S. Haas u.a. (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Geschichte

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Titel
Die Wirklichkeit der Geschichte. Wissenschaftstheoretische, mediale und lebensweltliche Aspekte eines (post-)konstruktivistischen Wirklichkeitsbegriffes in den Kulturwissenschaften


Herausgeber
Haas, Stefan; Wischermann, Clemens
Erschienen
Stuttgart 2015: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
222 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Achim Landwehr, Historisches Seminar VIII, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Wenn in einem Sammelband mit dem Titel „Die Wirklichkeit der Geschichte“ eben diese Wirklichkeit der Geschichte nicht so prominent in Erscheinung tritt, wie man das zunächst erwarten würde, dann mag das zu spontanen Unmutsäußerungen führen. Schließlich haben wir es hier nicht gerade mit einem nebensächlichen Problem zu tun. Man kann zahlreiche der sogenannten ‚historischen Grundsatzdebatten‘, wie sie seit der Etablierung der Geschichtswissenschaft als Universitätsdisziplin geführt wurden, nicht nur auf die Frage zurückführen, was denn nun ‚wirklich‘ geschehen sei, sondern noch wesentlicher, ob und wie diese Wirklichkeit überhaupt behandelt werden könne. Da mag eine Veröffentlichung gerade recht kommen, welche die Bearbeitung genau dieses Problems zu versprechen scheint und Hoffnungen macht auf andere Perspektivierungen dieses altehrwürdigen Gegenstandes, ja, die vielleicht sogar ein neues Verständnis von ‚historischer Wirklichkeit‘ entwerfen könnte. (Zumindest wäre nun schon einmal deutlich, mit welchen Erwartungen ich dieses Buch in die Hand genommen habe.)

Dass solche – vielleicht etwas hochgestochenen – Vorfreuden (geweckt durch einen nicht minder hochgestochenen Buchtitel) nicht erfüllt werden, sei gleich an dieser Stelle mitgeteilt. Dieser Sammelband bietet keinen neuen Grundsatzentwurf, was unter historischer Wirklichkeit zu verstehen sei und wie sie zu bearbeiten wäre. Die Enttäuschung darüber hält sich jedoch in Grenzen, denn wie hypertroph ist es nicht nur, einen solchen ‚großen Wurf‘ zu erwarten, sondern seine Möglichkeit überhaupt in Betracht zu ziehen? Unter Umständen ist der implizite Totalitätsanspruch das größte Problem des Begriffs ‚historische Wirklichkeit‘, weil er zumindest unterschwellig die Botschaft vermittelt, damit müsse alles erfasst werden können, was es jemals gegeben habe.

Um sich nicht dem Vorwurf aussetzen zu müssen, eine solche gottgleiche Sichtweise ernsthaft einnehmen zu wollen, gibt es verschiedene Vermeidungs- und Umgehungsstrategien, die auch in diesem Band zum Zug kommen. Sie bestehen einerseits in der rückblickenden Zusammenfassung bisheriger Diskussionen, andererseits in der Konzentration auf das eigene Forschungsthema als einer speziellen Unterabteilung historischer Wirklichkeit. Der zweiten Strategie befleißigen sich zum Beispiel Julian Aulke mit einem Beitrag über den (und die) Spatial Turn(s) und einer kulturgeschichtlichen Behandlung der ‚Raumatmosphäre‘; Thomas G. Kirsch mit einem ethnologischen Aufsatz zur Frage, ob Kulturen auf Geschichte verzichten können (mit exemplarischen Schilderungen zu den Gwembe in Sambia und der gegenwärtigen Geschichtskultur in Südafrika); Thomas Müller mit einer Betonung der Patientenperspektive im Rahmen der Psychiatriegeschichte; Birgit Schwelling mit einer Behandlung des nicht ganz unproblematischen Verhältnisses von Zeitzeugen und Zeitgeschichte als wissenschaftlicher Subdisziplin; und André Donk mit einer Untersuchung zur Digitalisierung von Wissenschaft. Natürlich kommt in all diesen Darlegungen die historische Wirklichkeit mehr oder minder explizit zum Zug. Aber das gilt eigentlich für jeden geschichtswissenschaftlichen Beitrag, der sein Spezialthema zu beackern versteht. Im Detail liegt hier sicherlich Erkenntnisförderndes vor, mit Blick auf das Generalthema bleibt es bei Spurenelementen.

Damit wird in Teilen dieses Bandes weitgehend darauf verzichtet, die Probleme zu thematisieren, die der Frage nach der historischen Wirklichkeit gewissermaßen vorausliegen: Wie nämlich ein Gegenstand zu behandeln ist, der zwar nicht mehr existiert, aber trotzdem noch anwesend ist, und welcher Wirklichkeitsstatus den Beschreibungen zuzumessen ist, welche die Geschichtswissenschaft selbst von historischen Wirklichkeiten abliefert. Am ehesten gelingt dies im Beitrag von Wolfgang Ernst über Medienoperationen als Herausforderungen historischer Zeitlichkeit. Er plädiert durchaus anregend für eine Verabschiedung von der Linearität historischer Narration zugunsten einer Modellierung von Zeit, die sich nicht mehr an das Schema der Chronologie hält. Schade nur, dass dies einmal mehr im sprachlich und theoretisch recht hermetischen Jargon der „Kittler-Jugend“ geschieht, was der Rezeption nicht unbedingt förderlich ist.

