Cover
Titel
Auftrag: Menschenraub. Entführungen von Westberlinern und Bundesbürgern durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR


Autor(en)
Muhle, Susanne
Reihe
Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) 42
Erschienen
Göttingen 2015: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
670 S., 12 Abb., 4 Tab.
Preis
€ 49,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Armin Wagner, Berlin

Mitte der 1970er-Jahre habe ich die Carstenn-Grundschule in Berlin-Lichterfelde besucht. Eine kleine Außenstelle dieser Schule lag in der Walter-Linse-Straße. Als kleiner Junge bereits fiel mir der Nachname auf, ohne dass ich die nächsten zwanzig Jahre wusste oder nachfragte, wer sich denn dahinter verbarg. Dabei ist Walter Linse neben den Journalisten Karl Wilhelm Fricke und Heinz Brandt sowie dem Leiter der exilrussischen Widerstandsorganisation NTS Alexander Truschnowitsch das bekannteste Opfer des „Menschenraubes“ von Seiten der DDR-Behörden. Dieser Menschenraub wurde schwerpunktmäßig durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), in einigen Fällen aber auch von Volkspolizei und Grenzpolizei beziehungsweise Grenztruppen – sowie von sowjetischen Diensten – betrieben. Zwischen 1950 und 1989 fielen ungefähr 400 Personen in West-Berlin und der Bundesrepublik solchen Entführungsaktionen zum Opfer, 75 Prozent davon zwischen 1950 und 1955 (S. 59, 76).

Als ich zur Schule ging, waren Stasi-Entführungen in der West-Berliner Öffentlichkeit kein Thema mehr. Im Juli 1952 dagegen hatte die Entführung von Walter Linse 20.000 bis 30.000 West-Berliner zu einer Protestkundgebung vor das Rathaus Schöneberg getrieben, auf der auch der Regierende Bürgermeister Ernst Reuter sprach. Menschenraub war allerdings ein Phänomen besonders des ersten Jahrzehnts nach der Staatsgründung der DDR. Mit dem Mauerbau verschwand diese Praxis allmählich aus dem Stasi-Register, ohne dass damit explizite Gewaltaktionen wie einzelne Mordpläne und die Unterstützung einer illegalen Bürgerkriegstruppe der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) ebenfalls aufgegeben worden wären. Staatlich praktizierte Entführungsaktionen besaßen jedoch keinen Platz mehr im kollektiven Gedächtnis wie im öffentlichen Diskurs des Westens, der in den 1970er- und 1980er-Jahren im Umgang mit der DDR politisch zunehmend auf „Wandel durch Annäherung“ und wissenschaftlich auf die „Konvergenztheorie“ setzte.

Eingangs differenziert Susanne Muhle in ihrer Arbeit das Phänomen „Menschenraub“ in die Tatbestände „Verschleppung“ und „Entführung“: Verschleppte hatten sich – häufig unter arglistiger Täuschung – aus freien Stücken in die DDR zurückbegeben oder wurden spontan in unmittelbarer Grenznähe aufgegriffen und über die Demarkationslinie gezerrt. Entführte wurden gegen ihren Willen oder ihr Wissen gewaltsam dorthin verbracht. Ostdeutsche Funktionäre verwandten dafür andere Metaphern, zeitgenössisch wie noch im vereinten Deutschland: Sie sprachen von „Festnahme“, eher aber scheinbar neutral von „Zurückholung“ oder gar einer unbestimmten „Ziehung“ (S. 152).

Schon vor Muhles breit angelegter Studie war die Entführungspraxis des MfS Thema autobiographischer1 oder wissenschaftlicher Beschäftigung.2 Doch es ist ihre große Leistung, für die hier in Buchform vorliegende Dissertation nun erstmals eine systematische Analyse auf Grundlage vor allem der Akten der BStU und der Berliner Staatsanwaltschaften (jener vor 1990 sowie der für die Verfolgung von SED-Unrecht 1994 gebildeten Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin) vorgelegt zu haben. Ihre Untersuchung hat sie in zwei große Teile gegliedert: Zuerst wendet sie sich der Entführungspraxis und den -opfern zu, dann in einem zweiten Teil den Entführern. Die Entführten teilt sie in drei Gruppen ein: Agenten und Zuträger von westlichen Nachrichtendiensten, SED-Regimegegner und -kritiker sowie Abtrünnige und „Verräter“, also ehemalige Angehörige der SED, des MfS selbst und anderer Teile des Staats- und Sicherheitsapparates der DDR. Jeder der drei Opfergruppen werden drei Fallbeispiele gewidmet, die im Fortgang des Buches durchgängig aufgegriffen werden.

