W. Schivelbusch: Das verzehrende Leben der Dinge

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Titel
Das verzehrende Leben der Dinge. Versuch über die Konsumtion


Autor(en)
Schivelbusch, Wolfgang
Erschienen
München 2015: Carl Hanser Verlag
Anzahl Seiten
190 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Torsten Cress, Institut für Soziologie, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch wirft in seinem Essay neues Licht auf den Verbrauch der Dinge. Es geht ihm um die Beschreibung der Konsumtion als Interaktion zwischen Subjekt und Objekt, in der sich Mensch und Produkt wechselseitig durchdringen und transformieren. Konsumtion erscheint hier als „das physische Zusammentreffen des konsumierten Objekts mit dem konsumierenden Subjekt“, als „Verzehr des einen durch das andere“ (S. 9). Das sich mitunter auf Marx stützende Verständnis, wonach Konsumtion immer auch Destruktion bedeutet, dabei aber zugleich ein schöpferischer Akt ist, entwickelt der Autor von der „Urkonsumtion“ (S. 15) der Nahrungsaufnahme her, überträgt seine Überlegungen jedoch auch auf den Gebrauch der Dinge: Wo etwa Gebrauchsspuren entstehen, sich die Substanz der Dinge allmählich abträgt, wird sichtbar, dass Gebrauch immer auch Verbrauch bedeutet. Der Konsument bleibt von diesem Verhältnis nicht unberührt: Wie der Fuß nach und nach den Schuh modelliert und sich dadurch etwas vom Benutzer auf den Schuh überträgt, so findet umgekehrt ein „mikroskopischer Transfer vom benutzten Objekt auf den Benutzer“ statt (S. 11). Dass es vor allem die „industrielle Uniformität“ (S. 24) des Schuhs ist, die hier übertragen wird, verweist auf eine zentrale Frage des Buches: Wie verändert die industrielle Massenproduktion den Charakter der Dinge, das Verhältnis zwischen Produzent und Konsument, und damit auch: das Verhältnis des Menschen zum Gut?

Der Autor fundiert die Idee des im Akt der Konsumtion sich vollziehenden Austauschs mit Rückgriff auf die antike Naturphilosophie. Im Mittelpunkt steht hier die heraklitische, als Vorwegnahme des modernen Stoffwechselbegriffs erläuterte Vorstellung, dass die Dinge ständig etwas abgeben und es durch die Aufnahme von etwas Neuem ersetzen. Heraklits panta rhei („alles fließt“) steht hier Pate, erweitert um Platons Variante des panta chorei, welches das Ab- oder Wegfließen (aporrhoe) betont, und den antiken Atomismus, mit dem die aporrhoe als Loslösung und Abfließen der Atome von den Dingen erscheint. Jedes Verhältnis der Dinge zu ihrer Außenwelt ist so gesehen ein kontinuierliches wechselseitiges Abgeben und Aufnehmen. Ähnlich ist es bei der Nahrungsaufnahme und -assimilation, die sich mit Heraklit als Kampf zwischen dem Verzehrenden und der Nahrung beschreiben lässt, mit Hegel als Umwandlung der Nahrung in das Blut, das den ganzen Körper aus sich hervorbildet.

Die Vorstellung vom Blut als „produktiver Arbeiter des Organismus“ (S. 52), so der Autor weiter, liegt auch derjenigen der produktiven Ökonomie zugrunde. Das im „Tableau Économique“ (1758) entworfene Kreislaufmodell des Ökonomen François Quesnay, das den landwirtschaftlichen Produktionsgang als einen jährlichen Zyklus von Investition, Anbau und Ernte beschreibt, erscheint als Übertragung der biologischen Assimilation des offenen Blutkreislaufs auf den landwirtschaftlichen Prozess der Konsumtions-Produktion. Die „kopernikanische Wende“ (S. 61) dieses physiokratischen Kreislaufmodells für die Ökonomie sieht Schivelbusch in der Umkehrung des Verhältnisses von Produktion und Konsumtion: Das Weizenkorn verbraucht die Nährstoffe des Bodens, die Luft der Atmosphäre und das Licht der Sonne, der Gesamtprozess die Investition von Kapital – im physiokratischen Zyklus ist alles „Verbrauch im Sinne biologischer Assimilation“ (S. 62). Das zentrale Argument lautet hier, dass die Physiokratie mit ihrer Hochschätzung der Landwirtschaft und ihrer Abqualifizierung der Industrie durch den Erfolg der Industrialisierung zwar randständig wurde, im Grunde aber einen modernen Produktionsbegriff verfolgte, indem sie nämlich die Natur als mächtigste Antriebskraft in den Produktionsprozess integrierte. Die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts erfüllte demnach auf eine von der Physiokratie unvorhergesehene Weise die These vom Produktionspotential der Natur. Der Unterschied zwischen der automatisierten Produktionsanlage und dem physiokratischen Acker ist dann lediglich, „dass jene aus Stahl, Eisen und Dampfkraft, diese aus Erde, Saatgut und Sonnenstrahlung produziert. Beide verbindet, dass ihre Produktion nichts anderes ist als die Konsumtion der zuvor in sie eingespeisten Stoffe und Kräfte.“ (S. 64)

