Cover
Titel
Die Bombe als Option. Motive für den Aufbau einer atomtechnischen Infrastruktur in der Bundesrepublik bis 1963


Autor(en)
Hanel, Tilmann
Erschienen
Anzahl Seiten
264 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Geier, European Southern Observatory, Garching

Im Juni 2015 treten die internationalen Verhandlungsführer erneut zusammen, um nach jahrzehntelangem Streit nun endlich ein Abkommen mit dem Iran zu schließen, das die zivile Nutzung der Kernenergie ermöglichen, aber zugleich den Bau von Kernwaffen verhindern soll. Dass ein solches Unterfangen der Quadratur des Kreises gleicht, zeigt nicht nur die gegenwärtige Debatte. Die Trennung von ziviler und militärischer Nutzung der Kernenergie ist vielmehr ein Problem, das die Welt bereits seit der Entwicklung dieser Technologie beschäftigt – ein Problem, für das es, wie wir heute wissen, leider keine eindeutige Lösung gibt und das nicht nur Krisenregionen an den gefühlten Rändern der Welt betrifft.

Einen neuen Beitrag zur Grauzone zwischen militärischer und ziviler Nutzung der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland liefert das Buch von Tilmann Hanel. Es basiert auf einer an der Technischen Universität Darmstadt entstandenen Dissertation, die von Mikael Hård betreut wurde. Der Autor konzentriert sich dabei auf die Gründerjahre der bundesdeutschen Kernenergieentwicklung, beginnend Mitte der 1950er-Jahre bis zum Ende der Kanzlerschaft Konrad Adenauers 1963. Nach einem kurzen Kapitel über die Reaktorentwicklung im „Dritten Reich“ beschreibt Hanel die parallelen Kernenergieprogramme in Schweden und der Schweiz, die zumindest zeitweise von den entsprechenden Regierungen auch mit Hinblick auf eine militärische Dimension konzipiert wurden. Darauf folgt eine ausführliche Diskussion der Protagonisten des westdeutschen Kernenergieprogramms aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Militär. Schließlich beschreibt Hanel im Detail den Aufbau der ersten atomtechnischen Infrastruktur in Deutschland und diskutiert zum Schluss die bundesdeutsche Atompolitik. Die Arbeit stützt sich im Wesentlichen auf einschlägige Fachliteratur, Regierungsakten, aber auch auf umfangreiche Bestände des Kernforschungszentrums in Karlsruhe und Akten aus den Archiven involvierter Industrieunternehmen.

Insgesamt bekommt der Leser einen guten Überblick zu dieser Frühphase der Kernenergieentwicklung. Hanel belegt einmal mehr, dass die demonstrative Beschränkung der Bundesrepublik auf die rein zivile Nutzung von Kernenergie hochrangige politische Protagonisten keinesfalls davon abhielt, über eine militärische Nutzung nicht nur nachzudenken. Es ist bereits bekannt, dass sowohl Kanzler Adenauer als auch Atom- und Verteidigungsminister Strauß verschiedentlich versuchten, eine Mitbeteiligung an den Atomarsenalen der Verbündeten zu erreichen. Bislang unbekannt, wenn auch vermutet, waren entsprechende Überlegungen der Bundeswehrführung, die Hanel anhand von Akten aus dem Verteidigungsministerium nachweist. Überzeugend zeichnet der Autor zudem die Eigeninteressen jener Wissenschaftler nach, die sich in der so genannten Göttinger Erklärung 1957 demonstrativ gegen eine militärische Nutzung der Kernenergie aussprachen und damit die Bundesregierung in Bedrängnis brachten. Im Detail beschreibt Hanel zudem den Aufbau der ersten Atomanlagen mit einem berechtigten Schwerpunkt auf dem Kernforschungszentrum in Karlsruhe.

Das über weite Strecken ordentlich recherchierte und verständlich geschriebene Buch krankt allerdings leider an einer entscheidenden Stelle. Der Autor versucht auf Teufel komm raus nachzuweisen, dass es in der Bundesrepublik Deutschland geheime Bestrebungen gegeben habe, ein eigenes militärisches Nuklearpotential unter dem Deckmantel der zivilen Nutzung aufzubauen, scheitert aber aus Mangel an Beweisen. Hanel unterstellt früheren Arbeiten, „jegliche Beschäftigung mit der zugrunde liegenden Technik“ „unterlassen“ zu haben (S. 22) und erhebt den Anspruch, als erster die Verbindung zwischen technischer Entwicklung und Atompolitik herzustellen. Dieser starken These folgt aber leider eine viel zu stark vereinfachte Beschreibung dieser Technik. So wird aus dem Schwerwasserreaktor, einem der damals weltweit in der Entwicklung befindlichen Standardreaktortypen, eine für die zivile Nutzung weitgehend untaugliche, aber auf die Produktion von kernwaffenfähigem Plutonium optimierte Maschine. Dieser Logik folgend habe der in Karlsruhe entwickelte Mehrzweckforschungsreaktor (MZFR) in Wirklichkeit als Prototyp für eine militärische Nutzung gedient und nicht, wie sonst behauptet, als Testreaktor für Brennelemente. Es ist korrekt, dass Schwerwasserreaktoren vergleichsweise viel Plutonium erzeugen und häufig die Grundlage für militärische Nuklearprogramme in aller Welt bildeten. Allerdings wurden sie natürlich auch im Hinblick auf die zivile Nutzung entwickelt, denn das gewonnene Plutonium sollte als Brennstoff für die Brutreaktoren der zweiten Generation dienen. Dass sich der Brutreaktor schließlich als Sackgasse erwies, war zum damaligen Zeitpunkt beim besten Willen noch nicht abzusehen. Diese mögliche zivile Anwendung von Plutonium unterschlägt Hanel fast völlig. Außerdem erweckt er den Eindruck, dass andere Reaktortypen vergleichsweise harmlos seien – auch das eine gefährliche Verzerrung der Realität. Gerade die unklare Trennung von ziviler und militärischer Nutzung sollte hervorgehoben werden, statt mit den Mitteln der Vereinfachung eine solche Trennung in vornehmlich zivile oder militärische Anlagen zu suggerieren.

