T. Kneisler: Piaget in der Erziehungswissenschaft

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Titel
Piaget in der Erziehungswissenschaft. Eine wissenschaftshistorische und wissenschaftstheoretische Bilanzierung


Autor(en)
Kneisler, Torben
Erschienen
Bad Heilbrunn 2015: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
239 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Richard Kohler, Pädagogische Hochschule Thurgau

In seiner Dissertationsschrift unternimmt Torben Kneisler den Versuch, die Rezeption der Theorie Jean Piagets in der deutschen Erziehungswissenschaft zu rekonstruieren und darauf aufbauend die Bedeutung des Theorieimports für das Selbstverständnis der Disziplin im Allgemeinen zu eruieren. Aufgrund des fehlenden eigenständigen Theoriesockels und Methodenrepertoires und der daraus folgenden Orientierung an den Nachbardisziplinen wird der Erziehungswissenschaft seit langem eine hohe Anfälligkeit für Eklektizismus und kurzfristige Trendwechsel vorgeworfen. Bei der Studie handelt sich folglich um ein erfreuliches und vielversprechendes Vorhaben, wurde doch der pädagogische Hype um Piagets eigentümliche Theorie zwischen den 1970er- und 1990er-Jahren bisher erst ansatzweise aufgearbeitet. Eigentliche Rezeptionsstudien, die für die Selbstreflexion jeder Disziplin relevant sind, liegen für Piaget im deutschsprachigen Raum bisher nicht vor.

Zuerst liefert Kneisler eine systemtheoretisch basierte Fundierung der Arbeit, die die Rolle der Publikationen im Differenzierungsprozess der wissenschaftlichen Disziplinen beleuchtet. Im nächsten Abschnitt werden Fachjournale als Quelle der Forschung und die Analysemethoden vorgestellt. Danach erfolgt ein Überblick über den Forschungsstand, aus dem die Fragen und ein Kategoriensystem für die Untersuchung abgeleitet werden.

Kneisler analysiert zunächst die Zitationsentwicklung zu Piaget in acht deutschsprachigen Zeitschriften der Erziehungswissenschaft sowie einer psychologischen als Vergleichsgröße zwischen 1946 und 2010. Mithilfe einer quantitativen Auswertung kann Kneisler die von diversen Autoren festgestellten Zeiträume der Piaget-Rezeption bestätigen. Um 1970 setzte eine intensive Piaget-Zitation ein, die in den 1980er-Jahren rückläufig war, aber in den 1990er-Jahren einen neuen Boom erlebte, um dann in den 2000er-Jahren fast ganz zu verschwinden. Dabei zeigt sich, dass Piaget in den geisteswissenschaftlich geprägten Zeitschriften („Pädagogische Rundschau“, „(Neue) Sammlung“) nur marginal erwähnt wurde. Am häufigsten zitiert wurde Piaget in der „Zeitschrift für Pädagogik“, die aufgrund ihrer Öffnung gegenüber den Sozial- und Humanwissenschaften als zentrales Publikationsorgan des Modernisierungs- und Differenzierungsprozesses der Disziplin seit den 1960er-Jahren dargestellt wird. Zurückhaltender als die „Allgemeine Pädagogik“ reagierte die „Pädagogische Psychologie“. Zwar zeichnete sich die „Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie“ durch eine kontinuierliche, wenn auch nicht besonders intensive Rezeption aus, aber in der empirisch ausgerichteten „Zeitschrift für Pädagogische Psychologie“, die Steuerungs- und Anwendungswissen bereitstellen will, wurde Piaget kaum erwähnt. Kneisler stellt die Bedeutungslosigkeit von Piagets Theorie in der Lehr-Lernforschung zwar fest, bringt sie aber erstaunlicherweise nicht in einen Zusammenhang mit den im Kapitel 3 aufgelisteten 15 Kritikpunkten, die gegenüber Piagets Theorie vorgebracht wurden.

Dank dem Verfahren der strukturierten Inhaltsanalyse (nach Mayring) können einige Präzisierungen zu den Aussagen in der Literatur vorgenommen werden. Die im US-amerikanischen Kontext wichtige Frontstellung der genetischen Entwicklungstheorie gegenüber dem Behaviorismus ist in der deutschen Rezeption weniger wichtig, weil der hiesige Diskurs bis in die 1960er-Jahre von der geisteswissenschaftlichen Pädagogik beherrscht wurde. Auch die Aussagen einiger Autoren, dass die Strukturtheorie, insbesondere die Stadientheorie und die Experimente, zuerst die Vorschulpädagogik beeinflusst haben, müssen relativiert werden. Die in den USA versuchte Umsetzung von Piagets Experimenten in didaktische Aufgaben im Kontext des Übertritts in die Primarschule spielte in Deutschland offenbar keine Rolle. Hingegen bestätigt sich, dass Piaget vor allem die Fachdidaktiken der Mathematik und der Naturwissenschaften beeinflusste. Da seine Theorie auf dem Begriff der ‚logisch-mathematischen Operationen‘ basiert und seine Experimente physikalische Phänomene betreffen, ist es nicht erstaunlich, dass sich das „Journal Mathematik-Didaktik“ und die „Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften“ intensiver mit Piagets Theorie beschäftigt haben als etwa „Der Deutschunterricht“. Allerdings lässt sich über den Beginn der Rezeption nur wenig aussagen, weil das „Journal Mathematik-Didaktik“ 1980 und die „Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften“ erst 1995 gegründet wurden. Um die vorangehende Rezeption zu bestimmen, müssten andere Publikationen beigezogen werden. Aber ähnlich wie bei den anderen Journalen verliert sich der Rekurs auf Piaget auch in der Fachdidaktik im neuen Jahrhundert.

