D. Hecht u.a. (Hrsg.): Topographie der Shoah

Cover
Titel
Topographie der Shoah. Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien


Herausgeber
Hecht, Dieter; Lappin-Eppel, Eleonore; Raggam-Blesch, Michaela
Erschienen
Anzahl Seiten
607 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lisa Kienzl, Institut für Religionswissenschaft, Karl-Franzens-Universität Graz

Eine vermehrte Hinwendung zu Raum als kulturwissenschaftliches aber auch gesellschaftliches Themengebiet ist seit etlichen Jahren zu erkennen. Gerade in der Erinnerung an die Shoah, die nicht nur individuelle Handlung sondern auch kollektive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sein muss, wird dies besonders deutlich. Formen dieser Erinnerungskultur wurden in Österreich in den letzten 30 Jahren immer stärker innerhalb des öffentlichen Raums präsentiert, dennoch mangelt es vielerorts noch immer an einer tatsächlichen und alltäglichen Auseinandersetzung mit den Geschehnissen dieser Zeit.

Dieter J. Hecht, Eleonore Lappin-Eppel und Michaela Raggam-Blesch füllen mit ihrem Buch eine solche Lücke und präsentieren zumindest in Form eines Buches die Topographie der Shoah. Wünschenswert wäre meines Erachtens eine realpolitische Umsetzung einer öffentlichen Erinnerungskultur an vielen in diesem Buch beschriebenen Orten, denn wie Heidemarie Uhl im Vorwort festhält: „Der Terror gegen die jüdische Bevölkerung hat sich nicht auf einige ‚böse Orte‘ beschränkt.“ (S. 15) Die Bedeutung, die bestimmten Orten zugeschrieben wird, können diese nur durch die In-Verbindung-Setzung und Erinnerung von Individuen erlangen. Die Bedeutung weitertragen, auch über die Dauer eines menschlichen Lebens hinweg, können diese Orte jedoch nur in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext. Darin liegt die besondere Bedeutung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Erinnerung an Orte des Geschehens der Jahre 1938 bis 1945 im Raum Wien.

Der Aufbau des Buches erfolgt chronologisch und verknüpft „jüdische Erfahrungsgeschichte in der realen und sozialen Topographie Wiens“ (S. 13). Dabei konzentrieren sich Dieter J. Hecht, Eleonore Lappin-Eppel und Michaela Raggam-Blesch auf die zentralen Schnittpunkte der Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Jedes Kapitel thematisiert einen anderen Aspekt der NS-Politik, aber auch der gesellschaftlichen Auswirkungen auf den Alltag in Wien. Die Menge an Betroffenen, die durch Zahlen ausgedrückt wird, aber auch die Namen einzelner Personen machen den Schrecken der Ereignisse in seiner Bandbreite sichtbar. Besonders hervorzuheben ist die Tatsache, dass diese oftmals hohe Anzahl von Daten den Lesefluss nicht weiter beeinträchtigt, sondern dem Text Tiefe verleiht. Auch die thematische Breite des Buches soll hier betont werden, die für eine Publikation durchaus die Gefahr in sich birgt, nur an der Oberfläche zu kratzen und nicht auf den Punkt zu kommen. Dies ist hier absolut nicht der Fall. Die „Topographie der Shoah“ bietet einen Überblick, der mit zahlreichen Karten unterstützt wird, greift jedoch auch Einzelschicksale heraus, die das Konkrete fassbar machen. Die Intention der Verknüpfung historischer Ereignisse mit tatsächlicher räumlicher Dimension wird zudem durch eine Vielzahl an zeitgenössischen Fotografien unterstützt, die Orten und auch Personen ein Gesicht geben. Diese zentrale visuelle Komponente lässt die Bedeutung von Bildern als historische Dokumente in den Vordergrund rücken. Gerade in einer Auseinandersetzung mit räumlichen Dimensionen historischer Ereignisse sind sie unerlässlich. Auch die Integration zahlreicher narrativer Textpassagen aus Interviews, Tagebüchern oder autobiographischen Texten unterstreicht die Bedeutung des öffentlichen und privaten Raumes in der Zeit des NS Regimes.

