K. P. Hofmann u.a. (Hrsg.): Die Wikinger und das Fränkische Reich

Titel
Die Wikinger und das Fränkische Reich. Identitäten zwischen Konfrontation und Annäherung


Herausgeber
Hofmann, Kerstin P.; Kamp, Hermann; Wemhoff, Matthias
Reihe
MittelalterStudien des Instituts zur Interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens 29
Erschienen
Paderborn 2014: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
363 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Oertel, Historisches Seminar, Universität Erfurt

Die Christianisierung Skandinaviens und die Wechselwirkungen zwischen dem fränkischen Reich und den zu missionierenden Gebieten sind in der jüngeren Vergangenheit von einer Reihe von Forschern bearbeitet worden.1 Die dem hier zu besprechenden Band zugrunde liegende Tagung „Das Fränkische Reich als Vorbild? Zur Dialektik von Akkulturation und skandinavischer Identitätskonstruktion während der Wikingerzeit“ im Jahr 2010 führte vor allem deutsche und dänische Forscher zusammen. Dementsprechend fußen die Ergebnisse des Bandes in der Mehrzahl auf Quellen aus dem/n Fränkischen Reich/en und Dänemark. Da die Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Regionen das Thema des Buches bilden, erstaunt es ein wenig, wenn gleich zu Beginn Hermann Kamp in seiner „Einleitung“ schreibt: „Auch wenn es im 9. und 10. Jahrhundert zu vielfältigen Kontakten zwischen den Skandinaviern und den Franken gekommen ist, wird man doch aufs Ganze gesehen den fränkischen Einfluss auf das wikingerzeitliche Skandinavien eher geringer veranschlagen“ (S. 17). Zwar waren die fränkischen Einflüsse nach heutigem Kenntnisstand weniger direkt als die Forschung noch vor wenigen Jahren annahm, doch eine starke Beeinflussung der Entwicklungen – vor allem in Dänemark und der Normandie – im Sinne des Kulturtransfers kann den Franken wohl kaum abgesprochen werden.

Kerstin P. Hoffmann präsentiert in ihrem einleitenden Aufsatz „Akkulturation und die Konstituierung von Identitäten. Einige theoretische Überlegungen anhand des Fallbeispiels der hogbacks“ das theoretische Werkzeug für die Untersuchungen des Bandes (S. 21–50). Dabei stellt sie die Begriffe der „Identität“ (S. 22–26) und der „Akkulturation“ (S. 27–36) in den Mittelpunkt und versucht, aus den vielfältigen Definitionen und wissenschaftlichen Debatten zu diesen Begriffen, Interpretationen und Herangehensweisen zu definieren, die gleichermaßen für Archäologen und Historiker des Früh- und Hochmittelalters handhabbar sind. Dass die Anwendung des von ihr entwickelten Instrumentariums erfolgreich sein kann, beweist Hoffmann anschließend in ihrer Fallstudie zu den angelsächsischen hogbacks. Ihre (angenehm zurückhaltend vorgetragene) Interpretation dieser wahrscheinlich als Grabsteine gebrauchten und in sowohl skandinavischem als auch irisch-keltischem Stil verzierten Objekte stellt die hogbacks als möglichen Ausdruck einer nur kurze Zeit existierenden angelsächsisch-skandinavisch-irischen Mischkultur im nördlichen Britannien vor.

