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Titel
Heimatfront. Zwischen Kriegsbegeisterung und Hungersnot - wie die Deutschen den Ersten Weltkrieg erlebten


Autor(en)
Flemming, Thomas; Ulrich, Bernd
Erschienen
München 2014: Bruckmann Verlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 19,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Springer, Die Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik

„Wie ich schnell durch die Sonnenstraße lauf’, verfolgt mich ein fürchterlich aussehender Mensch und hält mich schließlich fest. Gleich sind wir von einer johlenden, pfeifenden Pöbelmenge umgeben, die mich angreifen will und mit Stöcken auf mich losgeht.“ Grete Gulbranson, Ehefrau des bekannten „Simplicissimus“-Zeichners Olaf Gulbransson, erfährt erst nach ihrer Rettung durch einen Polizisten, der sie allerdings postwendend zur Wache bringt, worum es geht: „Sie glauben, ich sei ein russischer Spion und ein verkleideter Jüngling, weil ich mit so großen Schritten auf der Straße gerannt bin.“ (S. 47) Deutlicher und zugleich vielschichtiger als mit Gulbransons Tagebuch-Eintrag vom August 1914 können Patriotismus und Paranoia, die in großen Teilen der deutschen Bevölkerung zu Beginn des Ersten Weltkriegs herrschten, wohl kaum geschildert werden.

Nicht zuletzt mit solchen Zitaten, die von einer umfangreichen Quellenkenntnis der Autoren zeugen, gelingt es Flemming und Ulrich, in pointierter Weise den Alltag an der „Heimatfront“ anschaulich werden zu lassen. Diesem Alltag, der in wachsendem Maße von den dramatischen Auswirkungen des Krieges geprägt war und zugleich aber auch Einfluss auf das Geschehen an der Front hatte, gehen die beiden Historiker in ihrer Überblicksdarstellung nach. Nicht die weltpolitischen Ursachen und Konsequenzen oder den politischen und militärischen Entwicklungen des Ersten Weltkriegs, die im Gedenkjahr 2014 die wissenschaftlichen Debatten beherrschten1, sind demnach ihr Thema. Vielmehr geht es darum, wie die Deutschen auch jenseits des Geschehens an der Front in die Kriegshandlungen involviert waren.

Dabei greifen die Autoren den mittlerweile in der Forschung etablierten Begriff der „Heimatfront“ auf und nutzen ihn als Leitmotiv für die Darstellung der verschiedenen, systematisch gegliederten Themen. Im Prolog wird zunächst die Begriffsgeschichte der „Heimatfront“ analysiert. So machen Flemming und Ulrich deutlich, dass der Begriff „in auffälliger Parallelität zum Aufkommen des Terminus ‚Homefront‘ in England“ erst „ab Mitte Mai 1917 auch in Deutschland in sparsamen Gebrauch“ gekommen sei – und zwar „nicht zufällig im Zusammenhang der seit Ende 1916 zunehmend straffer und militärisch organisierten Inlandspropaganda“ (S. 17). Der Begriff der „Heimatfront“ stammt somit aus dem propagandistischen Repertoire, mit dem die Reichswehrführung versuchte, die zunehmenden Erscheinungen von Kriegsmüdigkeit in der deutschen Bevölkerung zu bekämpfen. Die „Heimatfront“-Propaganda mündete schließlich in der Legende vom „Dolchstoß“, nach der die „Heimat“ dem „kämpfenden Heer“ in den Rücken gefallen sei. Im Zweiten Weltkrieg erhielt der Begriff schließlich, auch durch seine Erweiterung auf die Propaganda vom „totalen Krieg“, eine zentrale Bedeutung, galt es doch nun die „Fehler“ des Ersten Weltkriegs zu verhindern: „Insofern hat die ständige Erinnerung an den so genannten Zusammenbruch und das angebliche Versagen der Heimat im Ersten Weltkrieg erhebliche Auswirkungen auf die Politik des Dritten Reiches gehabt – in der Vorbereitung und in der Durchführung des Zweiten Weltkrieges.“(S. 276) Nicht zuletzt die „Ausplünderung der besetzten Länder und der als ‚fremdrassig‘ stigmatisierten Menschen“(S. 19) war Teil des Versuchs des NS-Regimes, die Lage jenseits des Frontgeschehens stabil zu halten. Und letztlich hatte wohl auch die Ideologie der „Volksgemeinschaft“, so könnte man Flemming und Ulrich ergänzen, ihren Ursprung zum Teil in der Propaganda von der „Heimatfront“ des Ersten Weltkriegs.

In den auf den Prolog folgenden 16 Kapiteln betrachten Flemming und Ulrich die unterschiedlichen Aspekte des Geschehens im Kriegsalltag der Deutschen. In den jeweils rund zehn Seiten umfassenden Kapiteln widmen sie sich einer breiten Palette an Themen. Zensur, Hunger und Luftkrieg kommen dabei ebenso zur Sprache wie die Situation der Verwundeten, die Rolle der Frauen und die finanziellen Kosten des Krieges. Breiten Raum geben die Autoren den wirtschaftlichen Folgen, indem sie die zunehmenden Eingriffe des Staates in die Produktion schildern, die das ökonomische Desaster jedoch nicht verhindern konnten. Daran änderte auch der massive Einsatz von Kriegsgefangenen in Industrie und Landwirtschaft nichts – fast 80 Prozent der etwa 2,5 Millionen Betroffenen mussten auf diese Weise den Arbeitskräftemangel an der „Heimatfront“ beheben helfen (S. 266).