Nach Kräften bemüht sich Hanel, auch den Protagonisten aus der Atomwirtschaft militärische Hintergedanken nachzuweisen und einen vermeintlichen militärisch-industriellen Komplex aufzudecken. Vor allem das von ihm gut belegte und durchaus bemerkenswerte Interesse an einer Maximierung des Plutoniumertrags und einer Autarkie in der Brennstoffversorgung dienen ihm als Indizien. Auch die teils recht aufschlussreichen Exkurse zur Nazivergangenheit hochrangiger Vertreter der Atomwirtschaft werden bemüht. Die starke Betonung der exklusiv friedlichen Nutzung hält Hanel natürlich ebenfalls für verdächtig. Echte Belege für diese These findet man leider nicht. Einzig die Behauptung, der MZFR sei eigentlich vom Verteidigungsministerium finanziert worden, hätte durchaus Sensationspotential. Aber auch hier kann Hanel nichts wirklich Handfestes liefern: „Wie Kollert1 von einem ehemaligen Mitarbeiter Bagges [gemeint ist der Kernphysiker Erich Bagge] erfahren haben will, wurden diese [Mittel für den MZFR] zwar zunächst vom Atomministerium aufgebracht, aber anschließend […] durch das Verteidigungsministerium erstattet.“ (S. 159)

Bezeichnenderweise analysiert der Autor die Motive der Beteiligten aus Wissenschaft und Wirtschaft sehr differenziert und stellt auch fest, dass Faktoren wie wirtschaftliche Interessen, Angst vor Bedeutungsverlust oder Streichung von Mitteln entgegen seiner Kernthese oft zentrale Entscheidungen bestimmten. Schuldig bleibt Hanel die Antwort auf die einfache Frage, welche Vorteile die Atomwirtschaft denn von der Initiierung eines geheimen deutschen Nuklearwaffenprogramms hätte haben sollen. Der Aufbau eines militärischen-industriellen Komplexes mit dicken Staatsaufträgen für die Industrie nach dem Vorbild der Nuklearmacht USA war in der Bundesrepublik in Zeiten des Kalten Krieges schlicht undenkbar. Weder Freund noch Feind hätten einen solchen Schritt erlaubt. Ganz im Gegenteil spricht vieles dafür, dass die Atomwirtschaft krampfhaft versuchte, bloß nicht mit militärischen Fragen in Verbindung gebracht zu werden, weil sie daraus resultierende Nachteile fürchtete. In der Besatzungszeit war jedwede Beschäftigung selbst mit elementarster experimenteller Kernphysik deswegen strikt untersagt gewesen. Einige der späteren Protagonisten saßen aufgrund ihrer Involvierung in das deutsche Nuklearprogramm in Kriegsgefangenschaft. Noch 1960 wurden die Arbeiten an der Gasultrazentrifuge von einem Tag zum anderen auf Druck der Amerikaner wegen möglicher militärischer Anwendungen unter Geheimhaltung gestellt – woraufhin sich beteiligte Unternehmen umgehend zurückzogen. All diese wichtigen Fakten werden leider völlig übergangen.

Tilmann Hanel schreibt sich zudem auf die Fahne, die zweifelsfrei vorhandenen militärischen nuklearen Ambitionen in der Bundesrepublik erstmals weitgehend losgelöst von der bündnispolitischen Dimension zu betrachten. Doch da macht er seinen wahrscheinlich größten Fehler. Denn die bundesdeutsche Außenpolitik lässt sich im Kalten Krieg einfach nicht von der Bündnispolitik trennen. Bei dem Versuch, den Mythos von der rein zivilen Nutzung der Kernenergie in der Bundesrepublik zu revidieren, fällt der Autor auf einen anderen Mythos der Ära Adenauer herein: dass sich die Bundesrepublik mit der Erlangung der formalen Souveränität auch außenpolitisch wie ein normaler souveräner Staat verhalten konnte. Dem war aber nicht so.

Anmerkung:
1 Hanel bezieht sich verschiedentlich auf die ältere Arbeit von Roland Kollert, Die Politik der latenten Proliferation. Militärische Nutzung „friedlicher“ Kerntechnik in Westeuropa, Wiesbaden 1994.

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