: Geschichte Griechenlands im 20. Jahrhundert. Band 1: 1900–1939. Wiesbaden 2015 : Harrassowitz Verlag, ISBN 978-3-447-10396-1 355 S. € 40,00

: Kleine Geschichte Griechenlands. Von der Staatsgründung bis heute. München 2014 : C.H. Beck Verlag, ISBN 978-3-406-65343-8 240 S. € 12,95

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Niko Rohé, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Griechenland ist in den vergangenen Jahren ein Dauerthema der deutschsprachigen Berichterstattung geworden. Dies weckte zuletzt auch den Bedarf nach einem besseren historischen Verständnis der jüngeren griechischen Geschichte, dem sich nun zwei vor kurzem erschienene historische Überblicksdarstellungen annehmen. Bereits 2014 brachte der C.H. Beck Verlag Ioannis Zelepos’ „Kleine Geschichte Griechenlands“ heraus, in diesem Jahr erschien dann Heinz A. Richters „Die Geschichte Griechenlands im 20. Jahrhundert. Band 1: 1900–1939“ in der von Richter selbst herausgegebenen Peleus-Buchreihe. Obwohl die beiden Bände thematisch eng verwandt sind, adressieren sie ganz unterschiedliche Leserschaften.

Heinz A. Richters Band wird als eine „völlig überarbeitete Auflage“ des Titels „Griechenland im 20. Jahrhundert“ charakterisiert, den er 1990 veröffentlichte.1 Zwischen dem Erscheinen beider Werke liegen nicht nur 25 Jahre, sondern auch zahlreiche weitere Publikationen Richters zur griechischen Geschichte. Diese vertieften Forschungen und die damit verbundenen neuen Erkenntnisse sind es, die Richter dazu bewogen, seine frühere Darstellung stark zu überarbeiten und nun neu zu veröffentlichen.

Über 350 Seiten befasst er sich daher noch einmal ausgiebig mit der griechischen Geschichte zwischen dem Kreta-Aufstand 1897 und der Metaxas-Diktatur bis 1939. Den quantitativen Schwerpunkt bildet die Beschäftigung mit dem Kriegsjahrzehnt von 1912–1922, während der vergleichbare Zeitraum von 1923–1932 deutlich knapper behandelt wird. Dieses Ungleichgewicht begründet Richter vor allem mit der „von der französischen Propaganda geprägten Sicht der Ereignisse“ auf den Ersten Weltkrieg, der er „wie die meisten anderen Autoren auch“ in der früheren Auflage „auf den Leim gegangen“ (S. 11) sei und die er nun anhand neuerer Quellenfunde revidieren wolle. Er schreibt dazu: „Es gibt kaum eine objektive Darstellung, denn alle sind von der Giftküche der Propaganda der Alliierten beeinflusst.“ (ebd.)

Diese provokativen Worte und die radikale Position mögen abschrecken, sie wecken jedoch auch Neugier. Worum geht es Richter? Sein Hauptanliegen ist es, die Rollen von Premierminister Eleftherios Venizelos und König Konstantin I., dem man vorwarf, er sei „germanophil und konspirierte mit Kaiser Wilhelm II. gegen die Alliierten“ (S. 12), neu zu interpretieren und bisherige historische Darstellungen „richtigzustellen“ (ebd.). Wie geht er vor?

Sein Plädoyer für eine Revision der griechischen Geschichte zwischen 1912 und 1922 stützt Richter im Wesentlichen auf zwei neue Argumente: Zum einen verweist er auf zwei englischsprachige Kriegskorrespondenten, die sich während des Krieges in Griechenland aufhielten und den Einfluss ihrer Regierungen kritisierten. Ihre Beobachtungen konnten sie jedoch aufgrund der alliierten Zensur erst 1920 veröffentlichen. Zum anderen zieht Richter die Aufzeichnungen des griechischen Diplomaten S. P. P. Cosmetatos heran, der seine Sicht der Dinge 1928 publizierte, jedoch von Richter ansonsten nicht näher eingeführt wird. Alle drei Autoren seien zu Unrecht als Royalisten diffamiert und daher von der Forschung bisher missachtet worden.

Methodisch hat Richter viele problematische Elemente der früheren Darstellung auch in diesem Band beibehalten. Seine Diskussion der „politischen Kultur Griechenlands“ etwa läuft auf eine Essentialisierung der Einwohner Griechenlands hinaus. Richter setzt „die Griechen“ als homogene Gruppe voraus und wirft alsdann die Frage auf, wie „der Grieche“ (S. 16) sich in seiner Mentalität durch die Fremdherrschaft verändert habe. Auffällig sind darüber hinaus die zahlreichen normativen Formulierungen, in denen Richter historische Prozesse und Entscheidungen politisch bewertet: „Der neu entstandene griechische Nationalstaat […] strebte legitimerweise danach, alle Griechen in einem Staat zu vereinen“ (S. 21). In der späteren Darstellung zur Haltung Griechenlands im Ersten Weltkrieg bezieht Richter zudem deutlich Stellung gegen Venizelos, den er als französischen Protegé bezeichnet, und zugunsten Konstantins, der die Lage realistisch eingeschätzt und mit seiner Neutralitätsbekundung, die richtige Entscheidung getroffen habe.

