J.-M. Kuukkanen: Postnarrativist Philosophy of Historiography

Titel
Postnarrativist Philosophy of Historiography.


Autor(en)
Kuukkanen, Jouni-Matti
Erschienen
Basingstoke 2015: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
252 S.
Preis
€ 90,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Gangl, Oulu Centre for Theoretical and Philosophical Study of History, Oulu

Der Narrativismus hat sich in der geschichtstheoretischen Diskussion in den letzten Jahren selbst überlebt, das scheint eine theoretisch kaum mehr hinterfragte Tatsache zu sein. Nicht nur haben sich viele narrativistische Theoretiker/innen nach den oft zermürbenden und theoretisch wenig fruchtbaren Debatten und Polemiken der letzten Jahrzehnte anderen Themen zugewandt, allem voran der Frage nach historischer Erfahrung in unmittelbarem Sinne, auch gewinnt der Begriff des Postnarrativismus immer größere Anhängerschaft.1

Jouni-Matti Kuukkanen kommt in dieser Hinsicht das Verdienst zu, diese Diskussionen fürs erste systematisiert zu haben. Sein Ziel ist es, eine postnarrativistische Theorie der Geschichtswissenschaften zu formulieren, die sich jenseits des Gegensatzes von „nihilistic ‚anything goes‘ postmodernism“, der dem Narrativismus oft zugeschrieben wird, und „absolute objectivism“ (S. 198) befindet. Er stimmt mit dem Narrativismus darin überein, dass Historiker/innen „integrative views“ (S. 1) der Vergangenheit erschaffen, deren Verhältnis zur historischen Realität nicht einfach als gegeben angesehen werden kann; gleichzeitig betont er aber auch, dass es sich bei der Philosophie der Geschichtswissenschaft um eine Form von Wissenschaftsphilosophie handelt, die sich an der Argumentationsstruktur der analytischen Philosophie zu orientieren habe. Kuukkanens Buch versucht sich also gerade darin, mittels analytisch rigoroser Argumentation die Grundprämissen des Narrativismus zu ergründen – und wo notwendig eben auch über diese hinauszugehen.2

Kuukkanen macht dabei drei Grundelemente des Narrativismus aus, die sich in den Diskussionen der letzten Jahrzehnte herauskristallisiert haben: Repräsentationalismus (representationalism), Konstruktivismus (constructivism) sowie Holismus (holism). Für Narrativist/innen zeichnen sich Narrative dadurch aus, dass sie die Vergangenheit zwar in der einen oder anderen Art und Weise repräsentieren (Repräsentationalismus), ohne als deren einfache Abbilder gelten zu können, was sie in diesen Theorien dann zu historiographischen Konstrukten macht (Konstruktivismus). Schließlich lassen sich Narrative auch nicht auf die jeweils einzelnen Aussagen, die in ihren Gültigkeitsbereich fallen, reduzieren, sie sind nur als Ganzes versteh- und evaluierbar (Holismus). Hier sei angemerkt, dass es sich beim ersten Viertel von Kuukkanens Werk um eine veritable Einführung in den Narrativismus handelt. Alle, die sich schon näher mit den narrativistischen Theorien in der Geschichtstheorie beschäftigt haben, werden wissen, dass narrativistische Theoretiker/innen oft einen Hang zum Essayistischen haben, man denke etwa nur an die Werke von Hayden White und Frank Ankersmit. Kuukkanen hingegen ist ein historisch geschulter analytischer Philosoph, was sich nicht nur im Kapitel für Kapitel Rekapitulieren seines eigentlichen Vorhabens, sondern eben auch in präzisen Definitionen von theoretisch zentralen Begriffen und Diskussionssträngen zeigt. Dieser erste Teil seines Buches ist wegen seiner didaktischen Qualitäten gerade auch für theoretisch interessierte Historiker/innen, die einen geordneten Einblick in das weit verzweigte Labyrinth des Narrativismus werfen wollen, von größerem Interesse.

