N. Weissberg u.a. (Hrsg.): Beidseits von Auschwitz

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Titel
Beidseits von Auschwitz. Identitäten in Deutschland nach 1945


Herausgeber
Weissberg, Nea; Müller-Hohagen, Jürgen
Erschienen
Berlin 2015: Lichtig-Verlag
Anzahl Seiten
346 S.
Preis
€ 21,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katinka Meyer, Methodenzentrum Sozialwissenschaften, Georg-August-Universität Göttingen

Nea Weissberg und Jürgen Müller-Hohagen haben in ihrer Anthologie dreißig Autorinnen und Autoren versammelt, die sich auf ganz unterschiedliche Weise mit dem Nationalsozialismus und der Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen auseinandergesetzt haben. Zu Wort kommen jüdische und Sinti-Überlebende der ersten, zweiten und dritten Generation, Nachkommen von nationalsozialistischen Täter/innen und Mitläufer/innen, Juden/Jüdinnen und Nicht-Juden/-Jüdinnen, Konvertit/innen und Kommunist/innen, Personen des öffentlichen Lebens sowie Privatpersonen. Die Autor/innen stammen aus Ost- und West-Deutschland, der DDR, Polen, Israel, Rumänien, Österreich und der Schweiz. Was sie eint, ist ihre Bereitschaft, sich auf die nicht immer einfache Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte und auf die Suche nach der eigenen Identität gemacht zu haben. Angestoßen wurden viele Beiträge des Sammelbandes durch die gemeinsame Form der Auseinandersetzung mittels Psychodrama, die von Yaacov Naor und Hilde Gött zur „‚Konfrontation mit den Folgen von Auschwitz’ für Nachkommen der Opfer und Täter“ (S. 245) durchgeführt wird. Gemeinsamer Bezugspunkt ist oftmals Berlin. Dies mag auch an der Berlinerin Nea Weissberg als Herausgeberin und Verlegerin liegen, die – so ist einigen Beiträgen zu entnehmen – auch persönliche Bezüge zu den Autor/innen hat.

Die alle Beiträge umspannende Frage ist – wie der Untertitel bereits verdeutlicht – die nach Identität: Die Autor/innen setzen sich mit ihrer eigenen Identität auseinander, reflektieren ihr Gewordensein, indem sie ihre Familien- und Lebensgeschichte niederschreiben und deren intergenerationellen Facetten beleuchten. Dies findet in den meisten Texten sehr explizit Erwähnung („Wenn man mich fragt, wohin ich gehöre, was meine Identität ausmacht, kann ich nicht so spontan antworten“ (S. 274)), in vielen Beiträgen ist die Frage der nicht explizierte rote Faden und in wenigen Texten sind es eher mit dem Haupttext lose verbundene und wie nachträglich angehängte Absätze, die diese Frage beantworten.

Der Aufbau des Sammelwerks folgt nicht einer Unterteilung der Beitragenden in jüdisch/nicht-jüdisch, Täter/Opfer etc.; dies verhindert eine Ad-hoc-Verortung und vorschnelle Kategorisierung der Schreibenden. Intention des Sammelbandes scheint vielmehr, Gemeinsamkeiten und Schnittpunkte aufzuzeigen. So folgt die Gliederung den Auseinandersetzungen der Autor/innen, in denen diese Gefühle, sich „Zwischen den Welten“ zu befinden, „Ent-Wicklungen“ vorzunehmen oder Auseinandersetzung „Über Generationen hinweg“ zu führen, äußern – allesamt Überschriften zu Themenblöcken, unter denen die Beiträge zusammengefasst werden. Darüber hinaus geht es darum, Perspektiven zu entwickeln, „wie Nachkommen beider Seiten sich begegnen können – in Wahrnehmung der grauenvollen historischen Vergangenheit und trotz aller heutiger Attacken so beharrlich und solidarisch wie nur möglich“ (S. 8).

Wenn der Sammelband auch von dem Vorhaben geprägt ist, gemeinsame Perspektiven zu entwickeln, so wollen die Herausgebenden zugleich „beiden Seiten“ die Gelegenheit geben, „einen Standpunkt zu beziehen und auch mögliche nachträgliche Wirksamkeiten bei sich zu reflektieren“ (S. 111). Diese Intention schlägt sich in den Artikeln nieder, in denen die Beitragenden entsprechend ihrer unterschiedlichen Herkunft, politischen Einstellung und ihrem persönlichem Zugang zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Der jüdisch-israelische Psychodramatherapeut Naor, auf den viele Autor/innen Bezug nehmen, stellt in seinem Artikel die Folgen der Shoah für die Überlebenden und ihre Nachkommen dar. Diese Frage bearbeitet er sehr überzeugend sowohl aus therapeutischer als auch aus autobiographischer Perspektive. Die Psychodrama-Arbeit könne, so sein Fazit, durch den Dialog konträrer, sich nicht verurteilender Partner dazu beitragen, die transgenerationalen Weitergabe des Traumas zu bearbeiten und sich von der „Macht des Schweigens [zu] befreien“ (S. 54).