Eine der drastischen alltäglichen Folgen der ökonomischen Krise war nicht zuletzt die Ersatzstoffproduktion, wie sie in einer Schilderung der in Deutschland lebenden Australierin Ethel Cooper anschaulich wird: „[I]ch sagte, dass es irgend etwas Merkwürdiges in der Wurst unserer Wochenration gäbe, was nicht vom Pferd sei und dass ich Ratte vermute -, und sie sagte: ‚Oh, Ratten machen mir nichts ... aber ich habe einen Horror vor Rattenersatz!‘“ (S. 170)

Als wichtige Quelle für Untersuchungen zur „Heimatfront“ dienen seit langem die Feldpostbriefe, die das zentrale Medium für den privaten Austausch zwischen Front und Heimat darstellten.2 Dass auch das Militär die Brisanz dieses Mediums für den Zusammenhalt rasch erkannt hatte, belegen verbreitete Schreibanleitungen wie „Mutterbrief ins Feld“, mit denen verhindert werden sollte, dass die Soldaten durch drastische Schilderungen des Elends daheim demotiviert wurden. „Ein Brief kann einen Mann gut, oder schlecht, zum Helden, oder zum Feigling machen […]. Darum möchte ich bitten, deutsche Frau, schreibe immer nur Sonntagsbriefe ins Feld“, zitieren die Autoren aus der 1916 erschienenen Publikation „Der Schützengraben der deutschen Frau“. Derartige Schreibanleitungen dürften allerdings vor allem unter dem Gesichtspunkt der Propaganda betrachtet werden – Flemming und Ulrich schätzen ihre „disziplinierende Wirkung“ zu Recht als „eher von geringer Bedeutung“ (S. 247) ein.

Die rund 50 Fotografien, die die Autoren ihrem Band beigeben, dienen nicht ausschließlich der Bebilderung. Durch zum Teil ausführliche Bildlegenden werden sie erläutert und punktuell als Quellen genutzt. So zeigt eine abgebildete Ansichtskarte aus dem Jahr 1915 Sonntagsausflügler mit Hut und Krawatte in einem nachgebauten Schützengraben in Berlin-Charlottenburg (S. 71) – zu diesem frühen Zeitpunkt erschien den meisten Deutschen der Kriegsalltag offensichtlich noch wie eine Vergnügungstour. Wünschenswert wäre aber durchaus eine intensivere Einbindung der Fotoanalyse in die Darstellung gewesen.

Über die Fotografien und die erwähnten Zitate hinaus greifen Flemming und Ulrich nur begrenzt auf eigene Quellenrecherchen zurück. Für ihre Darstellung nutzen sie die vielfältige Forschungsliteratur – ohne allerdings unterschiedliche Interpretationsansätze zu thematisieren. Offensichtlich sollte das breite Lesepublikum ebenso wenig durch die Darstellung von Forschungskontroversen „verschreckt“ werden wie durch die Verwendung von Fußnoten. Auch ein Register fehlt bedauerlicherweise – insbesondere ein Personenregister hätte die Suche nach Zeitzeugenzitaten wie jenes von Grete Gulbranson wesentlich erleichtern und damit den Nutzen des Buches erhöhen können.

Doch trotz dieser Kritikpunkte ist Flemming und Ulrich ein streckenweise geradezu unterhaltender Überblick über das Geschehen an der „Heimatfront“ geglückt. Bücher wie dieses schlagen Schneisen durch das Dickicht an Forschungsliteratur, das insbesondere anlässlich von Gedenktagen kaum mehr überschaubar ist. Zudem ist die Bedeutung derartiger Publikationen nicht zu unterschätzen, vermitteln sie doch Forschungsergebnisse in einen Leserkreis, der möglicherweise die aktuellen Forschungsdebatten kaum zur Kenntnis nimmt – und trotzdem verlässliche und lesbare Darstellungen verdient hat.

Anmerkungen:
1 Für einen Überblick über die wichtigsten Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg im Gedenkjahr 2014 vgl. die Sammelrezensionen von Andreas Rose (in: H-Soz-Kult, 30.07.2014, <http://www.hsozkult.de/review/id/rezbuecher-21344?title=ein-neuer-streit-um-die-deutungshoheit&recno=4&q=m%C3%BCnkler&sort=newestPublished&fq=&total=68amp;fq=&total=68>) und Hans Rudolf Wahl (in: H-Soz-Kult, 05.09.2014, <http://www.hsozkult.de/review/id/rezbuecher-22260?title=neuere-gesamtdarstellungen-des-ersten-weltkriegs&recno=3&q=m%C3%BCnkler&sort=newestPublished&fq=&total=68amp;fq=&total=68>) (01.06.2015).
2 Flemming und Ulrich können sich bei der Darstellung auch auf eigene Forschungen stützen. Vgl. zum Beispiel: Manfred Hettling: Rezension zu: Ulrich, Bernd: Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914-1933. Essen 1997, in: H-Soz-Kult, 11.04.1999, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-54> (01.06.2015).