Rudolf Simek möchte in seinem Aufsatz „Die Gründe für den Ausbruch der Wikingerzeit und das fränkische Reich“ den monokausalen Ursachenbeschreibungen der zeitgenössischen christlichen Historiographen und der älteren Forschung („Überbevölkerung, Armut, Freiheitsliebe“) einen multikausalen Ansatz gegenüber stellen (S. 51–60). Dabei unterscheidet er zunächst zwischen Voraussetzungen und direkten Anlässen für die Wikingerzüge. Simek hat zweifellos Recht, wenn er sich gegen monokausale Erklärungsmodelle wendet und darüber hinaus z.B. darauf verweist, dass es im 8. Jahrhundert keineswegs eine Klimaabkühlung gegeben habe, die die Lebensbedingungen in Skandinavien verschlechtert habe. Seine Zusammenstellung der Voraussetzungen der Wikinger-Überfälle enthält keine Überraschungen.2 Neu sind seine Hypothesen zu den direkten Auslösern, die sich allerdings alle auf die Beziehungen zwischen Dänemark und dem Frankenreich Karls des Großen beziehen. Sie können also auch nur die Raubzüge der dänischen, nicht aber den Aufbruch der von weiter im Norden kommenden Wikinger begründen. Zumindest der Punkt des „missionarischen Druckes“ durch Hamburg-Bremen erscheint darüber hinaus diskussionswürdig. Wann genau das (Erz-)Bistum gegründet wurde, ist in der Forschung zwar nach wie vor umstritten.3 Dass es in den frühen 790er-Jahren, als die Wikinger-Überfälle wahrscheinlich begannen, noch nicht existierte, ist dagegen unbestritten. Es kann daher kaum als Auslöser für die frühen Raubzüge der Wikinger zur Geltung gebracht werden.

„Die Wirkmächtigkeit von Feindbildern – Die Wikinger in den fränkischen und westfränkischen Quellen“ untersucht Alheydis Plassmann (S. 61–83). Sie stellt zunächst die am häufigsten in den Quellen anzutreffenden Vorwürfe gegen die Wikinger zusammen und untersucht dann die Wirkung dieser Feindbilder sowohl auf die Franken als auch auf die Normannen. Dabei beschränkt sie sich weitestgehend auf das Verhältnis zwischen den Westfranken und den 911 in der Normandie angesiedelten Skandinaviern. Nach ihrer Analyse war die Wirkmächtigkeit der Feindbilder sowohl auf die Franken als auch auf die Normannen sehr groß. Das Feindbild der Wikinger als Geißel Gottes sei etwa deshalb „ein wichtiger Faktor beim Auseinanderfallen des Frankenreiches und dem Niedergang der karolingischen Dynastie“ (S. 76) gewesen, weil sich militärische Niederlagen der Franken durch „die theologischen Implikationen, die man daran knüpfte“ (ebd.), besonders negativ auf die Autorität des jeweiligen fränkischen Herrschers auswirkten. Auf der Seite der Normannen hätten einige Zuschreibungen keine Bedeutung für ihr Selbstbild gehabt (Grausamkeit, Beutegier), andere seien jedoch in positiver Wendung darin aufgenommen (List) oder in ihr Gegenteil verkehrt worden. Statt die „heidnische Geißel Gottes“ zu bleiben, wurden die Normannen so zu „Werkzeugen Gottes“ und traten an vorderster Front für die Belange der Kirchenreformbewegung des 11. Jahrhunderts ein.

Birgit Maixner untersucht in „Die Begegnung mit dem Süden. Fränkische Rangzeichen und ihre Rezeption im wikingerzeitlichen Skandinavien“ (S. 85–131) „statusindizierende karolingische Metallarbeiten“ (S. 97) und ihre Verbreitung in skandinavischen Gräbern der Wikingerzeit. Anhand einer Fülle von Beispielen (vor allem Schwertern) kann sie zeigen, dass erheblicher karolingischer Einfluss im Norden sowohl in Form von importierten original fränkischen Stücken als auch in Form von Imitationen skandinavischer Provenienz nachzuweisen ist. Für die meisten der vorgestellten Fundstücke erscheint eine Herkunft aus Handel oder Kriegsbeute allerdings als ebenso plausibel wie die von Maixner favorisierte Herkunft aus ritualisiertem Gabentausch. Überzeugend ist ihre Schlussfolgerung, dass sich in diesen repräsentativen Stücken besonders in Altdänemark eine „bewusste, kollektive Orientierung am fränkischen Vorbild“ zeige (S. 120). Eine „Emanzipation von dem Vorbild des mächtigen südlichen Nachbarn“ lasse sich „erst im fortgeschrittenen 10. Jahrhundert“ beobachten, der Zeit, „in der sich die dänische Königsmacht mit der Machtübernahme der Gormiden stabilisierte“ (S. 121).

