Cover
Titel
Loki Schmidt. Die Biographie


Autor(en)
Lehberger, Reiner
Erschienen
Anzahl Seiten
479 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gisela Miller-Kipp, Philosophische Fakultät, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Der Untertitel gibt an, hier werde „die“ Biographie zu Loki [Hannelore] Schmidt vorgelegt – das ist einigermaßen mutig. Denn nicht nur ist die historische Biographie an sich eine schwierige und daher methodologisch viel diskutierte Gattung1, die Schwierigkeit steckt im vorliegenden Falle besonders auch in der Beziehung zwischen Biograph und biographischem Subjekt. Lehberger war 15 Jahre lang gut mit Loki Schmidt bekannt – ein Umstand nebenbei, dem der vorgelegte Band eine stattliche Zahl privater Fotodokumente verdankt –, und die „vielen persönlichen Gespräche und Erlebnisse“ mit ihr gehören zum „Basismaterial“ seines Werkes (S. 12). Diese Nähe erschwert die biographische Distanz. Wie geht Lehberger damit um? Kurz gesagt: gar nicht, er macht sie – sich – nicht zum Problem, pflegt vielmehr umstandslos die persönliche Erzählhaltung, berichtet oft plaudernd, gelegentlich anekdotisch; das biographische Subjekt heißt, mit wenigen stilistischen Ausnahmen, vertraulich „Loki“. Ist das eine angemessene Annäherung? Sind bei einer so außerordentlich sympathischen Person mit einem so ereignisgesättigten Lebenslauf biographische Analyse, gesellschaftliche Kontextuierung, historische An- und Rückfragen entbehrlich? – Nun, Lehberger liefert eine private, keine politische Biographie. Sie ist heterogen zusammengesetzt, reich an Information und Anschauung und angenehm zu lesen. Es ist gut, dass sie vorliegt, auch zum Vergleich mit der jüngsten Erzählung „Loki“ aus der Feder von Helmut Schmidt.2

Lehberger hat gründlich gearbeitet, er hat die einschlägigen Archive besucht, die umfangreiche Literatur zu Loki und, sofern biographisch relevant, auch die zu Helmut Schmidt zur Kenntnis genommen sowie zahllose – genau: 67! – Interviews und Telefonate mit Freunden, Bekannten, Weggefährten geführt. Alles ist im Anhang aufgelistet. Ein dort ebenfalls gegebenes Personenregister stellt dazu das stupende kommunikative Netzwerk „Loki-Schmidt“ namentlich vor. – Im Aufbau hält sich die Biographie an die viel zitierte Selbstaussage von Loki Schmidt: „in meinen 90 Lebensjahren war Platz für mindestens drei Leben“ (S. 9, Umschlagseite vier). Lehberger nimmt sie als „durchaus abzugrenzende“ Lebensbereiche (S. 9) und unterscheidet das „private“, das „politische“ (vgl. S. 9f.) und das wissenschaftliche Leben. In Wirklichkeit interferieren diese „drei Leben“ mannigfach, was schon die Zeittafel im Anhang erkennen lässt, die Abgrenzung übergeht den Zusammenhang des gelebten Lebens, sie ist eher analytisch als realistisch. – Im Übrigen schöpft Lehberger auch noch aus seinen beiden3 sowie aus weiteren veröffentlichten „Gesprächsbüchern“ (S. 11) mit Loki Schmidt und, natürlich, aus ihren eigenen autobiographischen Erzählungen. Vieles ist mithin bereits bekannt, hier wird es zusammengeführt. Natürlich ist es ein Kunststück, diese Materialfülle zu bändigen, natürlich musste Lehberger auswählen; nach welchen Gesichtspunkten er das tat, erfahren wir nicht.