Die wachsende Bedrohung infolge von Ausgrenzung und Diskriminierung in alltäglichen Situationen, die zuerst im öffentlichen Raum passierten, dann aber immer mehr auch auf den privaten Raum übergriffen, zeigt sich fast immer räumlich geprägt. Wenn Kapitel 1 „‘Anschluss‘-Pogrom in Wien“ die Gefahr eines alltäglichen Spazierganges aufgreift, der in „Reibpartien“ enden konnte (S. 19), oder in Kapitel 2 „Der große Raubzug“ die Enteignung jüdischen Wohneigentums thematisiert wird, dann zeigt sich diese Verschiebung bereits sehr deutlich. Die zunehmende Restriktion des öffentlichen Raums manifestiert sich für jüdische Kinder und Jugendliche besonders dramatisch im Schulwesen. Räume des Lernens wurden zuerst immer stärker beschränkt, im Endeffekt ganz aufgelöst oder so wie im Fall der Schule im 2. Bezirk, Kleine Sperlgasse 2a, die schließlich in ein Sammellager für Deportationen umgewandelt wurde, sogar zu Orten des Vertreibung und Vernichtung (S. 422f.).

Dies zeigt aber auch die Vielfalt der räumlichen Dimension an sich. Räume und Orte können dabei nicht als statische Gebilde verstanden werden. Sie verändern sich mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten und werden von ihnen geformt. Dies wird vor allem an den zahlreichen Beispielen für die Veränderung der Stadt Wien, ihrer Gebäude, Straßen und Parks, deutlich. Eindrucksvoll hebt die erweiterte Funktion des jüdischen Friedhofs (Zentralfriedhof 4. Tor) zudem den Bedeutungsfaktor des Raumes für persönliches Erinnern hervor.

Während es durchaus Räume der Hoffnung gab, wird deutlich, dass die Schikanen des Alltäglichen auch hier nicht stoppten. Insbesondere offizielle Auswanderungsstellen sind hier zu nennen, zumindest bis zum allgemeinen Auswanderungsverbot 1941. Positiv besetzte Räume waren vermutlich am ehesten die immer weniger werdenden Orte des Treffens für jüdische Kinder und Jugendliche. Auch wenn die Bewegungsfähigkeit innerhalb der Stadt immer stärker eingeschränkt wurde, zeigt sich in den Erinnerungen und Fotografien die Bedeutung von gemeinsamem Erleben.

In zahlreichen Beschreibungen alltäglicher Auseinandersetzungen mit dem immer stärker beschränkten Raum (sei es Alltagserleben in Sammelwohnungen, Zwangsarbeit oder Entwurzelung und Deportation) wird deutlich, welche Bedeutung dieser Raum in der Erfahrung der Verfolgung hatte. Neben dieser räumlichen Dimension steht jedoch auch die soziale Ausgrenzung und gesellschaftliche Ablehnung im Vordergrund. Dahingehend ist die Thematisierung der Partizipation an der NS-Politik durch einen Großteil der Bevölkerung (sei es passiv oder aktiv) besonders wichtig.

Dass der bestehende Raum erst durch die Menschen, die sich darin bewegen, bestimmt wird, zeigt sich besonders im letzten Kapitel 16 „Zwischen Seitenstettengasse und Augarten: Orte jüdischen Überlebens 1943–1945“. Hier wird einerseits der private Ort der Familie als letzte mögliche Zufluchtsstätte aufgegriffen, andererseits das „Überleben im Verborgenen“ (S. 528) thematisiert: Das Untertauchen als sogenannte „U-Boote“ (S. 528f.), aber auch die Beengung in Zufluchtsorten oder Verstecken spiegelt die sprichwörtliche räumliche Beklemmung dieser Jahre wider. Indem im letzten Absatz dieses letzten Kapitels von Erschießungskommandos der SS in den letzten Kriegstagen berichtet wird, scheint das Buch nicht mit einer Befreiungserzählung enden zu wollen. Hier wird bewusst die Dramatik der letzten Kriegstage in ihrer Grausamkeit und Willkür erfasst. Auch durch den kurzen Abriss der weiteren gesellschaftlichen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts im Nachwort der Autor/innen wird nochmals deutlich, dass das Ende des Krieges in Österreich für viele Überlebende oder Zurückkehrende keineswegs als gleichbedeutend mit einem Neuanfang gesehen werden kann.

Das Buch „Topographie der Shoah“ liefert nicht nur eine umfassende und gut recherchierte Abhandlung über die Rolle der Stadt Wien in ihrer räumlichen und sozialen Funktion zwischen 1938 und 1945, sondern auch zentrale Impulse für die weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit historischen Themenfeldern in Verknüpfung mit räumlichen Strukturen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension