F. Griessner u.a. (Hrsg.): 150 Jahre Italien

Titel
150 Jahre Italien. Themen, Wege, offene Fragen


Herausgeber
Griessner, Florika; Vignazia, Adriana
Erschienen
Wien 2014: Praesens
Anzahl Seiten
413 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Malfèr, Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften

Das runde Jubiläum der Einigung Italiens 1861–2011 hat in der österreichischen Historiographie nur geringe Aufmerksamkeit gefunden, obwohl die Vorgeschichte bekanntlich sehr eng mit der österreichischen Geschichte verbunden war. Diese Verbindung wurde aber lange Zeit in Österreich aus nationalstaatlicher und machtpolitischer Sicht als negative Erinnerung wahrgenommen und darum nicht so gern thematisiert. Bei Licht betrachtet kann man aber auch positive Aspekte finden, etwa den Umstand, dass im Frühjahr 1861 sowohl der größte Teil Italiens als auch die Habsburgermonarchie ein Parlament erhielten und somit in den Kreis der konstitutionellen Staaten einrückten. Doch auch dieses erfreuliche Jubiläum wurde in Österreich beinahe übersehen. Die große Erinnerungstagung an das Februarpatent von 1861 und die Eröffnung der Reichsrates und der Landtage fand jedenfalls nicht in Wien, sondern – in Prag statt.

Es mag dahingestellt bleiben, ob es sich um Jubiläumsmüdigkeit oder eher um selektive Erinnerung handelt. Umso erfreulicher ist es, dass nun doch ein in Wien erschienenes Buch vorliegt, das „150 Jahre Italien“ im Titel trägt. Es handelt sich um die Referate einer Tagung im November 2011 in Graz am Institut für Romanistik.

Es war keine rein romanistische, sondern eine breit angelegte Konferenz mit dem Schwerpunkt auf der Kulturgeschichte, aber unter Einbeziehung der politischen Geschichte. Ähnlich wie schon die denkwürdige zweite Innsbrucker Tagung von 1995 „Österreichisches Italien – Italienisches Österreich“ zeigte sich auch in Graz, dass das Interesse am großen südlichen Nachbarn längst die politisch und nationalstaatlich eingeengte Wahrnehmung überwunden hat, ohne deswegen die nach wie vor aktuellen Fragen der Nationalismusforschung zu übersehen.

Auf einige Beiträge sei hier eigens hingewiesen, weil sie aus der Sicht der Geschichtsschreibung besonders anregend sind. Michael Metzeltin entwickelt seinen umfassenden Ansatz, wie ein moderner Nationalstaat entsteht, und exemplifiziert ihn an Italien. Die Kriterien und Entwicklungsschritte lassen sich sehr plausibel auf viele Länder übertragen. Die italienische Entwicklung wird so von einer engen, lokalpatriotischen Ereigniskette zu einem globalhistorisch anwendbaren Beispiel. Diese Gedanken kann man auch weiterdenken und auf Staaten anwenden, die nicht Nationalstaaten im engeren Sinn sind.

Gualtiero Boaglio entfaltet die Geschichte des Begriffs „Italianità“. Schon Dante und Petrarca sprechen, ohne das Wort selbst zu verwenden, von der Zusammengehörigkeit der politischen Gebilde der Halbinsel (Stadtstaaten, Kirchenstaat usw.). Das Wort selbst verwendet als erster Leopardi. Der Begriff entwickelt sich im 19. Jahrhundert − nicht zuletzt im Ringen mit Österreich − zu einem kulturell-politischen Schlachtruf, um weiter herauf bis in die jüngste Zeit zu einem Modewort und Werbeträger für italienische Produkte zu werden. Auch dieser Beitrag lädt zum Weiterdenken ein, nicht nur, weil es in anderen romanischen Sprachen vergleichbare Ausdrücke gibt, sondern weil der Vorgang selbst verallgemeinert werden kann: von der Literatur über die Kultur und Politik zum Werbeträger für die Wirtschaft. Vom Haus Österreich zu den Austrian Airlines, wenn man so will.

Mario Isnenghi sprach über seine „Geschichte Italiens“. Da sie nicht in deutscher Übersetzung vorliegt, ist der Beitrag eine Einführung in seine Interpretation der Ereignisse für nicht des Italienischen kundige Leser. Sein Denken kreist um Bipolaritäten, z.B. das Verhältnis zwischen den Tatsachen und deren Wahrnehmung. Viele Tatsachen werden historisch wirkmächtig nur durch die Art ihrer Wahrnehmung. Zwischen Faktum und Fiktion gibt es ein irritierendes Wechselspiel. Ein anderes Beispiel ist das Verhältnis zwischen Legalität und Selbstlegitimierung. Bis 1861 mussten alle national Denkenden in den italienischen Staaten die Legalität ihrer Staaten verletzten und sich selbst zu illegalem Denken und Handeln legitimieren. Nicht alle sahen aber nach 1861 ihre Wünsche und Vorstellungen verwirklicht, und nur eine Legalität, die sardinisch-piemontesisch-monarchische, hatte gesiegt. So überlebte bei den Enttäuschten der alte antiinstitutionelle Impuls, nun innerhalb der neuen Institution, dem geeinten Italien.

Roberta Ascarelli untersucht die Beziehungen zwischen den Ideen des Risorgimento und dem Zionismus. Im ersten Teil zeigt sie, wie stark die Geschichte des Volkes Israel − vom Befreier Moses bis zum babylonischen Exil − von den Schriftstellern des Risorgimento als Metapher für Italien und die Italiener herangezogen wurde. Damit werden übrigens auch die Ausführungen von Christian Springer über Verdi relativiert, der die politische Bedeutung der Oper Nabucco bestreitet, weil es keine Berichte darüber gebe, dass die Oper politisch aufgefasst worden sei (S. 167). Die Identifikation Italiens mit Israel lenkte im Gegenzug das Denken in Italien auf die Lage der Juden in Europa. So ist es kein Zufall, dass schon 1851 Benedetto Musolino das Recht der Juden auf einen eigenen Staat in einer einflussreichen Schrift dargelegt hat.

Viele der Beiträge, die hier nicht alle namentlich angeführt werden können, sind Fallstudien aus den Bereichen Historiographie, Literatur, Musik, Malerei, Sprache, über Juden, Frauen, Freimaurer, über Ungarn und Böhmen, über Wirtschaft und Recht. Mehrere Beiträge sind eine gute Vermittlung von Forschungsergebnissen aus Italien (Isnenghi; Ascarelli; Adriana Chemello über die Rolle der Frauen im Risorgimento; Fiorenza Fischer über den Meridionalismo und die Gründe des wirtschaftlichen Auseinanderdriftens zwischen Nord und Süd). Der zeitliche Bogen reicht von der Vorgeschichte der Einigung bis in die Gegenwart. Es geht also nicht nur um die Ereignisse vor 150 Jahren, sondern auch um deren Verarbeitung, Spiegelung, Interpretation in den verflossenen 150 Jahren.

Das Buch ist in mehrfacher Hinsicht ein Transfer. Dies ist schon dadurch gegeben, dass die Tagung über Italien von österreichischer wissenschaftlicher Seite organisiert wurde und deren Ergebnisse in Österreich publiziert wurden. Ein Transfer findet aber auch zwischen den Disziplinen statt, vor allem zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft einerseits, Geschichtswissenschaft andererseits. Schließlich wurden für die Publikation mehr als die Hälfte der Beiträge aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt. Bei so viel Übertragung ist es nicht verwunderlich, dass manches auf der anderen Seite nicht ganz richtig ankommt. Es ist nicht zu kritisieren, aber zur Kenntnis zu nehmen, dass die Fachsprachen ihre Eigenheiten haben, dass Wörter und Begriffe verwendet werden, die in der andern Fachsprache keine oder eine missverständliche Resonanz hervorrufen. Als Historiker muss man sich erst an Begriffe gewöhnen wie „Medialisierung“ (S. 38), „Autofiktionalisierung“ (S. 106), „Höhenkammliteratur“ (S. 143), „stratifikatorisch“ (S. 143). Was die Übersetzungen anbelangt, haben die Herausgeberinnen aus der Finanzierungsnot eine Tugend gemacht und die Übersetzung von neun Beiträgen Dolmetschstudent/innen anvertraut und dies auch im Vorwort thematisiert. Im Ergebnis sind wieder einige Missverständnisse passiert und eben auch transferiert worden. Statt Schwaben in Sizilien erwartet man doch Staufer (S. 57); das Wort Legitimität hat im 19. Jahrhundert eine historisch spezifische Bedeutung als monarchische Legitimität und ist etwas anderes als die Selbstermächtigung des Revolutionärs (S. 209); eine gesellschaftlich unterirdisch wirkende Kraft ist nicht gleichzusetzen mit „Nährboden“ (S. 330); ein Sieg der Linken in Italien 1876 kommt um hundert Jahre zu früh, ist doch die liberale „sinistra storica“ aus historischer Sicht nicht mit „der Linken“ gleichzusetzen (S. 333). Man bleibt sprachlich manchmal hängen. Aber das ist der Preis des Transfers. Es steckt eine enorme Arbeit dahinter, das ist anzuerkennen. Trotz solcher kleiner Kritik ist festzuhalten, dass es viel wertvoller und bereichernder ist, den Transfer überhaupt in Angriff zu nehmen und sich auf das Wagnis einzulassen, als es zu unterlassen. Die Vermittlung ist reich und gelungen. Ein paar Schrammen sollen nicht davon ablenken, dass es dank der Grazer Initiative nun doch immerhin ein österreichisches Buch gibt, das das bemerkenswerte Jubiläum 150 Jahre Italien aufgegriffen hat.

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