Im ersten Teil also berichtet Lehberger vom „ersten“, dem vermeintlich „privaten“ Leben der Loki Schmidt, geb. Hannelore Glaser, und das in den drei zwischen 1919 (Geburt) und 1969 (Umzug von Hamburg nach Bonn) zeitlich abgesteckten Abschnitten: „Kindheit und Erwachsenwerden in einer proletarischen Familie“, „Berufstätigkeit und Familiengründung in Kriegsjahren“, „Neuanfang und ‚Aufstieg‘ der Familie Schmidt“. Dieser bürgerliche „Aufstieg“ ist insbesondere schon deshalb auch ein politischer Lebensabschnitt, weil er einherging mit der politischen Karriere von Helmut Schmidt, die Loki Schmidt entschieden mit trug, unabhängig davon, dass sie selbst als Lehrerin berufstätig war. – Der Bericht vom „ersten Leben“ ist historiographisch besonders gelungen mit der skizzenhaften sozio-politischen Einbettung der Familiengeschichte Glaser, mit überzeugenden schulhistorischen Miniaturen – hier schreibt Lehberger als ausgewiesener Kenner –, dabei der Andeutung der Bildungspotentiale einer damals „proletarischen“ Großfamilie ebenso wie die der reformpädagogischen Schule – Loki Schmidt besuchte die nachgerade berühmte Hamburger Lichtwark-Schule – und auch mit der nüchternen Schilderung einer Jugend und einer Schulkarriere „in der NS-Zeit“ (S. 62ff.), deren spätere innerfamiliale Diskussion mit Tochter Susanne im Zuge der Studentenproteste 1968 eingeschlossen (S. 155ff.). Darunter mischen sich aber auch banale bzw. überflüssige Mitteilungen wie etwa die, dass die Geburt Loki Schmidts „ohne Komplikationen“ verlaufen sei (S. 15), und eine falsche Schreibung des Namens ausgerechnet von Hugo Höppener alias „Fidus“4 als „Höppner“ (S. 24, S. 477).

Im zweiten Teil der Biographie wird aus den und von den „Bonner Jahren“ (1970–1982) erzählt, also aus dem „zweiten“, nunmehr vermeintlich „politischen“, besser aber: öffentlichen Leben von Loki Schmidt. Mit ihren eigenen Worten sieht sie sich darin als „Angeheiratete der Politik“ und, besonders in der Kanzlerzeit Helmut Schmidts (1974–1982), als „im Schaufester der Politik“ stehend. Diese Selbstwahrnehmung bezeugt freundlich-ironische Distanz zur politischen Rolle, der sie mit zähem Willen zur persönlichen Selbstbehauptung ein eigenes Format gibt. Sie bringt diesen Willen von frühen Jahren her mit, jetzt paart er sich nachlesbar mit außerordentlicher sozial-kommunikativer Kompetenz und findiger Alltagstüchtigkeit. Solcher biographischen Entwicklung geht Lehrberger jedoch nicht eigens nach. Vielmehr wird viel geplaudert von Staatsbesuchen, engen und weniger engen Beziehungen zu staatstragendem Personal usw. – weibliche Angehörige und entsprechende Anekdoten werden nicht ausgelassen.

Den „Bonner Jahren“ folgen „vier Exkurse: Privates und Politisches“ (S. 251ff.), in denen Lehberger unterbringt, was er aus diesen Jahren sonst noch für mitteilenswert hält, „Schönheitsreisen“ (S. 259) etwa und Fitnessübungen neben der Stellung Loki Schmidts zur Frauenbewegung der 1970er-Jahre und ihrer Stellung zur Partei (SPD) wie in der Partei. Der nachfolgende dritte Teil der Biographie gilt der Naturforscherin und Naturschützerin Loki Schmidt. Bekannt gemacht wird man hier durch Sach- und durch Erlebnisberichte von erdumspannenden Forschungsreisen sowie durch die Vorstellung des naturkundlich-ökologischen Engagements von Loki Schmidt mit einer großen wissenschaftlichen und bürgerpädagogischen Lebensleistung. Sie war in diesem Umfang und in ihren Einzelheiten so noch nicht bekannt. Dankenswerterweise dokumentiert Lehberger sie auch, indem er im Anhang die Forschungsreisen und Expeditionen (1976–1994), die vielen Auszeichnungen und Würdigungen Loki Schmidts sowie die nach ihr benannten Pflanzen und Tiere genau aufführt. – Als Antrieb für dies „dritte Leben“ vermutet Lehberger die „Suche nach eigenem Terrain“ (S. 232) in den „Bonner Jahren“, in denen ihr die großen Forschungs- und Expeditionsreisen ja erst möglich wurden, aber auch die Kompensation eines in der Jugend „verwehrten“ naturwissenschaftlichen Studiums (S. 277, S. 355), überdies sei Naturschutz bei Loki Schmidt „Herzensangelegenheit“ (S. 348, S. 359). Im Blick auf dieses Motivgeflecht zeigt sich eine tiefer liegende Kontinuität im Leben Loki Schmidts, der man auch hätte nachgehen können.

