Titel
Die synchronisierte Stadt. Öffentliche Uhren und Zeitwahrnehmung, Wien 1850 bis heute


Autor(en)
Payer, Peter
Erschienen
Wien 2015: Holzhausen
Anzahl Seiten
235 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Dohrn-van Rossum, Geschichte des Mittelalters, Technische Universität Chemnitz

Öffentliche Uhren und privater Uhrenbesitz gelten seit langem als Indikatoren gesellschaftlicher Modernisierung. Als technische Mittel ermöglichen sie und als Symbol stehen sie für neue Formen der Organisation der Tageszeit und des Zeitbewusstseins in den Industriegesellschaften. Am Beispiel einer europäischen Metropole will Peter Payer die Entfaltung städtischer Zeitstrukturen vor allem seit der Mitte des 19. Jahrhunderts rekonstruieren. Die Geschichte der Stadt Wien anhand ihrer Uhren soll als ein Beispielfall der „Chronometrisierung“ (Jürgen Osterhammel) des öffentlichen Raumes, als sichtbare Verdichtung der Zeitinfrastruktur dargelegt werden. Geboten wird nun ein gründliches und anschauliches Inventar der rund 200 öffentlichen Uhren der Stadt mit historischen Abbildungen und Karikaturen, wie man es sich auch für andere Großstädte wünschte. Die Arbeit stützt sich auf gründliche Literatur- und Archivstudien und wird ergänzt durch einen Anhang mit 54 professionellen farbigen Arbeiten des Fotografen Alexander Schuppich.

Gelungen ist die Behandlung der Technikgeschichte wie auch der architektur- und designhistorischen Aspekte. Die Analyse der mentalitätsgeschichtlichen, der sozialen und psychologischen Aspekte der „inneren Chronometrisierung“ beschränkt sich auf ein paar Zitate aus Literatur und Presse der Zeit. Eine Verspätung Wiens bei der Einführung der neuen Zeit der Uhren hat es allerdings nicht gegeben. Im Jahr 1415 hat ein Meister Hand aus Prag eine wohl automatisch schlagende Uhr im Turm des Stephansdom angebracht. Aber nach den Wiener Grundbüchern wohnte schon in den Jahren 1377–79 ein „hanemann magister arloyorum“ in der Stadt. Im Jahr 1389 erhält der Turmwächter von St. Stephan Sonderzahlungen für den wohl händischen Schlag der Uhren, und Uhrstunden lassen sich schon 1375 nachweisen. Wien liegt in dieser Hinsicht also gleichauf mit vielen anderen europäischen Städten.

Historisch leichtfertig sind Feststellungen wie „Mit den Uhren begann die Ära der Beschleunigung“, obwohl der Autor mit Peter Borscheid selbst konstatiert, dass Beschleunigungen erst viel später, nämlich mit dem Zeitalter der Dampfmaschinen und der Eisenbahnen begannen. Wie vorsichtig man mit der Beschleunigungsformel in der Geschichtsschreibung umgehen sollte, hat schon 1992 die nicht sehr ergiebige Studie Robert Rotenbergs über die Tempi des Wiener Alltags gezeigt.1 Wenig überzeugend sind die Analysen der jeweiligen politisch-repräsentativen Funktion der Installationen öffentlicher Uhren. Die Aura der Kirchengebäude und der Klang der Glocken haben vielfach zu der irrigen Vorstellung geführt, dass die Uhren auf Kirchtürmen Zeichen für die Herrschaft der Kirche über die öffentliche Zeitordnung gewesen seien oder, dass Uhren auf Rathäusern die erstarkte Macht des Bürgertums repräsentierten. Die allererste automatisch die durchgezählten, gleichlangen Stunden schlagende Uhr hat bekanntlich im Jahr 1336 in Mailand der Stadtfürst Azzo Visconti erreichten lassen. Die Uhren an italienischen Kommunalpalästen sagen nichts darüber aus, ob die Stadt von einem Bischof, einem Bürgergremium oder einem Podestà beherrscht wurde, wohl aber, dass die Stadt ihren Koordinationsbedarf auf moderne Weise zu regeln gelernt hatte. Damals wie heute haben die Kommunen die öffentlichen Uhren auf den jeweils höchsten oder zentralen Gebäuden installiert, bezahlt und gewartet. Auch Payer weiß, dass öffentliche Uhren seit jeher zu den kommunalen Bauaufgaben gehören. Von einem ‚Transfer des Sakralen’ kann beim Bau des neuen Wiener Rathauses 1872–83 mit seinem hohen Turm, in der „Tradition flämischer Rathäuser der Gotik“ (Wikipedia) mit ihren städtischen Uhren, also kaum die Rede sein. Nachzuweisen wäre auch, dass die Amalienuhr an der Hofburg den „monarchischen Anspruch der Herrschaft über die Zeit“ repräsentierte oder die Uhr am Gebäude der Handelskammer die enge Verbindung von ökonomischer Effizienz und Zeitwahrnehmung verdeutlichte. Die Uhren an den neuen Wohnanlagen der Zwischenkriegszeit lassen sich sicher als Imageträger einer fortschrittlichen Stadtpolitik verstehen, ob sie sich jedoch als Instrumente einer spezifisch linken Politik deuten lassen, müsste ein Vergleich mit anderen Großstädten noch zeigen. Ob die für Wien so typischen um 1900 aufkommenden und in Zeit der Republik besonders häufig errichteten Würfeluhren „als kommunale Zeichen das Territorium des neuen, von der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei mit absoluter Mehrheit regierten Wien“ markierten, sei dahingestellt. Sind sie nicht viel eher Beispiele für den zeittypischen Designgeschmack als Beleg für die nachlassende „Dominanz der Kirche“? Die für den Betrieb der transkontinentalen Eisenbahnen eingeführten Stundezonenzeiten als „Durchsetzung westlich-kapitalistischer Interessen“ zu bezeichnen ist zwar originell, aber weitab von der einschlägigen Forschung, die dazu Interessanteres zu berichten hat. Über die Zusammenhänge zwischen Uhren und Zeitordnungen mit den wechselnden Formen politisch-sozialer Herrschaft sollte in den Kulturwissenschaften gründlicher nachgedacht werden. Wichtig wäre es zu ermitteln, was die Stadtbevölkerungen mit den Uhrzeiten jeweils gemacht haben, also nach Reichweite und Veränderungsmacht der öffentlichen Uhren bzw. der Uhrzeiten zu fragen.

Recht anschaulich sind die Passagen, die vom Kampf der Stadt gegen die von aufmerksamen und mit genau gehenden Chronometern ausgestatteten Bürgern monierte und verspottete „Wiener Uhrenmisere“, von der Asynchronie der städtischen Uhren handeln. Das war damals ein Problem vieler Großstädte. Die Verwirrung mit der „Wiener Zeit“ wurde durch das nicht allen verständliche Durcheinander von wahrer und mittlerer Ortszeit noch größer. Eine aufschlussreiche Zeichnung aus dem Jahr 1896 zeigt Beamte und Bürger bzw. deren Angestellte, wie sie die Zeit beim Mittagsignal der Feuerwehrzentrale ‚holen’ (S. 79). Nach vielen gescheiterten Versuchen hat man erst im 20. Jahrhundert technische Mittel einer wirksamen zentralen Steuerung der öffentlichen Uhren gefunden.

Anmerkung:
1 Robert Rotenberg, Time and Order in Metropolitan Vienna. A Seizure of Schedules, Washington 1992.

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