Kneisler kann zeigen, dass die deutsche Rezeption Piagets auf einer breiten Basis erfolgte. Zentrale Anschlüsse fanden sich in den 1980er-Jahren vor allem auch in der Bildungssoziologie und Moralerziehung, etwa bei Jürgen Habermas oder Wolfgang Edelstein. In Übereinstimmung mit dem Forschungsstand kommt Kneisler zum Schluss, dass die erneute Rezeptionswelle in den 1990er-Jahren eng verknüpft ist mit der Konstruktivismusdebatte, die zu Themen wie der Schülerrolle, der Lehrer-Schüler-Beziehung oder der Individualisierung geführt wurde. Aus der Abfolge des Rezeptionsfokus auf die Struktur- und Funktionstheorie (Entwicklungspsychologie) in den 1970er-Jahren, die Sozialisationstheorie in den 1980er-Jahren und die Erkenntnistheorie in den 1990er-Jahren schließt Kneisler nicht nur, dass eine ausgewogene Theorierezeption stattfand, sondern auch, dass die Rezeption einem „notwendigen“ Integrationsprozess entsprach, der „allgemeinen kognitiven Evolutionsregeln folgt[e]“ (S. 193) und eine „Annäherung an Objektivität“ (S. 169) beinhaltete. Diese Konvergenz in der Rezeption leitet er ab aus Piagets These der Parallelität von Psychogenese und Wissenschaftsgeschichte (S. 159), woraus er folgert, „dass die langfristige Erschließung von Piagets Gesamtwerk durch die deutschsprachige Erziehungswissenschaft mit der allgemeinen genetischen Erkenntnistheorie selbst erklärbar wird“ (S. 160). Die Rezeption Piagets in der deutschen Erziehungswissenschaft interpretiert Kneisler folglich als eine Disziplingeschichte, die durch Piagets Theorie selbst zu erklären ist. Diese abenteuerliche Verwendung des Beispiels als universalem Erklärungsmodell führt dazu, dass sich der Autor dieselben Probleme einhandelt, mit denen Piaget 50 Jahre lang kämpfte. Piaget dachte nicht in historischen Kategorien, sondern evolutionistisch, und zwar nicht darwinistisch, sondern finalistisch, was Kneisler systemtheoretisch reproduziert.

Um Piagets Theorie als eigene Basis der Argumentation zu legitimieren, werden die vorgebrachten Kritikpunkte als anfängliche Schwierigkeiten aufgrund der „unterschiedlichen fachlichen Perspektiven“ (S. 175) relativiert, weshalb „der Grossteil der Kritikpunkte nicht haltbar sei“ (S. 174). Den Kritikern Piagets wird zudem unterstellt, „dass eine möglichst objektive Auseinandersetzung mit dem Gegenstand der genetischen Theorie nicht immer im Vordergrund stand“ (S. 166). Trotz dieser Entwertung bleibt das unangenehme Problem zu erklären, wieso Piaget heute nicht mehr zitiert wird. Die dazu entwickelte Hypothese besagt, dass Piagets Theorie in zwei durch den Bildungsoptimismus hervorgerufene Wellen des Bildungswachstums assimiliert wurde und nun quasi im selbstverständlichen Unbewussten der Disziplin abgelagert sei. Nicht die Aporien der Theorien Piagets haben folglich zu deren Bedeutungsverlust geführt, sondern deren allgemeine Anerkennung machte im Gegenteil die Zitation überflüssig. Die vorgebrachten Argumentationen vermögen nicht zu überzeugen: Dabei werden etwa die Erziehungswissenschaft „als ein selbstreguliertes autopoietisches System“ (S. 207) homogenisiert und reifiziert, die Rezeption „als ein epigenetischer Prozess der Erkenntnisproduktion“ (S. 208) biologisiert oder die Disziplingeschichte psychologisiert (S. 167). Statt stringente Zusammenhänge zu konstruieren werden Analogien (der wissenschaftliche Rezeptionsprozess wird mit der Zivilisationstheorie, dem Intelligenzwachstum, der Gedächtnis- oder Kulturentwicklung verglichen, S. 180) und Metaphern vorgebracht, und auch bei relevanten Behauptungen fehlen Verweise und Belege.

Insgesamt kann Kneisler mit seiner quantitativen Auswertung die bisherige Wahrnehmung der Rezeption bestätigen, die eher auf der Analyse der Buchübersetzungen und inhaltlichen Kontroversen beruhte. Zudem liefert seine Arbeit einige wertvolle Präzisierungen, die die spezifisch deutsche Auseinandersetzung mit Piaget von der angelsächsischen Rezeption abgrenzt. Allerdings bleibt die Erklärung dieses Rezeptionsprozesses dürftig, was an dem ahistorischen Theoriemodell liegt. Kneislers Versuch der Begründung einer universalen Disziplintheorie in den evolutionistischen Kategorien Piagets scheitert ebenso wie dessen implizite Rehabilitation im Gewand einer Rezeptionstheorie.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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