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Titel
Mitten in Europa. Verflechtung und Abgrenzung in der Schweizer Geschichte


Autor(en)
Holenstein, André
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Béatrice Ziegler, Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) und Historisches Seminar, Universität Zürich

„Die Schweiz ist fundamental verunsichert.“ Der erste Satz des Buches von André Holenstein bezieht sich – wenn auch nur implizit – auf den thematischen Kern seines Buches. Es handelt davon, welche Identität sich die Schweiz heute mit Bezug auf die Geschichte der alten Eidgenossenschaft gibt. Der Autor erwartet von dieser Beschäftigung mit der frühneuzeitlichen Geschichte Orientierung für die Zukunft. Den Bedarf an Orientierung ortet er in einer aktuellen und akuten Identitätskrise. Diese sei ihm „Anlass“, wenn auch nicht die „tiefere Motivation“ zu seinem Buch, das er als historischen Kommentar zu europapolitischen Debatten in der Schweiz versteht. Die Krise sieht er von drei Entwicklungen verursacht: Die Globalisierung der Wirtschaft mit ihrer „Dynamisierung der Warenströme“, aber auch den Wanderungsbewegungen, die Internationalisierungstendenzen im Rechtssystem sowie die Erschütterungen des Finanzsystems und die Staatsverschuldungskrise hätten seit 1989 die Rahmenbedingungen des Selbstverständnisses der Schweiz zunehmend ausgehöhlt.

Es entspricht der geschichtspolitischen Situierung des Buches und der Adressierung an eine interessierte Öffentlichkeit, dass – wie der Autor selbst anmerkt – die historischen „Tatsachen“, mit denen er sich befassen will, bekannt sind (S. 15). Als neu sieht er aber zu Recht seinen Versuch, die Verflechtung als leitenden Gesichtspunkt für die historische Darstellung zu wählen. Um eine Verflechtungsgeschichte schreiben zu können, befasst sich Holenstein dabei einleitend mit den „Sackgassen und toten Winkeln eines nationalen Geschichtsverständnisses“ (S. 15). Er bezeichnet damit die Art und Weise, wie in einem tradierten Verständnis von Schweizergeschichte die Geschichte des Föderalismus, der Souveränität und der Neutralität erzählt werden. Er führt dagegen die Bedeutung ausländischen Einflusses bzw. ausländischer Interventionen ins Feld und will damit die bisherige Tradierung der Herausbildung aller drei Konzepte korrigieren. Der dritte Teil des einführenden Kapitels klärt das historische Subjekt „Eidgenossenschaft“, wobei Holenstein aktuellem Forschungsstand entsprechend den Beginn seiner Entstehung im 15. Jahrhundert – und eben nicht im 13. Jahrhundert (Mythen vom Rütlischwur und des Apfelschusses durch Tell) – ansetzt.1

Im zweiten und umfassendsten Kapitel befasst sich Holenstein mit den „Verflechtungen in der alten Schweiz“. Der Überblick über das Soldwesen und die Auswanderungen der alten Eidgenossenschaft liefert wertvolle Zusammenfassungen, die so noch nie zur Darstellung kamen. Dabei werden für die militärische Arbeitsmigration weniger die Lebensläufe und Lebensbedingungen von Söldnern dargestellt, als vielmehr die Abfolge der Regime in den eidgenössischen Orten, aus denen insgesamt Hunderttausende in die europäischen Kriege zogen. Wichtig für den Verflechtungszusammenhang sind die Einflüsse, die das Soldwesen auf die Gesellschaften der eidgenössischen Orte nahm. Es wird dabei deutlich, dass die in der Öffentlichkeit rezipierte Geschichte der alten Eidgenossenschaft bislang viel zu wenig Gewicht auf die Bedeutung des Solddienstwesens gelegt hat und dass insbesondere das Potential an Gewalt und Konflikt, das die ‚Reisläuferei’ in und zwischen den eidgenössischen Orten barg, aber auch die vielfältigen (finanziellen) Abhängigkeiten aus dem Solddienstwesen außerhalb der Fachkreise kaum wahrgenommen worden sind.

