H. Fink (Hrsg.): Friedrich Jodl und das Erbe der Aufklärung

Titel
Friedrich Jodl und das Erbe der Aufklärung.


Herausgeber
Fink, Helmut
Reihe
Aufklärung und Kritik. Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie 21,3
Anzahl Seiten
212 S.
Preis
€ 10,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Edith Lanser, Institut für Soziologie, Universität Graz

Obwohl Friedrich Jodl (1849–1914) in Wien um 1900 eine wirkungsgeschichtlich bedeutsame Persönlichkeit sowohl des akademischen als auch des öffentlichen Lebens war, ist er heutzutage kaum jemandem mehr ein Begriff. Als Philosoph, Historiker, Ethiker, Ästhetiker, Volksbildner, und darüber hinaus als Verfasser eines Lehrbuchs der Psychologie war er bemüht, günstige Bedingungen für die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse auch an einfache Menschen zu schaffen. Nicht selten geriet er dabei mit klerikalen Kräften in Konflikt, vertrat er doch einen streng antimetaphysischen, religionskritischen Standpunkt in der Nachfolge Ludwig Feuerbachs, dessen gesammelte Werke er gemeinsam mit dem finnischen Philosophen Wilhelm Bolin neu herausgab.

Es existieren wenige Arbeiten zu Jodls Leben und Werk – umso begrüßenswerter ist das Erscheinen des vorliegenden Sammelbandes, der die wichtigsten Ergebnisse eines anlässlich seines 100. Todestages abgehaltenen Symposiums einem breiteren Publikum zugänglich macht und diese noch um zusätzliche Beiträge ergänzt. Die insgesamt fünfzehn Aufsätze des etwa 200 Seiten starken Bandes werden der immensen Bandbreite von Jodls Schaffen voll und ganz gerecht: Der Leser wird nicht nur über zahlreiche biographische Details und personelle Verflechtungen informiert, sondern erhält auch tiefergehende Einblicke in Jodls wissenschaftliches Gedankengut.

Helmut Fink, der als Herausgeber dieses Schwerpunktheftes der Zeitschrift "Aufklärung und Kritik" fungiert, nennt überzeugende Gründe, warum es sich auch heute noch lohnt, dem zwischenzeitlich kaum mehr rezipierten Jodl einen solchen Sammelband zu widmen: Er verweist auf die philosophische und philosophiegeschichtliche Bedeutung Jodls, er öffnet den Blick auf den "freisinnig Sozial-Liberalen" als einen Vermittler zwischen verschiedenen ideenhistorischen Polen, und er sieht in Jodls Werk zu Recht eine "Fundgrube für bildungs- und weltanschauungspolitische Forderungen und ihre Begründung" (S. 7).

Rudolf Lüthe geht in seinem Beitrag Jodls früher, weitgehend unbekannter (preisgekrönten!) Schrift über David Hume nach. In dieser "bemerkenswerten, originellen und scharfsinnigen Analyse" (S. 22) aus dem Jahre 1870 unternimmt Jodl eine psychologisierende Deutung Humes, welche später auch andere namhafte Wiener Philosophen vertreten sollten. Nicht minder originell und scharfsinnig erscheinen Jodls Überlegungen zu wirtschaftsethischen Fragen, denen Gerhard Engel seine Aufmerksamkeit schenkt. Die Ausführungen Jodls zu diesem Thema finden sich in einem einzigen, aus dem Jahre 1885 stammenden Aufsatz mit dem Titel "Volkswirtschaft und Ethik", in dem er ausgehend von der Analyse Adam Smiths zur Erörterung der "Socialen Frage" fortschreitet. Jodl weist dabei nicht nur auf das Versagen des Manchester-Liberalismus hin, sondern er thematisiert bereits damals die Grenzen des Wachstums in ähnlicher Weise wie später der "Verzichtsethiker" (S. 40) Erich Fromm. Als sozialpolitisch bedeutsam ist der Vorschlag anzusehen, für den Fall der Arbeitslosigkeit staatliche oder karitative Subventionen durch ein Versicherungssystem zu ersetzen. Dennoch nimmt Jodl eine für einen Religionskritiker "ungewöhnlich faire Bewertung der karitativen Anstrengungen der christlichen Kirche" (S. 48) vor, wie Engel konstatiert; auf den sich hier förmlich aufdrängenden Hinweis auf Bismarcks Sozialgesetzgebung verzichtet der Autor hingegen.