Begibt man sich ansonsten auf die Suche nach den Brosamen eines veränderten Verständnisses von historischer Wirklichkeit, wird man in den Aufsätzen durchaus fündig, die sich stärker auf eine Rekapitulation der bisherigen Diskussion konzentrieren. Stefan Haas macht bei seinem Durchgang durch die diversen Turns der letzten Jahrzehnte insgesamt eine intensivere theoretische Reflexion (Theory Turn) ausfindig. Thomas Welskopp schließt seine Rückschau auf die Diskussion zwischen Realismus und Konstruktivismus mit einem Plädoyer für einen praxeologischen Zugang. Und Armin Heinen vergibt leider die (von ihm selbst angekündigte) Chance, der Akteur-Netzwerk-Theorie einen prominenteren Platz in dieser Debatte einzuräumen, die eigentlich den Blick auf die Handlungsmächtigkeit des historischen Materials (vulgo ‚Quellen‘) bei der Konstitution historischer Wirklichkeiten eröffnen könnte.

Wie groß die Spannweite der Ansätze sein kann, die sich in diesem Band mit Problemen der historischen Wirklichkeit auseinandersetzen, zeigen die Beiträge von Clemens Wischermann und Ferdinand Fellmann, die (nicht zufällig?) genau hintereinander und ziemlich exakt in die Mitte des Buchs platziert sind. Auf der einen Seite distanziert sich Wischermann sehr deutlich von einem konventionellen Wirklichkeitsverständnis in der Geschichtswissenschaft, das – wie abgemildert auch immer – weiterhin versucht, eine Sinnhaftigkeit im Gesamtzusammenhang, beispielsweise einer Epoche, aufzudecken. Wischermann möchte demgegenüber nicht nur die Einbettung solcher historischer Wirklichkeiten in der jeweiligen Gegenwart berücksichtigt, sondern vor allem die Bezüge zur Subjektivität der jeweils historisch Arbeitenden aufgedeckt sehen. Gegen das von ihm trefflich so genannte ‚Haftungsparadigma der Geschichte‘, also die „Annahme eines wirklichen, wenn auch schwer durchschaubaren kollektiven Sinnzusammenhangs mit Zwangsmitgliedschaft“ (S. 104), setzt er Alternativen wie die Bedeutung des Vergessens oder das situierte Wissen des historischen Selbst.

Damit ist zwar noch kein alternatives Verständnis historischer Wirklichkeit formuliert, jedoch an einigen Grundfesten gekratzt, die als dessen nicht selten unreflektierte Basis dienen. Welche Schwierigkeiten jedoch mit einer solchen Vergegenwärtigung und Subjektivierung einhergehen können, offenbart der gänzlich anders ausgerichtete Beitrag von Fellmann, der nicht nur eine Entzauberung der ‚Geschichte von oben‘ zugunsten einer ‚Geschichte von unten‘ beklagt, sondern weiterhin auf die Bedeutung der ‚einen großen Geschichte‘ als sinnstiftendem Gesamtzusammenhang pocht. Das mag skeptisch gesinnten Zeitgenossen hochgradig gewöhnungsbedürftig erscheinen, aber Fellmann wirft damit zumindest indirekt das Problem auf, welchen Status man der Vergangenheit in all den theoretischen Bemühungen zuzumessen gedenkt. Denn diese scheint zuweilen nicht nur in den Untiefen der Fachdiskussionen zu ertrinken, sondern auch gleich noch mit dem theoretischen Bade ausgeschüttet zu werden. Dabei hat sie doch schon ganz wesentlich an den theoretischen Erwägungen mitgestrickt, die wir nun im Nachhinein auf sie anzuwenden meinen. Diese reziproke Verstrebung scheint der erhöhten Aufmerksamkeit wert zu sein.

Man könnte daher mit Fug und Recht behaupten, dieser Sammelband sei so bunt und vielfältig wie die historische Wirklichkeit selbst. Aber eine Gemeinsamkeit offenbart sich dann doch, und zwar in der Behandlung von Entweder-oder-Debatten – die weniger Teil der Lösung, sondern eher Teil des Problems zu sein scheinen. Die schier endlos sich hinziehenden Diskussionen um Konstruktivismus versus Realismus, Subjektivität versus Objektivität, Diskurstheorie versus Hermeneutik, große Geschichte versus fragmentierte Geschichte oder um den größten (historischen) Dualismus von allen, nämlich Gegenwart versus Vergangenheit, müssen inzwischen ebenso antiquiert anmuten wie die wiederholte Anrufung der Postmoderne, die außerhalb dieses Sammelbandes schon seit geraumer Zeit den Weg aller Modebegriffe gegangen ist – in einigen der vorliegenden Beiträge aber immer noch als Schießbudenfigur herhalten darf. Wenn also das Problem in diesen Dichotomien zu entdecken ist, dann bestünde ein möglicher Ausweg darin, die Konstitution historischer Wirklichkeit gerade zwischen ihnen zu suchen und darauf zu achten, was zwischen Vergangenheit und Gegenwart geschieht.

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