature into the Twenty-First Century. Beyond Normalization, Rochester 2006.

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