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Titel
Kurt Hiller. Der Intellektuelle als Außenseiter


Autor(en)
Münzner, Daniel
Erschienen
Göttingen 2015: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
416 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Reinhold Lütgemeier-Davin, Kassel

Kurt Hiller ist, wie Georg Fülberth einmal konstatierte, eine „zentrale Randfigur“ der Geschichtsschreibung. „…gewesen“, möchte man ergänzen, nachdem Daniel Münzner in seiner Dissertation, analytisch scharf wie überzeugend sezierend, Hillers Leben und Wirken auf breiter Quellenbasis und mitreißend geschrieben in ihren unterschiedlichen Facetten ausleuchtet. Keine Biographie im traditionellen Sinn wird geboten – darauf verweist der Untertitel des Buches. Es geht nicht um „die Genese eines individuellen Charakters, einer spezifischen Persönlichkeit“ (S. 12); vielmehr ist der Zugriff strukturell: die Ausgrenzung eines Linksintellektuellen im Kaiserreich wie in der Weimarer Republik, seine Staats- und Demokratieskepsis als Folge, seine Erfahrungen mit den politisch freiheitlichen Systemen der Tschechoslowakei und Großbritanniens während seiner Zeit als Emigrant und seine Aussöhnung mit einem Demokratiemodell westlicher Prägung stehen im Mittelpunkt der Untersuchung. Dadurch, dass Daniel Münzner die von Kurt Hiller erlebten Zeitepochen Kaiserreich, Republik, Exil (1934–1955) und die Bundesrepublik unter die drei Perspektiven class, race und gender stellt, ergibt sich eine vielschichtige wie übersichtlich konzipierte Analyse eines gewichtigen und sprachgewaltigen Intellektuellen. Der Leser kann den spezifischen Lernprozess Hillers nachvollziehen, einen Lernprozess, der keineswegs geradlinig und widerspruchsfrei verlaufen ist.

Kurt Hiller eignet sich in der Tat bestens, um die Misere wie die Chancen eines Linksintellektuellen in Deutschland auszuloten: Jurist, freier Schriftsteller und Philosoph; ein bedeutender Impulsgeber für den literarischen Expressionismus; ein scharfzüngiger Redner und libertärer Essayist wie Publizist, der sich vom gewaltfreien zum revolutionären Pazifisten, dann zum parteiungebundenen Sozialisten wandelt; ein Logokrat, der sich durch eine Herrschaft der charakterlich wie geistig Besten ein Korrektiv zur parlamentarischen Demokratie erhofft und der sich letztendlich mit einer Politik Willy Brandts versöhnt, die „mehr Demokratie“ zu wagen verspricht; einer, der die Weimarer Ordnung als „Diktatur der Mittelmäßigkeit“ diffamiert und zugleich in seinem politischen Handeln zum kritischen Unterstützer der Republik wird; ein Jude, der sich als Agnostiker begreift und eine jüdische Identität leugnet; ein bekennender Homosexueller, der sich mit juristischem Sachverstand für die Entschärfung des § 175 und eine umfassende liberale Sexualreform einsetzt, die nur ein Verhalten mit Strafe belegen will, das Rechtsgüter verletzt oder gefährdet; ein Antifaschist mit Kontakten zu „linken Leuten von rechts“; ein unermüdlicher Gründer kleiner literarischer und politischer Bünde; ein leidenschaftlicher Werber für eine „rote Einheit“ gegen den Nationalsozialismus; ein Netzwerker, der sich aber immer wieder auf erbitterte persönliche Fehden einlässt; ein Patriot, der trotz der weitverbreiteten Untertanengesinnung sich zu Deutschland als seine Heimat bekennt. Diese komplexe Persönlichkeit wird durch den analytisch klaren Zugriff des Autors überzeugend erfasst.

Hiller – auch die graue Eminenz und ein Spaltpilz der Friedensbewegung? Sein Kamerad im Kampf gegen die als unzureichend eingeschätzte Weimarer Demokratie Carl von Ossietzky skizzierte einmal Hillers Auftreten auf dem Berliner Weltfriedenskongress 1924 überspitzt so: „Herr Hiller schwingt den tintentriefenden Tomahawk; er ruft zum heiligen Krieg gegen die Zweifler an seiner Autorität – ein Pobjedonozew der Friedensbewegung. Er sagt Menschheit und meint Stuhlbein.“1 Ja, an Hiller schieden sich die Geister, auch die, die eigentlich inhaltlich vielfach mit ihm übereinstimmten: Seine Fundamentalkritik an der bewaffneten Macht, seine Forderung nach Abschaffung einer die Republik bedrohenden Reichswehr blieben selbst in der Friedensbewegung umstritten, ebenso wie seine schonungslose Kritik an Ebert und seinen als „Ebertiner“ geschmähten Gefolgsleuten, die seiner Meinung nach ein unzureichendes Bollwerk gegen Reaktion und nationalsozialistische Bedrohung errichtet hatten. Sein Projekt, die kleinen linken Bünde in der Endphase Weimars zum Geburtshelfer für eine „rote Einheit“ gegen den Faschismus zu machen, scheiterte nicht zuletzt an seiner Raubeinigkeit gegenüber Sozialdemokraten und seinen unüberwindlichen Vorbehalten gegenüber den moskauhörigen Kommunisten.