Das letzte Kapitel „Zurück in Hamburg“ (S. 365ff.) berichtet unzusammenhängend unter anderem von Besuchen in der DDR, von der Ehe der Schmidts – damit bedient Lehberger nun auch den Boulevard5 –, von Hamburger Gesellschaft und Geselligkeit. Interessant darunter ist die Mitteilung, dass die Schmidts eine „Freitagsgesellschaft“ unterhielten, die „der Berliner Mittwochsgesellschaft nachempfunden“ gewesen sei (S. 383), ein Hinweis freilich, der sich ohne historische Erläuterung nicht recht erschließt.6 Das „pädagogische“ (S. 385ff.) und das „politische Engagement“ (S. 389ff.) Loki Schmidts sowie ihr leidenschaftlicher Einsatz für ein Naturkundemuseum in Hamburg (S. 391) werden anschließend ins Licht gerückt, darauf folgt die „Bilanz eines Lebens“ (S. 415ff.). Sie fällt privatistisch, um nicht zu sagen nichtssagend aus, beschäftigt sich hauptsächlich mit den gesundheitlichen Problemen Loki Schmidts, dabei auch ihrer Begeisterung für Ginseng als Arznei, ferner mit dem bekannt lakonischen Duktus ihrer Rede. – Zum Schluss erzählt Lehberger vom familialen und vom öffentlichen Abschiednehmen von Loki Schmidt („die letzten Monate“, S. 421ff.). Hier nun kommt die freundschaftliche Verbundenheit zwischen Biograph und biographischem Subjekt positiv zum Tragen, Lehberger gelingt eine persönlich einfühlsame und taktvolle, auch anrührende Schilderung, so etwa, wenn er berichtet, dass Helmut Schmidt einmal versucht habe, seine dahindämmernde Frau „mit dem Pfiff der Schmidts“ anzusprechen, was diese wohl mit einem Lächeln beantwortet habe (S. 423).

Man beendet die Lektüre dieser Biographie mit großem Respekt vor der Lebensleistung und der Lebensführung dieser Frau, „einer Persönlichkeit von präziser Wißbegierde [Rechtschreibung im Orig.] und menschlicher Großzügigkeit. Nicht so kühl wie er [Helmut Schmidt, GMK], vermittelte Loki mit wenigen Worten Herzlichkeit und Sympathie“7 – so bündig Fritz Stern nach einem nur zweistündigen Gespräch mit Loki Schmidt. Zu diesem Charakter liefert Lehberger die unverzichtbare lebensgeschichtliche Anschauung.

Anmerkungen:
1 Vgl. zuletzt Bernhard Fetz (Hrsg.), Die Biographie – Zur Grundlegung einer Theorie, Berlin 2009.
2 In: Helmut Schmidt, „Was ich noch sagen wollte“, München 2015, S. 77–95. Die beiden Erzählungen weichen in einigen Punkten voneinander ab.
3 Loki Schmidt, „Mein Leben für die Schule“. Im Gespräch mit Reiner Lehberger, Hamburg 2005; Loki Schmidt mit Reiner Lehberger, Auf einen Kaffee mit Loki Schmidt, Hamburg 2010.
4 Der Maler des „Lichtgebets“, der Ikone der deutschen Jugendbewegung.
5 Den hat jetzt Helmut Schmidt selbst bedient mit seinem „Geständnis“ der Beziehung zu einer anderen Frau (Schmidt, „Loki“, S. 85).
6 Wahrscheinlich die Berliner Mittwochsgesellschaft 1863–1944; 1996 neu ins Leben gerufen von Marion Gräfin Dönhoff u. Richard v. Weizsäcker. Gemeint sein könnte aber auch die der politisch-pädagogischen Spätaufklärung verpflichtete Berliner Mittwochsgesellschaft von 1783–1798.
7 Fritz Stern, Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen, München 2007 (zuerst NY 2006), S. 524.

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