E. van Es u.a. (Hrsg.): Atlas of the Functional City

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Titel
Atlas of the Functional City. CIAM 4 and Comparative Urban Analysis


Herausgeber
Es, Evelien van; Harbusch, Gregor; Maurer, Bruno; Pérez, Muriel; Somer, Kees; Weiss, Daniel
Erschienen
Zürich 2014: gta Verlag
Anzahl Seiten
470 S.
Preis
€ 89,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Phillip Wagner, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Kaum ein Ereignis in der Geschichte der Stadtplanung des 20. Jahrhunderts ist so sehr von Legenden umrankt wie die vierte Tagung der Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM), die im Juli 1933 auf dem Mittelmeerkreuzer Patris II und in Athen stattfand. So gilt diese Zusammenkunft als Geburtsstunde einer funktionalistischen Stadtplanung, welche die urbanen Funktionsräume für das Wohnen, das Arbeiten, den Verkehr und die Freizeit entflechten wollte und damit vermeintlich die Kahlschlagsanierungen von Gründerzeitvierteln und den Bau von monotonen Hochhaussiedlungen nach 1945 vorwegnahm. Ein Anliegen des von Evelien van Es, Gregor Harbusch, Bruno Maurer, Muriel Pérez, Kees Somer und Daniel Weiss herausgegebenen Bandes ist es, die vierte CIAM-Konferenz von solchen Legenden zu befreien und primär danach zu fragen, welche Vorstellung von der Stadt die Teilnehmer auf der Tagung entwickelten. Zu diesem Zweck analysieren die Autoren, wie die Führungsriege der CIAM eine Notation für die einheitliche Ausarbeitung von Stadtplänen entwarf, wie nationale Gruppen auf Grundlage dieses Darstellungssystems Karten erstellten und wie auf der Tagung Prinzipien für die Organisation des urbanen Raums aus diesen Kartenwerken abgeleitet wurden. Damit widmet sich der Band auch der in der Wissensgeschichte zentralen Fragestellung, welche Rolle visuelle Zeichensysteme für die Konstituierung von Expertisefeldern spielten. Gleichzeitig geht es den Herausgebern auch darum zu entschlüsseln, auf welche Weise eine Organisation, die sich selbst als Repräsentant einer elitären Avantgarde begriff, die grenzüberschreitende Arbeit an einer Agenda der Stadtplanung organisierte. Somit thematisiert dieser Band auch die in der Internationalen Geschichte diskutierte Frage, wie in der durch ideologische und professionelle Konflikte gezeichneten europäischen Zwischenkriegszeit internationale Kooperation arrangiert wurde.

Vor allem Enrico Chapel und Vincent van Rossem ordnen in ihren Beiträgen das Vorhaben der CIAM in einen historischen Kontext ein. Chapel zeigt, dass sich die Versuche, kartographische Notationen zu entwerfen und mit ihnen die Stadt zu analysieren bis zu den großen Stadtplanungsausstellungen vor 1914 (beispielsweise in London und Berlin) zurückverfolgen lassen. Van Rossem verdeutlicht, dass der CIAM-Präsident und niederländische Lokalbeamte Cornelis van Eesteren, der mit der Ausarbeitung eines Zeichensystems für die Tagung 1933 beauftragt war, einerseits von den kartographischen Methoden seiner Stadtverwaltung und andererseits von diagrammatischen Karten des französischen Urbanisten Leon Jausseley geprägt wurde. Diese Kontextualisierungen verdeutlichen, dass Visualisierungen bereits vor der CIAM eine zentrale Rolle für die Konstituierung des Wissensfelds der Stadtplanung zumindest in Westeuropa spielten. Trotzdem bleibt zu fragen, inwieweit van Eesteren und seine Kollegen rezipierten, dass bereits 1924 die International Federation for Housing and Town Planning als erste internationale Organisation ein übernationales Darstellungssystem für Stadtpläne publiziert hatte.1

