S. Davies u.a.: Stalin's World

Titel
Stalin's World. Dictating the Soviet Order


Autor(en)
Davies, Sarah; Harris, James
Erschienen
Anzahl Seiten
360 S.
Preis
€ 81,33
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Fabian Thunemann, Humboldt-Universität zu Berlin

Der Legende nach sollte Damokles für einen Abend von der Allmacht seines Gebieters kosten. Zu diesem Zwecke veranstaltete der Tyrann Dionysios ein opulentes Bankett, hatte jedoch direkt über dem Platz seines Günstlings ein frisch geschärftes Schwert anbringen lassen. Als Damokles schließlich Platz nahm und das Schwert direkt über seinem Kopf erblickte, unterrichtete ihn der Tyrann, dass er nun erfahren habe, zu welch einem Leben ein Herrscher angesichts der stets unberechenbaren Gefahren verdammt sei. Diese Episode macht deutlich, dass die besondere Fragilität autoritärer Herrschaft Teil der geistesgeschichtlichen Tradition ist. Dennoch tendiert der Volksmund, aber auch die Forschung dazu, die Auswüchse der Alleinherrschaft eher auf Merkmale der Persönlichkeit als auf systemische Faktoren zurückzuführen. Auch wenn es zutreffen mag, dass für die erfolgreiche Ausübung von Macht eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur erforderlich ist, erscheint es nicht weniger aufschlussreich, gerade die Entwicklung einer Herrschaftspersönlichkeit vor dem Hintergrund der realen Möglichkeit von Bedrohungen in den Blick zu nehmen. Genau dieser Aspekt ist der Ausgangspunkt der Studie von Sarah Davies und James Harris über die Welt Stalins.

Das Buch besteht aus zwei Teilen mit jeweils drei Kapiteln und behandelt vor allem die Jahre seit Lenins Tod 1924 bis zum Bruch des Hitler-Stalin-Paktes 1941. Dabei lassen sich die Autoren von der Frage leiten, wie Stalin seine Welt deutete und inwiefern seine Wahrnehmungen von der Welt diese selbst wiederum prägte. Ihnen geht es somit darum, die „authoritative words“ (S. 2) des Regimes nachzuzeichnen, die sie vor allem in den Unterlagen Stalins im zentralen Parteiarchiv der KPdSU vorzufinden glauben. Dieser Ansatz führt Davies und Harris zu der eher enigmatischen These, dass Stalins Worte ebenso viel Aufmerksamkeit verdienen wie seine Taten, da ja gewissermaßen seine Worte auch seine Taten waren. Im ersten Teil des Buches geht es folglich um die Wahrnehmung und Deutung der Welt durch Stalin und im zweiten Teil darum, welche Konsequenzen sich für die Welt daraus ergeben haben (S. 2–4). Bereits die These macht etwas stutzig. Der Aufbau des Buches kann diese Verwunderung nicht ausräumen, sondern offenbart vielmehr, dass die Autoren – mit der Ausnahme von zwei Kapiteln – in relativ willkürlicher Auswahl und buchstäblich ohne Begründung und Einordnung mehr oder weniger interessante Aspekte des Stalinismus abhandeln, wobei die Ursache dafür wohl auf den schwer fassbaren Rahmen der Studie zurückzuführen ist.