Das 18. Jahrhundert entdeckt dann die Natur als den ökonomischsten Produzenten überhaupt. Der Ulmensamen, aus dem eine immense Fläche Waldes erwachsen kann, der zerteilte Polyp, aus dessen einzelnen Teilen neue, lebensfähige Exemplare hervorgehen, Insekten, die das Werk des Menschen unter dem Mikroskop ungeahnt grobschlächtig wirken lassen: Aus solchen Beobachtungen und Desillusionierungen erwuchs, so Schivelbusch, der Impuls, die Produktion von den Beschränkungen der menschlichen Hand zu befreien. So werde denn Adam Smiths Beispiel der manufakturellen Stecknadelproduktion – selbst durch die Massenreproduktion der Insekten inspiriert – zu dem Punkt, „an dem der Funke übersprang von der Biologie auf die Ökonomie“ (S. 80).

Die Einverleibung der Naturkräfte durch die Industrie erläutert Schivelbusch am Beispiel des Feuers. Wie die Alchimie im Streben nach Reinigung und Erlösung der Materie unter Zuhilfenahme des Feuers Prozesse der Zersetzung und Neuschöpfung künstlich erzwingen und beschleunigen kann, nutzt die Industrie die Naturkraft des Feuers in der Dampfmaschine. In Beschreibungen der Maschine als „gigantischer Verschlingungsmechanismus“ (S. 95), der den Arbeiter mit seiner physischen, aber auch seelischen Verschlingung bedroht, spiegelt sich die menschliche Angst vor der destruktiven Kraft des (hier: gebannten) Feuers.

Nicht die Natur, sondern die Arbeit wird im 18. Jahrhundert zur „Schöpferin aller Werte“ (S. 106). Bei Locke entsteht das Privateigentum durch Aneignung der Natur mittels Arbeit. Die Arbeit löst sich vom Körper, wird in den Naturstoff gebannt, verliert ihre Lebendigkeit und wird Teil des so entstandenen Produkts (Locke spricht von „Fixierung“). Ökonomie ist so gesehen Leben, und ähnlich auch das Geld: Während zunächst die Schmuckfunktion des Goldes, dessen Glanz das Gold in eine Nähe zum Göttlichen rückt, im Vordergrund steht, weitet die vom Goldstandard entkoppelte, abstrakte Papierwährung die zuvor an das Gold geknüpfte Erlösungsvision auf alle produzierten Güter aus – jeder Konsumtionsakt verspricht dann Erlösung.

Wie aber verändert sich durch die industrielle Massenproduktion die physische Konstitution der Dinge, und was bedeutet dies für den konsumierenden Menschen und sein Gefühlsverhältnis zu den Dingen? Die Ökonomie, die sich nicht für die wirklichen Dinge, sondern nur für deren Tauschwert interessiere, frage danach nicht. Anders Adam Müller, der dem juristisch-abstrakten einen ganzheitlich-organischen Eigentumsbegriff sowie das Konzept eines „poetische[n] Besitz[es]“ (S. 122) gegenüberstellt: Der Mensch steht in dieser Sichtweise mit den Dingen in lebendiger Interaktion, verschmilzt mit ihnen, gibt ihnen mit liebevoller Pflege zurück, was sie ihm an Nutzen schenken.