Daniel Weiss, Gregor Harbusch und Bruno Maurer sowie Chapel verdeutlichen in ihren Beiträgen dann die Besonderheit der CIAM-Notation. Dieses Kartenwerk sollte aus drei Blättern bestehen, welche die Funktionsräume der Stadt verzeichnen, die Verkehrsrouten darstellen und das Verhältnis von Stadt und Region verdeutlichen. Weiss, Harbusch und Maurer räumen hier noch einmal mit dem Vorurteil auf, dass es auf dem Kongress um eine rein „funktionalistische“ Stadtplanung ging. Sie zeigen, dass van Eesteren und seine Mitstreiter vielmehr das Zusammenspiel der Funktionsräume in der Stadt untersuchen wollten. Chapel zufolge unterschied sich die CIAM-Notation von den bisherigen Darstellungssystemen in der Stadtplanung, da sie einen statischen und ahistorischen Blick auf die Stadt favorisierte, die Verteilung sozialer Schichten repräsentierte und die Untersuchungskategorien drastisch reduzierte. Dennoch muss gefragt werden, ob sich diese Merkmale nicht beispielsweise auch schon in Charles Booths Kartenwerken finden lassen, auf denen er zwischen 1889 und 1891 eine Armutsgeographie von London entwarf.

Dass die Aufstellung eines gemeinsamen Symbolsystems keine einträchtige Kooperation der Delegierten der unterschiedlichen Länder war, verdeutlichen die Beiträge von Sokratis Georgiadis und Ute Schneider. Schneider widmet sich den Kontroversen um Maßstab, Semantik, Farben und Symbole der Karten. Sie zeigt, welche wissenschaftliche Bedeutung beispielsweise der Frage der Farbgebung zukam. Georgiadis untersucht unter anderem die Auseinandersetzungen zwischen einer Gruppe um van Eesteren, die sich in wertneutraler, positivistischer und vermeintlich unpolitischer Manier primär mit der Analyse urbaner Räume beschäftigen wollten, und einer heterogenen kommunistischen beziehungsweise sozialistischen Fraktion um Arthur Korn (Deutschland), der es hauptsächlich um praktische und gesellschaftspolitische Fragen ging. An diesem Punkt vermisst der Rezensent jedoch die Analyse der politischen Implikationen eines positivistischen Ansatzes, der die gegebenen politischen Machtverhältnisse nicht in Frage stellte, weil er davon ausging, dass gesellschaftliche Fragen rein technisch-wissenschaftlich gelöst werden könnten.

Schließlich beinhaltet der Band weitere Essays unter anderem von Kees Somer und Sophie Wolfrum über die Nachwirkungen des vierten CIAM-Kongresses. Somer analysiert den verschlungenen Publikationsprozess der Tagungsergebnisse. Während die fachlichen und politischen Kontroversen auf der Konferenz dafür verantwortlich waren, dass die Führungsriege der CIAM nur eine allgemein gehaltene Erklärung über die Grundlagen der Stadtplanung publizierte, sorgte die wirtschaftliche Krise der 1930er-Jahre dafür, dass sie die Kongressresultate nicht in einem eigenen Buch erscheinen konnten. Am Ende veröffentlichten nur der spanische Architekt Jean Luís Sert und Le Corbusier ihre zugespitzten Interpretationen der Tagung. Vor allem Le Corbusiers „Le chartre d’ Athènes“ wurde zum Synonym für eine funktionalistische Stadtplanung, welche die urbanen Funktionsräume radikal trennen wollte. Wolfrum zeigt in eher assoziativer Weise, dass solche Vorstellungen letztendlich bis heute das Baurecht in Deutschland prägen.

Der zweite Teil des Buches beinhaltet Essays über die 18 überwiegend europäischen Gruppen, die sich an der Tagung mit kartographischen Stadtanalysen beteiligten. Hier gerät nun erstmals das gesamte Netzwerk von Beiträgern der Konferenz in das Blickfeld. Zuerst zeigen die unterschiedlichen Aufsätze, dass es überwiegend ein professionelles Interesse war, das die Mitarbeit an der Tagung inspirierte. Durch die Beteiligung an einem für die damalige Zeit groß angelegten Forschungsprojekt glaubten insbesondere jüngere Architekten ohne gesicherte berufliche Zukunft, Ressourcen zu generieren, welche sie in ihren heimischen Auseinandersetzungen über die Besetzung des Handlungsfeldes der Stadtplanung hofften nutzen zu können.