Eine größere Zahl von Entführungen gelang durch List und Täuschung, wobei Gewalt dort angewendet wurde, wo ein anderer Weg nicht gangbar erschien (S. 67, S. 468–473). In den 1950er-Jahren gehörte es zur erprobten Vorgehensweise, nach ausgedehnten Zechtouren durch West-Berliner Kneipen betrunkene oder unter Betäubungsmittel gesetzte Opfer relativ einfach mit der S-Bahn oder mit einem Taxi über die innerstädtische Sektorengrenze zu lotsen, wo sie dann vom MfS verhaftet wurden. Von den etwa 400 Entführten wurden 24 hingerichtet, davon 16 bis 1953 in Moskau (darunter Walter Linse). Geflohene Stasileute wurden mit besonderem Nachdruck verfolgt und hatten hohe Strafen zu gewärtigen: Sechs der acht in der DDR hingerichteten Entführten gehörten ehemals zum MfS, einer zur Grenzpolizei (S. 238).

Bei aller Aufmerksamkeit, die die Entführungen auf sich zogen, war die Verfolgung dieser Taten schwierig, weil sich die Täter vielfach im Osten dem Zugriff West-Berliner und bundesdeutscher Behörden entzogen. Auch war häufig nicht klar, ob es sich um Menschenraub oder um einen freiwilligen Schritt handelte; manche Opfer gerieten daher unter Verratsverdacht (der bekannteste Fall ist der Übertritt Otto Johns, Präsident des westdeutschen Verfassungsschutzes, der hier aber nicht im Mittelpunkt steht). Muhle schildert die konkrete Entführung der Opfer und in einem sehr dichten Kapitel ihre Untersuchungshaft in Ost-Berlin. Sie widmet sich ihren Prozessen und der zum Teil sehr langen Haft; außerdem ihrer späteren Rückkehr sowie den westlichen Reaktionen und Hilfsversuchen. Zu Letzteren zählt das „Freiheitsschutzgesetz“ von 1951, das Entführungen durch die Androhung hoher Strafen vorbeugen sollte.

Für die DDR stellten sich die Entführungen ambivalent dar: einerseits sollten konkrete Fälle nicht nachweisbar sein. Andererseits sollten Dissidenten unterschwellig wissen, dass solche Maßnahmen zum Repertoire ihrer Geheimpolizei gehörten, um die erklärten Gegner des Regimes deren „Allgegenwärtigkeit“ und „Allmöglichkeit“ (so Karl Wilhelm Fricke, zitiert auf S. 597) fürchten zu lassen.

Die „Allgegenwärtigen“ wurden von insgesamt etwa 500 durch die Autorin so genannte Entführer-IM (IM = Inoffizielle Mitarbeiter) verkörpert, von denen sie 50 einer genaueren Betrachtung unterzieht. Analog zu ihren drei Gruppen von Opfern erkennt sie auch drei Typen von Entführern: Zu diesen zählten erstens in der Regel im Westen für gewaltsame Entführungen rekrutierte „Spezialkräfte“ (O-Ton Muhle), die zuvor keinen Kontakt zum Opfer gehabt hatten. Eine zweite Gruppe bildeten IM, die das Vertrauen der Zielperson gewinnen sollten, und eine dritte Gruppe jene IM, die das Opfer durch Bekanntschaft oder Verwandtschaft bereits kannten.

Mit vielen Einzelbefunden werden diese IM auf ihre biografischen und sozialen Hintergründe, ihre Mentalitäten und Motivstrukturen, ihre Verhaltens- und Handlungsspielräume abgeklopft sowie ihre weiteren Lebenswege als IM oder gar als hauptamtliche MfS-Angehörige nach der Entführungsepisode beleuchtet. Ihrer Strafe sind diese 500 IM im vereinten Deutschland zumeist entgangen. Nur 13 von ihnen und drei Kontaktpersonen wurden wegen derartiger Entführungsaktionen angeklagt. Sieben Freiheitstrafen wurden ausgesprochen, längstens mit einem Strafmaß von zwei Jahren. Alle wurden zur Bewährung ausgesetzt. Auf knappem Raum gut gelungen ist die Erläuterung der Probleme bei der Strafverfolgung nach 1990. Die Autorin sieht diese trotz der geringen Strafen ganz richtig als Erfolg, denn „Unrecht wurde als solches gekennzeichnet“ (S. 593) und nicht mit Unrecht, sondern den Möglichkeiten des Rechtsstaates beantwortet.