In der Darstellung der zivilen Arbeitswanderung, die zahlenmäßig weniger bedeutend war als die militärische, stellt Holenstein die Wanderungsbewegung unterschiedlicher Berufsgruppen vor, was gleichzeitig in der Regel auch eine zuordenbare regionale Herkunft impliziert. Holenstein nutzt hier die Erkenntnisse der an der internationalen Wanderungsforschung orientierten kontinuierlich erfolgten Erforschung der schweizerischen Auswanderung und stellt sie anschaulich dar. Er betont, dass die berufliche Zusammensetzung (Zuckerbäcker, Handwerker, Baufachleute, pädagogisches Personal, Gelehrte) und (häufig ländliche oder alpine) Herkunft der Aus- und Rückwandernden zeige, dass in der Bevölkerung der Eidgenossenschaft entgegen nach wie vor gehüteter Topoi sehr flexibel und mobil auf die Möglichkeiten des Erwerbs und der beruflichen Entwicklung im Ausland reagiert worden sei. Das Unterkapitel wird abgeschlossen mit der Darstellung der Einwanderung der protestantischen Glaubensflüchtlinge in die Eidgenossenschaft, die nie den Charakter einer Masseneinwanderung erreichte, die aber der schweizerischen Wirtschaft wichtige Industrialisierungsimpulse gegeben hat.

Im folgenden Unterkapitel über die kommerzielle Verflechtung thematisiert Holenstein zuerst die vielfältigen Handelsbeziehungen der ländlichen Orte, die die Voraussetzung für die Spezialisierung auf die Viehzucht und die entsprechenden Produkte darstellten. Danach geht er auf den gewerblichen und Textil-Export ein, auf die Etablierung von Handelshäusern im Ausland und ihre Bedeutung für den Import-Export-Handel sowie auf die sich intensivierenden Finanzströme zwischen schweizerischen Städten und europäischen und überseeischen Partnern. Grundlage für diese Darstellung sind die vielen Forschungsarbeiten zu einzelnen Gewerben, Handelshäusern und ausländischen Handelsstationen, die die bedeutsamen Handels- und Finanzströme belegen, ohne dass der Stoff für solche Forschungen auch nur im entferntesten erschöpft wäre.2

Als letzten Teilbereich stellt Holenstein die außenpolitische und diplomatische Verflechtung der alten Eidgenossenschaft dar. Dabei thematisiert er spannende Fragen, wie etwa diejenige, ob die alte Eidgenossenschaft überhaupt eine Außenpolitik betrieben habe, oder ob nicht die Beziehungen zwischen den Orten als außenpolitische zu charakterisieren wären, und argumentiert, dass für eine solche Sichtweise die zahlreichen Kriege untereinander sprechen. Die bisherige Orientierung der Geschichtsschreibung an einer Darstellung des Einigungswillens der eidgenössischen Orte hat bis heute weitestgehend verhindert, dass diese kriegerischen Auseinandersetzungen in ihrer Häufigkeit und Heftigkeit, aber auch in ihrer strukturellen Begründung in Darstellungen für die Öffentlichkeit und Schule einbezogen wurden.3 Die Entwicklung der europäischen Sicherungs- und Bündnissysteme und die Stellung und das Verhalten der Schweiz in denselben zeigen die ambivalenten Wirkungen von äußeren Zwängen und die begrenzten Möglichkeiten des Handelns der alten Eidgenossenschaft bzw. ihrer einzelnen Orte. Eine spannende Darstellung dieses diplomatischen Geschehens und überaus aussagekräftige Abbildungen in hervorragender Qualität führen zur Diskussion der Rückwirkungen der thematisierten Verflechtungen auf die Machtverhältnisse in den eidgenössischen Orten bzw. auf die Entwicklung der Staatlichkeit der Schweiz. Aus diesem Kapitel geht die unmittelbare Folgerung hervor, dass die Schweiz schon in der alten Eidgenossenschaft eine lange Tradition der Verflechtungen kannte und dass diese Verflechtungen in entscheidendem Ausmaß zur Ausprägung der staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen beitrugen, die dem späteren föderalen und liberalen Bundesstaat zugrunde liegen. Es kann damit als das Kernstück der verflechtungsgeschichtlichen Argumentation eingeschätzt werden.

