J. Fülberth: Das Gefängnis Spandau 1918–1947

Cover
Titel
Das Gefängnis Spandau 1918–1947. Strafvollzug in Demokratie und Diktatur


Autor(en)
Fülberth, Johannes
Reihe
Schriftenreihe des Landesarchivs Berlin 17
Erschienen
Berlin 2014: be.bra Verlag
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Irmer, Berlin

Anfang September 1987 begannen britische Soldaten mit dem Abriss des 1881 errichteten Strafgefängnisses Spandau. Zuletzt hatte es 40 Jahre lang als Kriegsverbrechergefängnis für sieben hohe NS-Funktionäre gedient, darunter für den ehemaligen Rüstungsminister Albert Speer und den Hitlerstellvertreter Rudolf Heß. Nach dessen Selbstmord sollte die Haftstätte von der Bildfläche verschwinden, um nicht zu einer politischen Wallfahrtsstätte zu werden. Noch zu Lebzeiten von Heß hatten Rechtsradikale versucht, dort regelmäßig Kundgebungen abzuhalten.

Die Geschichte des Spandauer Gefängnisses vor 1945 wieder zugänglich gemacht zu haben, ist das Verdienst von Johannes Fülberth. In seiner als Promotion durchgeführten Untersuchung befasst er sich mit der Entwicklung der Haftanstalt in der Weimarer Republik und in der NS-Zeit. Die Funktion des Gefängnisses wechselte mehrfach: Ursprünglich wurde es als Festungsgefängnis des Heeres für Militärgefangene errichtet. Im Untersuchungszeitraum von Fülberth fungierte es als Straf- und seit Mitte der 1920er-Jahre als Gerichtsgefängnis, ab 1933 wieder als Strafgefängnis und schließlich ab 1943 als Untersuchungsgefängnis der Wehrmacht. Gleich blieb, dass Spandau immer ein Haftort für Männer war. Im Gefängnis Spandau wurden Untersuchungs- und Strafgefangene mit kurzen Freiheitsstrafen inhaftiert. Die Gefangenenstruktur mache Spandau, so Fülberth, „repräsentativ für das Gros der Berliner Verurteilten“ (S. 21). Die Mehrheit der Gefangenen saß wegen Eigentumsdelikten ein. Auch in Spandau waren hauptsächlich untere Gesellschaftsschichten vertreten, die dortige Haft sei „eine Form der Armutsverwaltung“ (S. 318) gewesen.

Eine wesentliche Voraussetzung für die Einordnungen von Fülberth ist die vergleichsweise gute Quellenlage. Erhalten sind 961 Personalakten von Gefangenen aus dem Zeitraum 1930 bis 1946, wobei sich viele dieser Unterlagen auf die Jahre 1938 bis 1942 erstrecken. Vor diesem Hintergrund verwundert es, dass erst jetzt mit der Aufarbeitung der Geschichte der Spandauer Haftanstalt begonnen wurde.1 Auch andere, vor 1933 errichtete Haft- und Verwahrorte wie das Arbeitshaus Rummelsburg oder die Zuchthäuser Brandenburg-Görden und Sonnenburg werden heute genauer in den Blick genommen.2 In vielen Fällen ist die Quellenlage zwar weitaus ungünstiger als für das Gefängnis Spandau. Entscheidend für die Vernachlässigung dieser Haft- und Verwahrorte scheint jedoch ein lange fehlendes Forschungsinteresse gewesen zu sein. Das legt jedenfalls die bahnbrechende Studie von Nikolaus Wachsmann nahe, der die Rolle und Bedeutung des Strafvollzugs in der NS-Zeit in das Blickfeld der zeitgeschichtlichen Forschung gehoben hat.3