In dem ersten Kapitel, „‘Bolshevik’ Leadership“, geht es den Autoren um die Worte, die Stalin und andere Repräsentanten der Führung zum Phänomen einer bolschewistischen Führung haben fallen lassen. Dabei zeigt sich rasch, dass der Mangel an analytischen Kategorien die Autoren gleichsam dazu verdammt, sich auf die Interpretation Stalins zu verlassen und damit letztlich nichts anderes zu machen, als dessen vage und widersprüchliche Aussagen zu reproduzieren und als wissenschaftliche Interpretation anzubieten (S. 31–33, 40f., 45, 56). Das Ergebnis, dass die ökonomische Krise, die den Terror der Jahre 1936–38 ausgelöst habe, keine Produktionskrise gewesen sei, sondern eine Krise der Führung und Verwaltung, muss das Geheimnis der Autoren bleiben (S. 58). Dabei hätten Davies und Harris durchaus etwas für die folgenden beiden Kapitel, das Herzstück ihrer Arbeit, in der Hand gehabt; schließlich führen sie ein interessantes Zitat Stalins an, in welchem er ganz im Geiste Machiavellis verkündet, dass es nicht gut sei, wenn die Führer der Partei lediglich gefürchtet und nicht respektiert würden (S. 25). Der Respekt allerdings, den die Umwelt Stalin entgegenbrachte, basierte vornehmlich auf Furcht und daher hatte er allen Grund, sich wie Machiavellis Fürst vor Feinden und Verschwörungen zu fürchten.

Leider kennen Davies und Harris offenbar weder Machiavellis Ausführungen noch etwa die bedeutenden Arbeiten von Ronald Wintrobe zu ihrem Thema.1 Daher fällt letztlich die Spekulation über Feinde, die Stalins Regime prägte, auf die Autoren selbst zurück. Ohne einen analytischen Rahmen, warum eine Herrschaft wie die Stalins durchaus als fragil anzusehen ist, kommen die Autoren am Ende zu der fragwürdigen Aussage, Stalin habe tatsächlich an seine Inszenierungen der Feindbekämpfung geglaubt (etwa S. 91, 129), obgleich sie an andere Stelle offen bekennen, dass man das eigentlich gar nicht sagen kann (S. 275). Damit lassen sie zumindest eine gewisse epistemologische Redlichkeit erkennen; auch wenn sich diese erst im Abschnitt „Conclusion“ und nicht in den Kapiteln „Spymania“ und „Capitalist Encirclement“ zu erkennen gibt. Gleichwohl finden sich gerade dort einige interessante Ausführungen etwa zu dem Phänomen der Kriegsangst von 1927 und den folgenden Jahren oder aber zur Dynamik des Verschwörungsdenkens, beginnend mit dem Schachty-Prozess von 1928 bis hin zu den stalinistischen Großinszenierungen der Jahre 1936–38. Dabei zeigen Davies und Harris, inwiefern die möglichen und tatsächlichen Gefahren nicht allein Hirngespinste des stalinistischen Regimes waren, sondern als Szenarien auch durch widersprüchliche Informationen seitens des internationalen diplomatischen Milieus beflügelt wurden (etwa S. 123–125). Darüber hinaus machen die Autoren auf den Umstand aufmerksam, inwiefern eine zunehmend hermetische Kommunikation einen Herrscher gleichermaßen zum Antreiber und Getriebenen werden lässt. Sie verweisen diesbezüglich schließlich darauf, dass aus Angst vor Sanktionen seit etwa 1930 Gegenbeweise nicht mehr bis zur Führung vordrangen (S. 94). Damit wurde das Regime eben auch zum Gefangenen seiner eigenen Inszenierung und dieser Umstand macht einmal mehr deutlich, wie nahe Allmacht und Ohnmacht liegen können und welch erschütternde Konsequenzen dies zur Folge haben kann.

Im zweiten Teil des Buches widmen sich Davies und Harris drei Aspekten, die sie offensichtlich als repräsentativ dafür ansehen, wie Stalin seine Welt schuf und prägte. Warum es sich dabei ausgerechnet um „The Leader Cult“, „The Working Class“ und „Soviet Culture“ handeln soll, begründen die Autoren allein damit, dass diese Themen nach wie vor die akademische Aufmerksamkeit auf sich zögen (S. 2). Plausiblere Beispiele wie etwa die Kollektivierung der Landwirtschaft schließen sie im Fußnotenapparat (S. 279, Anm. 5) mit der Begründung aus, dass jene bereits eine umfassende Behandlung erfahren hätte. Doch gerade anhand der Kollektivierung hätten Davies und Harris zeigen können, inwiefern sich Stalins Vorstellung von der Welt und die Implementierung seiner Politik gegenseitig zu bestätigen schienen und somit eine Politik in die Welt brachte, die als selbsterfüllende Prophezeiung fortwährend eskalierte.