Mit Blick auf die neuen Quellenfunde gelingt es Richter gleichwohl, auf einige Geschehnisse eine alternative Sichtweise zu erlangen. Sein Verdienst wird dort besonders deutlich, wo er die unterschiedlichen historischen Zeugnisse miteinander konfrontiert und auf Unstimmigkeiten aufmerksam macht. So verleiht er König Konstantin eine Stimme, indem er dessen wenig beachtetes letztes Interview von 1917 ausführlich zitiert oder deckt Widersprüche in der Überlieferung der Privatkorrespondenz zwischen dem deutschen und griechischen Königshaus auf. Beides relativiert das Bild Konstantins als germanophilem Herrscher. Allerdings ist die Quellenlage dünn. Richter stützt sich, wie beim Beispiel des royalen Briefwechsels, in vielen Teilen seines Buchs nur auf eine einzige Stimme, wie in diesem Fall die 1942 erschienene Publikation des ehemaligen Mitglieds der deutschen Militärmission, Carl Mühlmann, die er zudem nicht kritisch einführt. Es fällt auf, dass er, ohne nähere Erläuterung, größtenteils Erinnerungen englisch-, französisch- oder deutschsprachiger politischer Persönlichkeiten heranzieht, während griechische Stimmen in der Minderheit bleiben. Das ist bedauerlich, denn erst in der Multiperspektivität zeitgenössischer Akteure, wie Richter sie dann zu den Verhandlungen 1919 und der griechischen Smyrna-Intervention nachzeichnet, wird die historische Interessengemengelage deutlich.

Der erste Band der „Geschichte Griechenlands im 20. Jahrhundert“ kann so nur streckenweise überzeugen. Sein Hauptverdienst ist es, auf überwiegend gut zu lesende Weise eine kritische Auseinandersetzung mit der bestehenden Historiographie zur griechischen und alliierten Politik zwischen 1897 und 1939 anzuregen. Hier eröffnet Richter speziell mit seiner Sicht auf die Ereignisse des Ersten Weltkriegs in Griechenland Perspektiven für eine neue kontroverse Diskussion über die Rolle von Venizelos und König Konstantin. Das von ihm angeführte Quellenmaterial reicht allerdings nicht aus, um größere Revisionen im etablierten Geschichtsbild zu rechtfertigen. Dazu bedarf es weiterführender Studien, die über eine ereignis- und diplomatiegeschichtliche Darstellung hinausgehen und die jüngere Forschung noch stärker einbeziehen.

Dies gelingt Ioannis Zelepos, der auf etwas mehr als 200 Seiten Taschenbuch (Beck’sche Reihe) eine kurzweilige Einführung in die Geschichte des modernen griechischen Staats bietet. Das Werk richtet sich an ein breites Publikum, weshalb beispielsweise auf eine Diskussion des Forschungsstandes verzichtet und stattdessen auf die angehängte Literaturliste verwiesen wird (die allerdings nur Titel bis 2010 aufführt). Dafür glänzt Zelepos’ Buch auf anderem Gebiet: Es wird vielen aktuellen Forschungsansätzen gerecht und geht zeitlich wie räumlich über den modernen griechischen Staat hinaus.

Heißt es im Untertitel noch „von der Staatsgründung bis heute“, so widmet sich Zelepos im ersten von zehn Kapiteln ausgiebig der Frage nach der Entstehung einer griechischen Identität seit dem 16. Jahrhundert. Seine Geschichte setzt bei den frühen, Griechisch sprechenden Diasporagemeinden ein, die er als „grenzüberschreitenden Kommunikationsraum“ (S. 16) innerhalb und außerhalb des Osmanischen Reiches beschreibt. Dabei betont er überzeugend, dass sie, trotz ihrer zentripetalen Ausrichtung auf Konstantinopel als geistlichem Zentrum, zunächst keineswegs eine eigene Staatlichkeit anstrebten. Stattdessen – und damit bewegt er sich auf der Höhe aktueller Empire-Forschungen – nahmen sich orthodoxe Händler als Teile der heterogenen Reiche wahr und kooperierten so zum Beispiel in osmanischen Verwaltungsfragen eng mit der islamischen Dynastie.