Im folgenden Kapitel zu den Abgrenzungen stellt Holenstein die Entwicklungen hin zu den Versatzstücken einer „schweizerischen Identität“ dar. Die Praxis und die diskursive Bearbeitung von „Neutralität“, die Selbststilisierung der "Eidgenossen" als vom Adel abzugrenzende einfache Bauern, die innereidgenössischen Auseinandersetzungen um die Haltung zu Solddienst und europäischen Konflikten und die allmähliche Konstruktion eines ‚Nationalcharakters’ illustrieren Holensteins Ansatz, solche Konstrukte als Identitätsfindungen zu interpretieren, die auf der Folie von Fremdzuschreibungen und Rollenzuweisungen zustande kamen.

Rollen und Rollenbilder eines Kleinstaats im 19. und 20. Jahrhundert umreißen die (Selbst-)Konstruktion des Nationalstaates als Sonderfall und die Rückbezüge auf die Verhältnisse und Entwicklungen in der alten Eidgenossenschaft. Teile dieser Darstellung sind auch in anderen thematischen Zusammenhängen in der Öffentlichkeit diskutiert worden, etwa im Kontext einer kritischen Beleuchtung des Sonderfall-Denkens oder bei Phänomenen des Kulturprogramms der Geistigen Landesverteidigung.4 Im Kontext von Verflechtung und Abgrenzung ist die Darstellung aber von Bedeutung, weil sie einerseits die Tradierung und andererseits die flexible Anpassung von zunehmend mythischen Bezügen auf die alte Eidgenossenschaft und damit den politischen Charakter dieser Darstellungen sichtbar macht.

Zum Abschluss verdeutlicht Holenstein nochmals, welche Interpretation der Darstellung zugrundliegt und von dieser gleichzeitig bestätigt wird: „Schweizergeschichte […] ist transnationale Geschichte und muss aus dieser Perspektive erzählt werden“. (S. 245) In diesem Zugang sieht er die Grundlage für eine realistische Beurteilung als Voraussetzung für die Bewältigung der „Herausforderungen des Wandels“ (S. 261). Er sieht in der Transnationalität die condition d’être der Schweiz – eine Schlussfolgerung, die er seiner historischen Darstellung durchaus überzeugend zugrunde zu legen vermag. Deren zentrale Bedeutung begründet er so: „Der transnationale Blick auf die Schweizer Geschichte trägt zu einer angemessenen Wahrnehmung von Grössenrelationen, von Kräfteverhältnissen und vom Gewicht der Akteure bei. Er sensibilisiert für die europäische Dimension der nationalen Geschichte[…]“. (S. 261) Im Fall der transnationalen Geschichte der Schweiz sieht Holenstein beträchtlichen Erkenntnisgewinn, der zu einem realistischeren Selbstbild und damit auch zu einer realistischeren politischen Haltung führe. Dabei kann er es sich nicht verkneifen, in der vergleichenden Perspektive auch Erkenntnisse aus der schweizerischen Geschichte für Europa zu erkennen, indem er meint, der schweizerische Einigungsprozess mache sensibel für Einsichten, die auch im europäischen Einigungsprozess von Nutzen wären.