Die Besonderheit der Fallstudie von Johannes Fülberth liegt im Vergleich der Entwicklung eines Berliner Strafgefängnisses in Weimarer Republik und NS-Zeit. Die Einleitung des Bandes ist eher knapp, auch weil die Quellenkritik in den Anhang ausgelagert wurde. Dort weist Fülberth aber auf ein sehr wichtiges Quellenproblem hin: das Fehlen von Erinnerungsberichten ehemaliger Gefangener. Spandau sei, so Fülberth, „weitgehend stumm“ (S. 333). Das gilt leider auch für viele andere Haft- und Verwahrorte. Zu den von Fülberth genutzten Quellen zählen auch Gefangenen-Beschwerden, die er im Anhang ebenfalls quellenkritisch thematisiert. Nicht weiter kommentiert werden hingegen die im Band enthaltenen interessanten Fotografien aus der Zeit des Ersten Weltkrieges sowie aus den 1980er-Jahren.

Bei der Gliederung seiner Arbeit hat sich Fülberth dafür entschieden, die beiden Zeitabschnitte getrennt in zwei Teilen abzuhandeln. In jeweils vorweg gestellten eigenen Einführungen geht er auf die jeweilige Entwicklung der Kriminalität und den Kriminalitätsbegriff sowie allgemeine Tendenzen des Strafvollzugs zwischen Reformdiskussionen in der Weimarer Republik und Radikalisierung in der NS-Zeit ein. Außerdem beleuchtet er kurz die Geschichte von Spandau als Militärgefängnis vor 1918 und nach 1943 sowie dessen weitaus bekanntere Nutzung nach 1945. Fraglich ist allerdings, ob bei seiner Beschreibung der Berliner Gefängnislandschaft auch alle NS-Zwangsarbeitslager mit in die Aufzählung aufgenommen werden können (S. 16). Hier wäre eher das der Gestapo unterstellte „Arbeitserziehungslager“ Wuhlheide zu nennen gewesen.

Beim eigentlichen Untersuchungszeitraum von 1918 bis 1945 befasst sich Fülberth jeweils mit den Belegungen, den Haftbedingungen, der Gefangenenarbeit, der Gefängnisverwaltung und ihren Akteuren sowie mit der medizinischen Versorgung und der Gefangenen-Seelsorge.

In der Weimarer Republik seien Reformbemühungen wie zum Beispiel im Zusammenhang mit der Arbeit der Gefangenen an „strukturellen Rahmenbedingungen“ gescheitert. Für Verbesserungen fehlten die staatliche politisch-moralische und finanzielle Unterstützung, aber beispielsweise auch bauliche Voraussetzungen. Das Gefängnis blieb ein Ort der Mangelverwaltung.

Bei der Untersuchung der NS-Zeit, dem umfangreicheren Teil der Arbeit, geht Fülberth ausführlicher auf die verschiedenen Gefangenengruppen ein und stellt Kurzbiografien von einzelnen Gefangenen vor. Zu den Besonderheiten in der NS-Zeit zählten neben den Verschärfungen der Haftbedingungen und den Veränderungen in der Gefangenenpopulation auch Zwangssterilisierungen oder die Verbindungen zum KZ Sachsenhausen. Nach der Machtübernahme machten die Nazis auch Spandau zu einem Haftort für politische Gegner. „An keinem anderen Ort“, so hebt Johannes Fülberth hervor, „war das linke und intellektuelle politische Berlin zu dieser Zeit so stark vertreten wie im Gefängnis Spandau (…)“ (S. 323). Zu den damaligen Gefangenen zählten Egon Erwin Kisch, Carl von Ossietzky, Hans Litten oder Paul Löbe. Die vielen politischen Gefangenen hätten im Gefängnis eine Art Gegenmacht etwa gegenüber den Aufsehern aufbauen können. Nach 1937 begann ein Gefangenenaustausch mit dem nahen KZ Sachsenhausen in Oranienburg, der sich vor allem auf „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ erstreckte. Während des Zweiten Weltkrieges wurden auch Mitglieder der Widerstandsgruppen der „Roten Kapelle“ in Spandau inhaftiert. Viele von ihnen wurden zum Tod verurteilt. Hingerichtet in Plötzensee wurden auch deutsche Soldaten, die im späteren Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis Spandau inhaftiert waren.