Daniel Münzner arbeitet überzeugend die frühen Ausgrenzungserfahrungen Hillers als Intellektueller, Homosexueller und Jude heraus, den Einfluss von dumpfem Irrationalismus, Antisemitismus und Homophobie auf seine politische Philosophie, seine Demokratie- und Parteienkritik, seine Ablehnung staatlicher Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht der Menschen, wozu auch die Toleranz gegenüber sexuellen Präferenzen gehörte, seine Verachtung kleinbürgerlicher Mittelmäßigkeit wie Spießigkeit.

Einige Facetten, die Münzner anspricht: Illusionär wie idealistisch wollte Hiller eine auf Bier und Vergnügungen fixierte Studentenverbindung in einen literarischen Zirkel reformieren. Früh entzog er sich dem Militär als Schule der Männlichkeit durch Desertion in die Schweiz – und verteidigte dann doch 1914 den Weltkrieg, bis er sich bald zum Pazifismus bekehrte. Physische Gewalt und das gerade bei Korpsstudenten verbreitete ausschweifende Gebaren verabscheute er; dennoch kultivierte er mit täglichen Turnübungen eine selbstbewusste Männlichkeit und entwickelte „ein maskulinistisches Männerbild, von dem aus er selbst Frauen und ‚feminine‘ Männer abschätzig beurteilte“ (S. 104). Allerdings setzte sich Hiller eindeutig für die Gleichberechtigung der Geschlechter, für soziale Gerechtigkeit, für Pazifismus bzw. Antimilitarismus und gegen Nationalismus, Chauvinismus, Sexismus und Totalitarismus ein. Vom überzeugten Monarchisten im Kaiserreich wandelte er sich 1918 zum kritischen Vernunftrepublikaner. Daniel Münzner entlastet nachvollziehbar Hiller und seine Mitstreiter, die sich in Weimar um die „Weltbühne“ scharten, von dem Vorwurf, sie hätten, wenngleich nicht in gleicher Intensität wie die politische Rechte, an der Zerstörung der ersten deutschen Demokratie mitgewirkt.

Hiller saß zwischen vielen Stühlen. Bei den Nationalsozialisten freilich wurde er abgrundtief gehasst. Sie quälten ihn in Gefängnis und KZ, bis er 1934 zunächst nach Prag, später nach London entfliehen konnte. Zu Recht fühlte er sich weniger als rassistisch denn als politisch verfolgt; er begriff sich ohnehin, auch im Ausland, als Deutscher, nicht als Jude.

Geradezu spannend sind die Entdeckung und die Nachweise Münzners für die willige Kooperation Kurt Hillers mit dem britischen Geheimdienst2 – ein nur auf den ersten Blick verwunderlicher Befund, hatte er doch in den zwanziger Jahren leidenschaftlich gegen diejenigen in der Friedensbewegung gestritten, die, möglicherweise mit ausländischen Geldern, antideutsche Ressentiment bedient und mit Enthüllungen über illegale deutsche Rüstungen insbesondere Frankreich einen Vorwand geliefert hatten, um eine allgemeine Abrüstung zu sabotieren. Jetzt, während des Zweiten Weltkrieges, war für Hiller aber eindeutig, wem einzig die Sympathien galten angesichts der Bedrohung durch den Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten. Er idealisierte das britische Regierungssystem, glaubte gar, es komme seinem Ideal einer Symbiose von demokratischen und logokratischen Elementen nahe; nur: die englische Innenpolitik durchschaute er kaum; seine Kenntnisse der englischen Sprache waren ohnehin nur rudimentär.

Nach 1945 bemühte sich Hiller von London, ab 1955 von Hamburg aus, alte Nazis und deren Kollaborateure öffentlich zu brandmarken. In meist kleineren Zeitungen mit begrenzter Reichweite griff er als Sozialist, Pazifist, Logokrat und Homosexueller in politische Debatten ein, blieb dabei aber das, was er zeitlebens war: ein parteipolitisch ungebundener Intellektueller, jetzt aber mit einer eindeutigen Präferenz für die SPD und ihre Hauptakteure.

Endlich liegt eine wirklich überzeugende Darstellung eines fast vergessenen typischen Vertreters eines unbequemen Linksintellektuellen vor, die seine politischen Irrwege, aber auch seine Wandlungen vom Monarchisten, Skeptiker an der demokratischen Ordnung hin zu einem Unterstützer demokratischer Werte beschreibt. Die Analyse will nicht alle Facetten seines Lebens beleuchten; sie liefert eine famose wissenschaftlich fundierte Darstellung eines Außenseiters, der sich auf literarischem, philosophischem, politischem Terrain bewegte: einer, der anregte und viele aufregte.

Anmerkungen:
1 Carl von Ossietzky, Die Pazifisten, in: Das Tage-Buch, 04.10.1924, wieder abgedruckt in ders., Sämtliche Schriften, Bd. 2, Reinbek 1994, S. 371–375, hier S. 373.
2 Noch ausführlicher als in Münzners Buch wird diese Zusammenarbeit in einem separaten Aufsatz vorgestellt: Daniel Münzner, Der Flirt mit der Herrenkaste – Kurt Hillers Affäre mit dem britischen MI5, in: Schriften der Kurt Hiller Gesellschaft 5 (2015), S. 155–171.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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