Die gemeinsame Arbeit Wilhelm Bolins und Friedrich Jodls an der (freilich unkritischen) Gesamtausgabe der Schriften Ludwig Feuerbachs ist Gegenstand einer zwar recht detailreichen und informativen, jedoch stellenweise etwas langatmigen Betrachtung Hans-Jürgen Stubigs. Auf den darauffolgenden Seiten untersucht Peter Stachel, der sich wieder einmal als ein profunder Kenner der Wiener Moderne erweist, Jodls Korrespondenzen mit dem in Graz wirkenden Philosophen Alexius Meinong, mit dem Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud, mit dem Arzt Josef Breuer und mit dem Soziologen Georg Simmel. In diesem Beitrag wird nicht nur das geistige Umfeld Jodls und seiner Briefpartner geschildert, sondern auch auf seinen Nachlass Bezug genommen, in dem sich unter anderem Vorarbeiten Margarethe Jodls zur Edition der ihrer Meinung nach wichtigsten Briefe ihres Mannes finde. Dieser Versuch ist jedoch, worauf Stachel besonders hinweist, aufgrund diverser Textkürzungen kaum als wissenschaftlich korrekt einzustufen.

Jodls umfangreiches, assoziationspsychologisch orientiertes "Lehrbuch der Psychologie", das in erster Auflage 1897 erschien, ist Gegenstand des Beitrages von Georg Gimpl, einem der wenigen zeitgenössischen Jodl-Forscher, der leider einen Tag vor dem Symposium verstarb. Gimpls andernorts bereits zuvor veröffentlichte wertvolle Studie dreht sich um die Entstehungsgeschichte und die mehrfachen Überarbeitungen und Auflagen des Werkes sowie um dessen Wirksamkeit. Zu Recht bedauert der Autor, dass Jodls Lehrbuch der Psychologie nicht in seiner vollen Bedeutung erkannt wurde.

Rolf Küffner befasst sich mit den kunsttheoretischen Vorlesungen, die Jodl ab 1901 an der Technischen Hochschule in Wien hielt. Küffner beschränkt sich in seinem instruktiven Beitrag auf den ersten Teil der posthum von Jodls Schülern herausgegebenen "Theorie der bildenden Künste" und versucht, Jodls Auffassung von einem anzustrebenden ausgewogenen Verhältnis zwischen Inhalt und Form darzulegen. Küffner vertritt die Meinung, dass es Jodl kein Anliegen war, die empirisch gewonnenen Analysen der Kunstwerke "dem künstlerischen Schaffen dienstbar" (S. 94) zu machen. Dem ist zu widersprechen, denn Jodl möchte explizit seine Ästhetik als eine Technik zur Geschmacksbildung verstanden wissen. Zudem würde es sich, entgegen Küffners Vorgehensweise, sehr wohl lohnen, einen Blick auf die beiden abschließenden Teile der Jodlschen Ästhetik zu werfen, da in ihnen die zu dieser Zeit in Wien, namentlich unter anderem von Alois Riegl, sehr kontrovers geführten Diskussionen über Stil- und Stilgeschichte abgehandelt wurden. In diesem Rahmen wäre es auch nützlich gewesen, Jodls Bedeutung im Streit um Klimts sogenannte "Fakultätsbilder", die dieser für die Aula der Wiener Universität entwarf, zu thematisieren. Ein Politikum war es überdies geradezu, dass es ein Jahr nach diesem Streit ausgerechnet Jodl war, der an der Wiener Technischen Hochschule Vorlesungen zur Ästhetik halten durfte – und nicht etwa Gustav Klimt, der sich ebenfalls darum beworben hatte.