Die Antwort auf die zentrale Fragestellung der Untersuchung, wie sich Demokratie und Diktatur auf das Gefängnis auswirkten, sucht Fülberth vor allem in der Konstruktion eines Gefängnisses selbst. Dass Reformen während der Weimarer Republik an vielfältigen Widerständen scheiterten, die Nazis hingegen auf Ergebenheit stießen, führt der Autor, stärker als Wachsmann, auf „die innere Logik der Gefängnisorganisation“ zurück. Sie habe viel eher einem Strafvollzug entsprochen, der „auf Ausgrenzung und Härte setzte“ und so auch „dem Wunschvollzug der Nationalsozialisten“ (S. 328) entgegenkam. Spandau sei, so resümiert Fülberth, in der Weimarer Republik wie der NS-Zeit „ein durchaus funktionierendes Rädchen im staatlichen Disziplinierungs- und Justizapparat“ (S. 329) gewesen. Hier wären Vergleiche mit anderen Haft- und Verwahrorten wünschenswert. Im Fall des Arbeitshauses Rummelsburg stießen Reformversuche offenbar nicht bloß auf autoritäre Ordnungsvorstellungen in der Berliner Verwaltung, sondern auch auf politische Vorbehalte.

Den entscheidenden Grund für die Anpassungsbereitschaft des Strafvollzugs in der NS-Zeit sieht FüIberth in einem strukturellen Organisations-Konservatismus totaler Institutionen. Er bleibt aber etwas widersprüchlich in der Analyse. So weist er andererseits – ähnlich wie Wachsmann – auf die Bedeutung der Rolle von Akteuren wie den Gefängnisbeamten hin. Bei seiner Argumentation bezieht er sich auf Michel Foucaults „Überwachen und Strafen“, zeigt aber zugleich, dass die Haftbedingungen in Spandau nicht den von Foucault beschriebenen Zuständen entsprachen, sondern eher chaotisch waren. Wie stark die Einflüsse von außen waren, offenbaren schließlich auch die Entwicklungen in England und in den USA. Die dortigen Gefängnisse waren, so Fülberth, für Berlin architektonisch ein Vorbild gewesen. Weil diese Länder Demokratien blieben, wurden auch deren Haftanstalten keine Orte des Terrors wie die Gefängnisse im „Dritten Reich“. Die Diskussion über deren Rolle ist keineswegs abgeschlossen. Im Hinblick auf die Geschichte der preußischen Strafgefängnisse und die Rekonstruktion der Topographie totaler Institutionen ist Johannes Fülberth ein wichtiger, detailreicher wie anregender Beitrag gelungen.

Anmerkungen:
1 Bianca Welzing-Bräutigam, Zivile Haftanstalt – ein Archivbericht 1920–1945, in: Spandau – Wilhelmstraße 23. Festungsgefängnis, Zivile Haftanstalt, Alliiertes Kriegsverbrechergefängnis, hrsg. v. Bezirksamt Spandau von Berlin, Berlin 2005.
2 Hans Coppi / Kamil Majchrzak, Das Konzentrationslager und Zuchthaus Sonnenburg, Berlin 2015; Thomas Irmer, „…die sogenannten asozialen Elemente ebenfalls zur Vernichtung reif machen…“ – Das Berliner Arbeitshaus Rummelsburg zwischen Anfang und Ende der NS-Euthanasie, in: KZ Gedenkstätte Neuengamme (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Heft 17 (erscheint im März 2016); Silvia de Pasquale, Zwischen Resozialisierung und „Ausmerze“. Strafvollzug in Brandenburg an der Havel (1920–1945), Berlin 2013.
3 Nikolaus Wachsmann, Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat, München 2006.

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