Weissberg, Angehörige der zweiten Generation von Überlebenden, beschreibt in ihrem Beitrag sehr eindrücklich ihre Kindheit in Berlin als „innewohnende schattige Dunkelheit“ (S. 85), die Shoah sei als Schweigen stets präsent gewesen oder, wie Naor in seinem Artikel beschreibt, „ihr Schweigen war laut und herzzerreißend“ (S. 51). Einige Beitragende bezeichnen sich unter Bezugnahme auf den Ausdruck der israelischen Psychotherapeutin Dina Wardi als „lebende Gedenkkerzen“1: Sie erhielten innerhalb ihres Familiensystems die Aufgabe, ermordete Familienmitglieder zu ersetzen (S. 52; 80). „Wir sind die“, so fasst Naor zusammen, „die nie über sich selbst sprechen konnten, weil wir immerzu damit beschäftigt waren, unsere Eltern zu beschützen. Nach ihren leidvollen Erlebnissen in der Vergangenheit wollten wir ihnen jeden weiteren Kummer ersparen“ (S. 52). Die Erfahrung, nach 1945 in Westdeutschland, der DDR, Polen oder Österreich als eines der wenigen jüdischen Kinder zu leben und weiterhin mit Antisemitismus im Alltag konfrontiert zu sein, ist darüber hinaus Bestandteil vieler Beschreibungen. Kritische, wenngleich nicht neue Schlaglichter werden auf die öffentliche Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen und die betreffende Politik der beiden deutschen Staaten geworfen; auch zur gegenwärtigen politischen Situation Israels und Deutschlands nehmen einige Beitragende Bezug (Nea Weissberg, Eva Nickel, Norma Drimmer, Sandra Kreisler, Karsten Troyke, Daria Gan).

Mit der Schuld ihrer vom Nationalsozialismus überzeugten Eltern setzt sich Beate Niemann, Tochter des verurteilten Kriegsverbrechers Bruno Sattler, auseinander2; dieses Thema behandeln darüber hinaus die Beiträge von Dorothea Stolle, Petra G. und Ursula Sperling-Sinemus. Sperling-Sinemus stellt fest: „Das Schreiben dieses Textes war ein ständiger Lernprozess, ein Erinnern und Durcharbeiten“ (S. 208). Jürgen Müller-Hohagen fordert im Zuge seiner Forschung zu den Nachwirkungen des NS auf die Identität von Nicht-Juden zu einer Selbstreflexion und „Entidentifizierung“ auf, da „die tödliche Logik des ‚Dritten Reichs“ (S. 34ff.) noch immer in uns stecke. Die Annäherungen an die verdrängte oder geleugnete Familiengeschichte werden als belastend beschrieben; sie produzieren eine „ständige Unruhe“ (S. 315). Sie gehen mit zwei Erkenntnissen einher: Zum einen sei die kindliche Wahrnehmung des Vaters mit dem heutigen Wissen um seine Verbrechen unvereinbar. Zum anderen mache das Wissen um die Verbrechen vormals unverständliche Familiendynamiken im Nachhinein verstehbar.

Ein Verdienst des Buches ist es, auch ostdeutsche Perspektiven zu berücksichtigen (Leah Carola Czollek, Eva Nickel, Karsten Troyke), ebenso Stimmen von Nachkommen aus dem kommunistischen Widerstand (Gabriel Berger, Regina Szepansky, Karsten Troyke). Letztere haben sich auf sehr unterschiedliche Weise mit ihrem Erbe auseinandergesetzt, distanzierend oder in Kontinuität (wie Szepansky als Vorstand des Sachsenhausen-Komitees).

Mit „Beidseits von Auschwitz“ haben Weissberg und Müller-Hohagen eine Anthologie veröffentlicht, die nicht nur für ein sozialwissenschaftlich und historisch interessiertes Publikum geeignet ist, sondern überdies essayistisch erfrischt, zugleich bewegend ist und an den eigenen Gewissheiten rührt. Die Autor/innen gehen auf beeindruckend tiefe und offene Weise mit ihrer Biografie und den Spätfolgen des Nationalsozialismus um. Die Herausgebenden sind sehr umsichtig und sensibel mit dem Material umgegangen und betrachten die Beiträge offenkundig als Ausdruck individueller Auseinandersetzung. Dies hat leider auch zur Folge, dass einige Abschnitte nicht immer leicht lesbar sind, stärkeres Redigieren wäre der Lesbarkeit zugutegekommen. Entstanden ist jedoch ein Buch, das sich durch seine individuellen Zugänge auszeichnet und damit einen wichtigen Beitrag zur Auseinandersetzung im postnazistischen Deutschland liefert.

Anmerkungen:
1 Dina Wardi, Siegel der Erinnerung. Das Trauma des Holocaust – Psychotherapie mit den Kindern der Überlebenden, Stuttgart 1997.
2 Niemann hat das Thema zuvor bereits zu einer Autobiografie und einem Dokumentarfilm verarbeitet; vgl. Beate Niemann, Mein guter Vater. Mein Leben mit seiner Vergangenheit. Eine Täter-Biographie, Berlin 2005; Der gute Vater – eine Tochter klagt an, R.: Yoash Tatari, D, 2003.

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