In seinem Beitrag „Zwischen Innovation und Tradition. Der karolingische Einfluss auf das Münzwesen in Skandinavien“ führt Volker Hilberg zunächst in die fränkische und frühe skandinavische Münzgeschichte ein (S. 133–215). Dabei beleuchtet er vor allem die Funde fränkischer Prägungen und ihrer Imitationen im Norden. Während der ausführliche Aufsatz – auch im Lehrkontext – als ausgezeichnete Einführung in die numismatische Geschichte des Nord- und Ostseeraumes in der Wikingerzeit gelten kann, verzichtet Hilberg weitgehend auf Abstraktionen, zu denen Kerstin P. Hoffmann im einführenden Beitrag ermuntert hatte. Erfreulicherweise tut dies Heiko Steuer in dem zweiten Beitrag mit numismatischem Schwerpunkt „Mittelasien und der wikingerzeitliche Norden“ (S. 217–238), der, nachdem er den Fluss der Tausenden von Dirhems nachgezeichnet hat, von der „Akkulturation östlicher Elemente im Norden“ spricht (S. 236–238). Er kann islamische Einflüsse oder Einflüsse der arabischen Kultur anhand mehrerer Fundgruppen in Skandinavien aufzeigen. Nur die Verschlechterung des Silbergehaltes der arabischen Münzen und der daraus resultierende Abbruch der Handelsbeziehungen in den Norden sorgten seiner überzeugenden Darstellung nach dafür, dass sich diese Einflüsse nicht langfristig in den osteuropäischen Wikingerreichen und möglicherweise auch im Ostseegebiet durchsetzen konnten.

Die nächsten beiden Beiträge des Bandes beleuchten den Glaubenswechsel im Norden aus verschiedenen Perspektiven. Zunächst stellt Lars Jørgensen die Kultplätze der altnordischen Religion und ihr (auch räumlich) enges Verhältnis zu den weltlichen Eliten in den Mittelpunkt seines Aufsatzes „Norse Religion and Ritual Sites in Scandinavia in the 6th–11th Century [sic]“ (S. 239–264). Er betont, dass – zumindest in einigen Regionen Skandinaviens – diese Kontrolle der weltlichen Aristokratie über Kultangelegenheiten auch noch in der frühen Phase der Christianisierung sichtbar bleibe und dieses Element der Kontinuität den Glaubenswechsel erleichtert habe. Sichtbar werde dies durch die Kontinuität der Kultplätze in direkter Nähe zu den Höfen der regionalen Herrscher. Jens Peter Schjødt hebt in seinem Beitrag „Paganism and Christianity in the North. Two Religions – Two Modes of Religiosity” auf die fundamentalen Unterschiede im Wesen der beiden miteinander in Kontakt und Konflikt kommenden Religionen ab (S. 265–274). Seine Beschreibung der beiden Religionen beinhaltet zunächst keine grundsätzlich neuen Einsichten.4 Interessant sind aber Schjødts Überlegungen zum Zusammenhang zwischen dem „Sieg” des Christentums und der schriftlichen Form der Fixierung seiner Inhalte, und schließlich machen sein lebendiger Stil und seine alltagsnahen Erklärungsmodelle den Aufsatz auch für Nichtexperten lesenswert.

Anne Pedersen fasst in ihrem Beitrag „Jelling im 10. Jahrhundert – Alte Thesen, neue Ergebnisse“ zunächst die Geschichte der Ausgrabungen dieses Monumentalbaus des 10. Jahrhunderts in Dänemark zusammen, bevor sie die Ergebnisse der neuesten Ausgrabungen 2009/10 vorstellt (S. 275–295). Im Lichte dieser neuen archäologischen Untersuchungen erscheinen die an sich schon gewaltigen Hügelgräber nur noch als Teil einer ca. 350 Meter langen schiffsförmigen Steinsetzung, die von einem rautenförmigen Palisadenzaun umgeben war. Besonders interessant ist der Befund, dass weder der Palisadenzaun noch einige dazugehörige Häuser Spuren von Reparaturen aufweisen, also nur kurze Zeit in Benutzung waren. Dieses Charakteristikum stellt die Anlage von Jelling in eine Reihe mit der monumentalen Brücke von Ravning Enge und den Ringburgen des Trelleborg-Typs. Mit der Diskussion genau dieses Zusammenhangs beginnt Jörn Staecker seinen Beitrag „Der Glaubenswechsel im Norden – Die Neukonzeptionalisierung Dänemarks unter König Harald Blauzahn“, der den Band beschließt (S. 297–359). Außerdem stellt er einige dänische Runensteine, den Bamberger und den Camminer Schrein sowie eine Reihe kleinerer Stücke (Münzen, Anhänger, Thorshämmer) und ihr jeweiliges Bildprogramm vor. Im Vergleich der zahlreichen Monumente und Gegenstände kommt er zu dem Ergebnis, „dass der dänische König [Harald Blauzahn] ein schon nahezu als unglaublich zu bezeichnendes Programm durchführte, welches zu einer Neukonzeption des Reiches führte“ (S. 352), die ausdrücklich keine imitatio imperii darstellte, sondern Altes und Neues zu etwas Eigenem verband.

Der Band als Ganzes stellt eine Mischung aus der Vorstellung neuer Forschungsergebnisse, der Vertiefung von Aspekten bereits veröffentlichter Monographien und Aufsätzen mit Überblickscharakter dar. Trotz (oder gerade wegen) dieser Heterogenität gewinnt der Leser einen guten Überblick über den Stand der Forschung zu den Wechselwirkungen zwischen dem Fränkischen Reich und seinen nördlichen Nachbarn. Eine größere Geschlossenheit der Einzeldarstellungen hätte möglicherweise durch eine konsequentere Anwendung der von Kerstin P. Hoffmann eingeführten Begriffe und Konzepte erreicht werden können.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Jan Rüdiger / Thomas Förster, Aemulatio – Recusatio. Strategien der Akkulturation im europäischen Norden, in: Reinhard Härtel (Hrsg.), Akkulturation im Mittelalter, Ostfildern 2014, S. 441–497; Erik Gunnar Niblaeus, German Influences on Religious Practice in Scandinavia, c. 1050–1150, Diss. London, download: <https://kclpure.kcl.ac.uk/portal/en/theses/german-influence-on-religious-practice-in-scandinavia-c-10501150%2869883e31-9a94-4527-97b5-7ec9a05afd9c%29.html> (22.07.2015).
2 Eine ähnliche Zusammenstellung wie Simek nimmt bereits Horst Zettel, Das Bild der Normannen und der Normanneneinfälle in den westfränkischen, ostfränkischen und angelsächsischen Quellen des 8. bis 11. Jahrhunderts, München 1977, S. 13–24 vor.
3 Vgl. dazu zuletzt: Eric Knibbs, Ansgar, Rimbert and the forged Foundations of Hamburg-Bremen, Farnham 2011; Theo Kölzer, Ludwigs des Frommen „Gründungsurkunde“ für das Erzbistum Hamburg, in: Archiv für Diplomatik 60 (2014), S. 35–68; Henrik Janson, Ansgar und die frühe Geschichte des Erzbistums Hamburg, in: Rainer-Maria Weiss / Anne Klammt (Hrsg.), Mythos Hammaburg. Archäologische Entdeckungen zu den Anfängen Hamburgs, Hamburg 2014, S. 262–268.
4 Vgl. zur Charakteristik der altnordischen Religion z.B. Olof Sundqvist, Art.: Siðr, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 28, Berlin 2005, S. 273–276.