Das Buch von André Holenstein ist ein großer Gewinn. In gut lesbarer Sprache geschrieben und mit einer klaren Gliederung strukturiert, vermag es sowohl die historische Darstellung als auch die politische Reflexion dazu einsichtig zu vermitteln. Hilfreich wäre es im Sinne der Stärke der Darstellung gewesen zu verdeutlichen, weshalb die Abgrenzungsgeschichte im Gegensatz zur Verflechtungsgeschichte eher knapp ausgefallen ist. Nicht ganz überzeugend erscheint zudem die Ausschließlichkeit, mit der die Identitätskonstruktionen als Reaktion auf Fremdzuschreibungen begründet werden.

Aus wissenschaftlicher Sicht muss allenfalls zum einen angemerkt werden, dass etwas zu selbstverständlich mit den begrifflichen Unschärfen der Transnationalität umgegangen wird, was durchaus in der gegenwärtigen, etwas saloppen wissenschaftlichen Begriffsdiskussion und -verwendung begründet liegt. Zum anderen wäre zu wünschen gewesen, die Diskussion und die Bezüge zur Orientierungsleistung von Geschichte nicht quasi im vor-wissenschaftlichen Kommentar zu belassen, sondern mit den Literaturangaben auch hier deutlich zu machen, dass es mittlerweile eine ernst zu nehmende theoretische Auseinandersetzung gibt, mit der gegen allfällige Banalisierungen der gesellschaftlichen Funktionen von Geschichte entgegengehalten werden kann.

Diese Anmerkungen sollen aber den Wert und die Qualität des Buches nicht herabmindern. Es liegt ein überaus anregender und aufschlussreicher historischer "Kommentar" zu gegenwärtigen historisch-politischen Diskussionen vor. Der Versuch, die Geschichte der alten Eidgenossenschaft als Verflechtungsgeschichte darzustellen, ist völlig überzeugend gelungen. Außerdem erweist sich auch die durchgehaltene Mehrebenen-Erzählung (von einzelnen eidgenössischen Orten und ihren Konflikten untereinander und der alten Eidgenossenschaft als sich verfestigendem institutionellen Gebilde) als überaus inspirierend. Beides sollte inskünftig als Ausgangspunkt des Nachdenkens über die Geschichte der Schweiz und deren Bedeutung für die heutige Positionsbestimmung nicht mehr vernachlässigt werden.

Anmerkungen:
1 Hierzu Roger Sablonier, Gründungszeit ohne Eidgenossen, Baden 2013. Für eine breitere Öffentlichkeit neu erzählt: Bruno Meier, Von Morgarten bis Marignano, Baden 2015.
2 Häufig handelt es sich aufgrund der Quellenlage allerdings um Forschungen zum 19. und 20. Jahrhundert. Dennoch sind die Spuren noch unerforschter Akteure, von Kaufleuten, Gewerbetreibenden und so fort früherer Jahrhunderte unübersehbar.
3 Vgl. dazu auch Bruno Meier, Von Morgarten bis Marignano, Baden 2015 und Thomas Maissen, Schweizer Heldengeschichten – und was dahinter steckt, Baden 2015.
4 Die Dekonstruktion der Gründungsmythen in den 1960er- und 1970er-Jahren wollte den mythischen Charakter der Gründungsgeschichte nachweisen. Dies allein stellte damals ein bilderstürmerisches Unterfangen dar. Gleichzeitig stand aber nicht im Fokus systematisch aufzuarbeiten, welche Funktionen die Tradierungen der Mythenkonstruktionen über die Zeiten hinweg für die Gestaltung der Machtverhältnisse und die Bestimmung der politischen Ordnung jeweils eingenommen haben. Diese Differenz ist es denn auch, die Oliver Zimmer jüngst hervorgehoben hat, als er beschied, die Dekonstruktion der Mythen sei nicht mehr innovativ, es brauche die Auseinandersetzung damit, wann von wem weshalb Mythen als wahr gepriesen und geglaubt worden seien: Oliver Zimmer, Politische Bühne und historischer Strohmann, in: Neue Züricher Zeitung, 8.4.2015, <http://www.nzz.ch/meinung/debatte/politische-buehne-und-historischer-strohmann-1.18517677> (26.08.2015).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/