Außerdem verdeutlichen die Essays, wie die Protagonisten bei der Anfertigung der Karten vorgingen. So wurden die kartographischen Standards der CIAM sehr frei interpretiert. Die Gruppen aus den USA und Französisch-Indochina erweiterten etwa die Untersuchungskategorien und visualisierten auch die ethnische Segregation in ihren Städten. Außerdem waren die Gruppen, zum Beispiel in Frankreich und Ungarn, trotz ihres elitären Habitus und ihrem oftmals nur marginalen Status gut vernetzt, sodass sie beispielsweise auch Daten oder ganze Karten von Lokal- und Staatsverwaltungen für ihre Beiträge zur CIAM-Tagung erhielten. Diese Einsichten unterstützt der Sammelband durch den hochwertigen Druck der Kartenwerke sowie anderer Dokumente aus dem CIAM-Archiv der Eidgenössisch Technischen Hochschule Zürich.

Schließlich untersuchen die Essays auch, welche Folgen die Teilnahme an der Tagung für die Protagonisten hatte. In keinem Land trug die Konferenz direkt dazu bei, die von den CIAM-Mitgliedern favorisierten Planungen durchzusetzen. Stattdessen stiftete die gemeinsame Arbeit an den Kartenwerken etwa in Deutschland professionelle Netzwerke, die mitunter bis in die Nachkriegszeit Bestand hatten. In Niederländisch Ostindien motivierte die Tagung die Planer, in ihrer Kolonie auch eine Stadtplanungsausstellung nach dem Vorbild der CIAM stattfinden zu lassen. Vor allem aber half die Partizipation an der Konferenz dabei, Planungswissen zu generieren, die Perspektive der Protagonisten auf die Stadt zu schärfen und ihren eigenen stadtplanerischen Standpunkt zu akzentuieren, was deutlich am Beispiel von Großbritannien und Polen gezeigt wird.

Trotz der einzelnen Kritikpunkte überzeugt der hier vorliegende Band vor allem aus drei Gründen. Erstens macht er gestützt auf eindrucksvolles Archivmaterial deutlich, welche Rolle visuelle Medien bei der Konstituierung eines Expertisefelds spielten, indem er zeigt, dass durch die Anfertigung, den Vergleich und die Evaluation von Karten die Stadtplaner der CIAM ihre Handlungsimperative für die Modernisierung der Stadt oftmals präzisieren konnten. Zweitens rückt der Band die zahlreichen politischen und professionellen Kontroversen um eine gemeinsame kartographische Zeichensprache in den Mittelpunkt und beschreibt deswegen grenzüberschreitende Kooperation in der europäischen Zwischenkriegszeit im Spannungsfeld von Internationalismus und Nationalismus. Drittens ist der Band auch ein gelungenes Beispiel dafür, dass es heutzutage ratsam erscheint, die Erforschung internationaler Organisationen und Ereignisse als grenzüberschreitendes „Teamwork“ zu konzeptualisieren. Die Beiträge der einzelnen nationalen Gruppen zur CIAM-Konferenz und die Auswirkungen dieser Tagung auf die unterschiedlichen innenpolitischen Debatten konnte nur durch eine Gruppe von Historikerinnen und Historikern mit unterschiedlichen Sprachkenntnissen und Zugang zu den verschiedenen Archiven hinreichend untersucht werden. Deswegen verdeutlicht dieser Band auch, wie die Geschichtswissenschaft in produktiver Weise mit der Internationalisierung des eigenen Fachs umgehen kann.

Anmerkung:
1 Phillip Wagner, Facilitating Planning Communication Across Borders. The International Federation for Housing and Town Planning in the Interwar Period, in: Planning Perspectives 30 (2015), im Erscheinen.

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