Die folgenden beiden Beiträge befassen sich mit Jodls praktischer Wirksamkeit: Rainer Prätorius gibt einen sehr erhellenden Überblick über die amerikanische "Ethical Culture"-Bewegung, die als Vorbild für entsprechende Gründungen im deutschsprachigen Raum diente, ohne jedoch in seinem gut recherchierten Beitrag näher auf Jodl selbst und dessen einschlägige programmatische Reden einzugehen. Äußerst detailliert und aufschlussreich beleuchtet Daniela Savel in ihren Ausführungen den Wiener Volksbildungsverein und Jodls Rolle als dessen langjähriger Vorsitzender.

Manja Stegemann bespricht den 1911 in Hamburg stattgefundenen ersten Monisten-Kongress, dem der bereits schwer erkrankte Jodl als ein zentraler Redner beiwohnte. Im Anschluss daran wird Jodls zweibändige und posthum von seinem Schüler Wilhelm Börner herausgegebene Aufsatzsammlung "Vom Lebenswege" durch Joachim Kahl einer knappen Betrachtung unterzogen. Kahl greift dabei insbesondere jene Aufsätze Jodls heraus, in denen Jodl die Lehren Darwins unter ethischen Gesichtspunkten betrachtet. Mit keinem Wort erwähnt der Autor hingegen die zahlreichen für freidenkerisch Gesinnte auch heute noch aufschlussreichen religionskritischen und kirchenpolitischen Aufsätze Jodls. Zudem wird Kahls pauschale Kritik am Stil Jodls der Vielseitigkeit von dessen zu unterschiedlichen Gelegenheiten geschriebenen Aufsätzen keinesfalls gerecht.

Helmut Walther zeigt in seinem klugen und anregenden Vergleich zwischen Nietzsche und Jodl, dass dieser Nietzsche trotz vieler Gemeinsamkeiten – etwa im Verhältnis zur Musik Richard Wagners oder hinsichtlich ihrer Abkehr vom Christentum – äußerst kritisch gegenüberstand. Walthers wertvolle Ausführungen würden es verdienen, gelegentlich um Hinweise auf die freundschaftlichen Beziehungen und die sachlichen Konvergenzen des musikalisch versierten Jodls mit dem Musikwissenschaftler Guido Adler ergänzt zu werden.

Stellt Thomas Rießinger im vorletzten Beitrag Jodls Spätwerk "Kritik des Idealismus" in seiner Beziehung zum erkenntnistheoretischen Realismus dar, so untersucht Andreas Heyer in seinem den Band abschließenden Aufsatz die inoffizielle Rezeption Jodls und dessen Wirksamkeit auf "materialistische" Lehren in der DDR. Heyer stellt anhand von deren Korrespondenz die Vermittlerrolle von Georg Lukács und Wolfgang Harich in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen und verweist auf die Schwierigkeiten dieser Autoren, Jodls bürgerlichen Materialismus ihrem eigenen Theoriekonstrukt einzugliedern.

Es ist äußerst begrüßenswert, dass Friedrich Jodl wieder in das Blickfeld ernsthafter wissenschaftlicher Betrachtungen rückt. Noch erfreulicher wiegt der Umstand, dass die Beschäftigung mit dem Aufklärer und Humanisten, Religionskritiker und Volksbildner, aber auch mit dem Philosophen und Wissenschaftler Jodl in diesem profunden, gründlich recherchierten und äußerst informativen Sammelband eine seiner Vielseitigkeit entsprechende Form gefunden hat. Das vorliegende Werk ist für jeden unentbehrlich, der sich nicht nur mit Jodl als einem der Aufklärung verpflichteten Denker auseinandersetzen möchte, sondern darüber hinaus auch Interesse an der wissenssoziologischen Einbettung seines Schrifttums hat.

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