Die Uniformität des Industrieproduktes aber sprengt die Symmetrie im Mensch-Ding-Verhältnis, wie sie in der je individuellen Produktion und Konsumtion angelegt ist. Der moderne Konsument befindet sich zur unüberschaubaren Vielzahl unpersönlicher „Produktkopien“ (S. 23) in einem Verhältnis der „psychologischen Entropie“ (S. 131): Im Ge- und Verbrauch des Industrieprodukts assimiliert er dessen Kälte, überträgt darauf aber zugleich seine persönliche Wärme. Um in den Blick nehmen zu können, wie viel Energie den Konsumenten die Assimilation des Objekts kostet, schlägt Schivelbusch die Einführung eines „Verbrauchs- oder Assimilationswert(s)“ (S. 132) vor. Der Energieverbrauch, so seine These, nimmt im gleichen Maße zu wie die Kälte der Gegenstände. Die Gleichsetzung von Güterkonsumtion und Güterzerstörung und die psychoanalytisch hergeleitete Einsicht, wonach Zerstörung auch Bedingung des Lebens sein kann, führen den Autor schließlich zu einer Fassung des alltäglichen Konsums als für die Aufrechterhaltung des Lebens notwendiger Vernichtung.

Schivelbusch hat ein faszinierendes, originelles und ungemein anregendes Buch geschrieben, das man durchaus als „Spätwerk“ des namhaften Kulturhistorikers beschreiben kann. Es ist vieles zugleich und mehr, als es der eher bescheidene Untertitel „Versuch über die Konsumtion“ nahelegt: eine Kultur- und Ideengeschichte der Arbeit und der Produktion, eine philosophische Abhandlung zum Verhältnis zwischen Menschen und Dingen sowie der Stellung des Menschen in der Natur, ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte, eine kritische Zeitdiagnose. Schivelbusch entfaltet einen Reigen, der von der antiken Naturphilosophie und dem medizinischen Denken der Antike über die Romantik und den deutschen Idealismus bis zur Psychoanalyse reicht, der mit einer Vielzahl von Verweisen und Beispielen aus Philosophie, Physiologie, Naturwissenschaft, Religion und Literatur gespickt ist. Der Autor bedient sich dabei eines Denkens in Analogien, mit dem er gängige Kategorien infrage stellt und so zu überraschenden Einsichten gelangt.

Seine Sicht der Konsumtion ist vor allem im Hinblick auf das darin eingeschlossene Mensch-Ding- bzw. Mensch-Natur-Verhältnis interessant. Mit seinem Gang durch zweieinhalbtausend Jahre europäischer Kultur- und Ideengeschichte gelingt dem Autor eine grundlegende Horizonterweiterung in Bezug auf diese Fragen. Das Produkt ist hier nicht nur Objekt, es ist zutiefst verwoben mit seinem Hersteller, den Bedingungen seiner Produktion, damit aber zugleich auch mit seinem Nutzer und Verbraucher. Dinge erscheinen hier als verwickelt in existentielle symbiotische Beziehungen, als Interaktionspartner, als Erweiterung des Ichs, als in beständiger Formveränderung begriffen, als in gänzlich neuem Sinne identitätsstiftend, als ihrerseits verbrauchend und verzehrend. Dabei sensibilisiert der historisierende Blick auch für die Zeitgebundenheit unserer heutigen Perspektiven auf Dinge und Natur. Ohne sich explizit in diesem Kontext zu verorten, leistet das Buch damit einen wichtigen Beitrag zur aktuellen sozial- und kulturwissenschaftlichen Debatte um die Rolle des Materiellen in der Kultur.

Der kaleidoskopartige Aufbau, manche nicht immer leicht nachzuvollziehenden gedanklichen Sprünge und die unermüdliche Freude des Autors an der Herstellung von Analogien führen zwar dazu, dass die Stringenz der Argumentation etwas verloren geht und vom Assoziationsreichtum des Textes verdeckt wird – insofern verlangt dieses dichte, aber ausgesprochen unterhaltsam verfasste Buch seinem Leser durchaus ab, manche argumentativen Fäden selbst zu verknüpfen und sich seinen eigenen Reim zu machen. Auch wird der Leser nicht jeder der mitunter spekulativen Überlegungen folgen. Gleichwohl ist dieser Essay ein Gewinn, für den einzelnen Leser wie für die Sozial- und Kulturwissenschaften im Allgemeinen; ein Buch, das ungewohnte Perspektiven aufzeigt und neue Möglichkeiten des Denkens über unser Verhältnis zu den Dingen eröffnet.

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