Der sich daran anschließenden Thematik der Staatsgründung nähert sich Zelepos ebenfalls jenseits von traditionellen Erklärungsmodellen. Er diagnostiziert kein wachsendes Nationalgefühl bei ethnischen oder religiösen Einheiten, sondern begibt sich auf die Ebene von sozialen Gruppen und Akteuren; politische Interessen stehen bei ihm im Mittelpunkt. So erscheint es plausibel, dass sich orthodoxe Kaufleute im kriselnden Osmanischen Reich, in dem ihnen Aufstiegsmöglichkeiten häufig verwehrt blieben, zunehmend nach Europa wandten und über diesen transregionalen Austausch zudem Ideen der Aufklärung importierten. Umgekehrt hebt Zelepos auch den Einfluss philhellenischer Strömungen hervor, die dazu beitrugen, dass europäische Imperien wie England, Frankreich oder Russland mit dem Ziel, eine griechische Staatsgründung zu befördern, im Bürgerkrieg der 1820–1830er-Jahre intervenierten.

In den nachfolgenden Kapiteln, bei der Darstellung der Wechselwirkungen zwischen der griechischen Politik und den Interessen der wichtigen Garantiemächte Russland und England, gelingt es Zelepos, eine gute Gewichtung zu finden: Seine Beschreibung unterstreicht die überregionalen Rückwirkungen von Konflikten und Verträgen wie dem Krimkrieg 1853–56 oder des Berliner Kongresses 1878 auf politische Bewegungen in Athen, degradiert Griechenland dabei jedoch nicht zu einem passiven Spielball der Großmächte. Zu Recht, denn über die Megali Idea, als verbreitete territoriale Imagination eines hellenischen Reichs west- und östlich der Ägäis, wurde Griechenland ab 1860 zu einem beständigen Unruhefaktor in Südosteuropa. In der Kreta-Krise 1866, der Bulgarischen Frage 1878 und im griechisch-osmanischen Krieg 1897 nutzten griechische Nationalisten stets aufs Neue ihre Rolle als Verfechter des christlichen Abendlandes gegen die orientalische Despotie, um die europäischen Garantiemächte moralisch unter Zugzwang zu setzen.

Zelepos’ Darstellung gerät dabei zuweilen sehr akteurszentriert. Dies findet im fünften Kapitel zum Kriegsjahrzehnt (1912–1922) einen vorläufigen Höhepunkt. Neben ereignisgeschichtlichen Narrationen stilisiert er diese Zeit größtenteils als politisches Duell zwischen dem alliiertenfreundlichen Ministerpräsidenten Venizelos und dem mit den Mittelmächten sympathisierenden König Konstantin I. Diese beiden Persönlichkeiten repräsentierten zweifelsohne die beiden Lager der griechischen Gesellschaft in der Kriegszeit, allerdings führt ihre Gegenüberstellung zwangsläufig jene Wertung mit, gegen die Richter anschreibt: Venizelos erscheint als Modernisierungsverfechter, der Monarch, dem Zelepos mehrfachen Verfassungsbruch attestiert, als Element politischer Instabilität.

Ab den 1920er-Jahren dominieren dann vollends politische Lagerkämpfe die Geschichte Griechenlands, was sich zunehmend auf die historische Narration auswirkt. Dass Zelepos hierbei an seinem Fokus auf handelnde Politiker festhält, mutet dem Leser einiges an Namen zu. Die Skizzierung großer politischer Linien bietet jedoch immer wieder Orientierung und zeichnet ganz nebenbei ein übersichtliches Panorama sozialer, kultureller und wirtschaftspolitischer Veränderungen bis zum Zweiten Weltkrieg. Dieser und der nachfolgende Bürgerkrieg rücken wiederum die Außenpolitik in den Vordergrund. Invasion, Besatzung, Widerstand und Bürgerkrieg werden sehr komprimiert, aber gut lesbar dargestellt. Ein besonderes Verdienst dieser Kapitel besteht darin, die geostrategische Bedeutung Griechenlands hervorzuheben. Zelepos kann so erläutern, weshalb Griechenland bis heute internationale Aufmerksamkeit weckt und wie dies die Handlungsspielräume nationaler Politik beschränkt. Der Exkurs zur Zypernfrage und zur spannungsgeladenen Geschichte mit dem türkischen Nachbarstaat bietet darüber hinaus einen historischen Erklärungsansatz für die bis heute hohen Militärausgaben Griechenlands.

Wer Zelepos' „Kleine Geschichte Griechenlands“ liest, wird viele tagesaktuelle Ereignisse anders betrachten und in ihnen historische Kontinuitäten feststellen können. Die vielen Akteure mögen allgemeininteressierte Leser/innen mitunter etwas fordern, illustrieren jedoch auch die personelle Verworrenheit in der jüngeren griechischen Vergangenheit. Dem fachlich interessierten Publikum bietet der Band einen raschen Einstieg ins Thema, der vor allem methodisch überzeugt. Statt klassischer Nationalgeschichtsschreibung veranschaulicht Zelepos damit überzeugend, wie sich aktuelle Forschungstendenzen in eine Staatsgeschichte integrieren lassen.

Anmerkung:
1 Heinz A. Richter, Griechenland im 20. Jahrhundert. Band 1: Megali Idea – Republik – Diktatur, Köln 1990.

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