In dem Kapitel „The Leader Cult“ spielen die Autoren zunächst mit dem immer wieder vorgebrachten, vermeintlichen Paradox, dass gerade in einem politischen System, welches wirtschaftliche Konstellationen für den Fortgang der Geschichte verantwortlich machte, Personen eine solch zentrale Rolle einnehmen konnten. Die Lektüre einschlägiger Texte von Marx-Engels, oder aber von Georgij Plechanov jedoch zeigt, dass die Gründungsväter darin überhaupt keinen Widerspruch sahen, sondern eben dialektische Komplemente – was immer das heißen mag. Dieses Problem interessiert Davies und Harris jedoch nicht weiter. Bei ihnen steht die Produktion einer kanonischen Biographie Stalins im Vordergrund. Hierbei stützen sie sich vor allem auf die neueren Arbeiten von David Brandenberger und können denn auch nochmals überzeugend nachweisen, dass die Besonderheit des Personenkultes sowjetischen Typs gerade in einem „cult of impersonality“ (Balázs Apor) bestand; also einem Kult, der sich dadurch auszeichnete, dass der Führer vermeintlich keinen Anteil an seiner Ausgestaltung nahm, ihm aber so erst recht zur Blüte verhalf.2

Die beiden letzten Kapitel „The Working Class“ und „Soviet Culture“ erweisen sich schließlich eher als Sammlung großer Worte des Führers zum Thema. Dabei sind die Ausführungen zur sowjetischen Intelligencija durchaus lesenswert, zeigen sie doch an einem passenden Beispiel, mit welchen Spannungen Stalin konfrontiert war. Auf der einen Seite sollte es Kopf- und Handarbeiter geben, auf der anderen Seite kam Stalin nicht von der Vorstellung los, dass gerade die Intelligencija eine Gefahr für sein Regime darstellen könnte. Insofern müssen denn auch Davies und Harris wieder einmal bekennen, dass Stalin vielfach nicht gerade durch Konsistenz bestach (S. 209, 210–223). Auch in ihren Ausführungen zu „Soviet Culture“ kann man viele widersprüchliche Worte Stalins lesen. Leider nehmen Davies und Harris diesen Befund, der sich durch das gesamte Buch zieht, nicht zum Anlass, gerade darüber einmal zu reflektieren. Statt diesen Umstand also mit ihren Bemerkungen zur Kommunikation in der Diktatur zu verbinden und vielleicht gerade darin einen wesentlichen Ausdruck ihres eigenen Befundes zu sehen, fügen sich ohne erkennbare Argumentation Zitat an Zitat, Episode an Episode. Nicht einmal (beinahe) wörtliche Wiederholungen bleiben am Ende aus (exemplarisch S. 220f., S. 240–42) und machen damit unübersehbar deutlich, dass der zu Beginn des Buches vertretene Ansatz zum Ende hin schlicht keine Rolle mehr spielt. Der Rezensent jedenfalls konnte nicht erkennen, dass der erste und zweite Teil des Buches durch mehr als durch die allgemeinen Bemerkungen in der Einleitung zusammengehalten werden. Nicht zuletzt deshalb ist dieses Buch nur sehr bedingt zu empfehlen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Ronald Wintrobe, The Political Economy of Dictatorships, Cambridge 1988.
2 Vgl. David Brandenberger, Propaganda State in Crisis. Soviet Ideology, Indoctrination and Terror under Stalin, 1927–1941, New Haven 2011; Balázs Apor, Leader in the Making. The Role of Biographies in Constructing the Cult of Mátyás Rákosi, in: B. Apor et al. (Hrsg.), The Leader Cult in Communist Dictatorship. Stalin and the Eastern Bloc, Houndmills 2004.

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