Die enorme Forschungsleistung von Susanne Muhle ist unübersehbar. Indem sie die eingangs angelegten neun Fallstudien durch die ganze Arbeit hindurch verfolgt, wird inhaltlich eine Klammer über 600 Seiten Text geschaffen. Zugleich aber entsteht erzählerisch durch die wiederkehrende kurze Rekapitulation der Entführungsgeschichten bei der Lektüre nicht selten Redundanz. Auch Erkenntnisse zu den einzelnen IM werden durch den gewählten analytischen Zuschnitt zerstückelt (dafür nur ein Beispiel: Über den IM „Friedrich“ etwa muss sich der Leser sein Bild auf den Seiten 373, 389, 427, 445 selbst zusammensuchen). Ein Resümee der 50 ausgewählten IM ergibt, dass eine statistische Größe dominiert: Nicht Herkunft oder Bildungsstand erwirkten vorrangig Bindungskraft an die Stasi; nicht Gewaltaffinität aufgrund nationalsozialistischer Täterschaft oder kommunistische Überzeugung vor 1945; nicht echte ideologische Überzeugung; sondern meist das jeweilige Milieu des IM zur Zeit der Anwerbung, häufig verbunden mit einer prekären materiellen Situation. Der mehrmalige Durchlauf durch die Viten der vorgestellten Entführer hätte vielleicht auch durch ein reduziertes, noch mehr exemplarisches Vorgehen ersetzt werden können. Auch dann wäre wohl deutlich genug geworden, dass viele der Täter – gerade beim ersten Entführer-Typ – keine DDR-Bürger, sondern West-Berliner Leicht- und Schwerkriminelle waren, die sich das MfS zu Diensten machte (S. 602).3

Schließlich ist der Exkurs zur Entführung von Adolf Eichmann durch den israelischen Mossad (S. 170–174) trotz „handwerklicher“ Ähnlichkeiten nicht ganz einsichtig, vor allem nicht unter der Kapitelüberschrift „Entführungsaktionen als Ausdrucksform geheimdienstlicher Gewalt in stalinistischer Tradition“. Zum Abgleich der Frage, ob Entführungen auch zum Instrumentarium westlicher Dienste gehör(t)en, hätte sich mit direkterem Bezug zum Ost-West-Konflikt eher das Kidnapping von Jeffrey M. Carney („Jens Karney“) durch den Geheimdienst der U.S. Air Force 1991 in Berlin angeboten 4, oder mit Blick auf die Gegenwart der Hinweis auf die nach „9/11“ von der CIA praktizierten extraordinary renditions.

Diese kritischen Hinweise sollen nicht die akribische Leistung Susanne Muhles schmälern, sondern auf einige Punkte hinweisen, die mich nicht vollends überzeugt haben. Ohne Zweifel liegt hier jedoch ein Standardwerk vor, das umfassenden Einblick in die staatliche Praxis des Menschenraubs seitens der DDR gibt und insofern einen weiteren Baustein zu Erforschung „der stalinistisch geprägten politischen Kultur im SED-Regime“ (S. 13) liefert.

Anmerkungen:
1 Vgl. schon Heinz Brandt, Ein Traum, der nicht entführbar ist. Mein Weg zwischen Ost und West, München 1967; sowie dann vor allem Karl Wilhelm Fricke, Akten-Einsicht. Rekonstruktion einer politischen Verfolgung, 4. Aufl., Berlin 1997.
2 Vgl. Arthur L. Smith, Stadt des Menschenraubes. Berlin 1945–1961, Koblenz 2004; Karl Wilhelm Fricke/Roger Engelmann, „Konzentrierte Schläge“. Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953–1956, Berlin 1998.
3 Nicht ganz einsichtig ist zudem, wann und warum IM zumeist nur mit Tarnnamen angeführt, dann aber doch hier und da die Klarnamen erwähnt werden. Der besonders herausgehobene IM „Donner“ wird schließlich als Hans Wax identifiziert (S. 391). Doch der ist keineswegs ein Unbekannter, sondern bereits ausgiebig porträtiert worden; vgl. Bernd Stöver, Zuflucht DDR. Spione und andere Übersiedler, München 2009, S. 238–266.
4 Einen versteckten Hinweis auf diesen Fall gibt auch Muhle, S. 176, Anm. 376; vgl. Jeffrey M. Carney, Against All Enemies. An American's Cold War Journey, o.O. 2013.

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