In den verbleibenden 150 Seiten seines Werkes skizziert Kuukkanen seinen eigenen postnarrativistischen Ansatz, und hier wird es an vielen Stellen fachphilosophischer. Kuukkanen meint, von den oben genannten drei definierenden Merkmalen des Narrativismus sei allein der Konstruktivismus vollends brauchbar, während Repräsentionalismus und Holismus einer genaueren Diskussion nicht standhielten. Er stimmt mit dem Narrativismus dahingehend überein, dass es sich bei Narrativen um ordnungsstiftende Konstrukte („integrative views“) handelt, die Historiker/innen der Vergangenheit überstülpten. So sehr sie also z.B. nach einer Renaissance in den Quellen suchen mögen, sie lässt sich dort einfach nicht finden. Kuukkanen argumentiert dies so, dass es korrespondenztheoretisch im Sinne der Satzlogik keinen Zustand in der Vergangenheit gäbe, auf den diese Bezeichnung eindeutig zutreffen könne. Und was es nicht gibt, lässt sich auch nicht repräsentieren. Für Kuukkanen ist der Repräsentionalismus in vielen narrativistischen Theorien eine Art Mogelpackung, die sich um die radikalere Antwort windet, dass es in der Vergangenheit nichts gibt, worauf sich Narrative beziehen ließen. Das bedeutet nun aber nicht, dass Historiker/innen nichts Wahres über die Vergangenheit sagen können. Kuukkanen, wie schon viele Narrativist/innen vor ihm, geht davon aus, dass Sätzen auf der Ebene von Einzelereignissen sehr wohl Wahrheitsfunktion zukommen kann, nur dass sich diese eben auf der abstrakteren Ebene der Narrative nicht applizieren lässt. Desweiteren lehnt Kuukkanen, und das ist die rationalistische Seite seiner postnarrativistischen Theorie, den Holismus des Narrativismus ab. Er meint, dass Narrative, obwohl sie nicht im traditionellen Sinne wahr sein können, dennoch rational diskutiert werden können – und von Historiker/innen auch rational diskutiert werden. Der Holismus des klassischen Narrativismus umfasst drei Aspekte: Unzersetzbarkeit (undecomposability), Analytizität (analyticity) und Unfalsifizierbarkeit (unfalsifiabilty). Narrative sind, mit anderen Worten, ein Ganzes, das nicht in seine Teile zergliedert werden kann und dass sich jeder epistemologischen Untersuchung entzieht. Daraus ergibt sich für Narrativist/innen dann auch der streitbare Punkt, dass Narrative als solche ästhetisch oder moralisch zu bewerten seien. Kuukkanen analysiert in dieser Hinsicht die Werke von E. P. Thompson, Eric Hobsbawm und Christopher Clarke und kommt zu dem Ergebnis, dass Narrative vielmehr erklärende Funktion mit Hinblick auf die Hauptthese eines Textes haben. Diese These wiederum lässt sich von den jeweiligen Belegen für dieselbe trennen, wodurch Narrative weder rein analytisch wahr noch an sich holistisch, d. h. vollkommen unzersetzbar sein können.

Narrative können also nicht wahrheitsfunktional bewertet werden, das bedeutet für Kuukkanen aber nicht, dass damit die rationale Diskussion über diese beendet wäre. Historiker/innen bewerten in ihrer disziplinären Praxis Narrative in einer Form, die diese als Teil von argumentativen Praxen ausweisen. Narrative sind deshalb zunächst nicht literarische Gebilde, die mit Hilfe literaturwissenschaftlicher Theorien analysiert werden wollen, sie sind Teil der argumentativen Diskurse von Historiker/innen im Rahmen der fachlichen Diskussion. Sie sind Interventionen im disziplinären Diskurs, und als solche sind sie für Kuukkanen durch (informelle) Argumente für oder gegen eine bestimmte Position gekennzeichnet. Der Narrativ gerät damit als eigentlicher Gegenstand des Interesses etwas in den Hintergrund, und die disziplinären Praxen des historiographischen Urteilens rücken in den Fokus.

Auf Grundlage von diesen Praxen formuliert Kuukkanen eine „tri-partite theory of historical justification“ (S. 155). Historiker/innen bewerten die Werke ihrer Kolleg/innen anhand von drei Dimensionen, die Kuukkanen epistemisch, rhetorisch und diskursiv nennt. In der epistemischen Dimension werden etwa Satzaussagen wahrheitsfunktional bewertet, aber auch Narrative anhand von fünf weiteren kognitiven Kriterien, die nicht unter die Wahrheitsfunktion fallen: Exemplifizierung (exemplification), Kohärenz (coherence), Vollständigkeit (comprehensiveness), Geltungsbereich (scope), Originalität (orginality). Die rhetorische Dimension bezieht sich auf den textuellen Aufbau und die interne textuelle Stimmigkeit eines Textes, zu denen Kuukkanen als Kriterien aber nicht viel mehr sagt, als dass sie existieren. Die diskursive Dimension stattdessen findet genauso wie die epistemische genauere Erläuterung. Kuukkanen bezieht sich hier auf die Sprechakttheorie von Quentin Skinner, um zu argumentieren, dass es sich bei historiographischen Thesen um argumentative Sprechakte handele, die, um für voll genommen zu werden, zeigen müssen, dass sie mit dem momentanen Wissenstand in der Disziplin auseinandergesetzt haben und somit eine angemessene Intervention in diese darstellen.

All diese Aspekte und Kriterien finden ihren Abschluss darin, dass Kuukkanen im letzten Kapitel seine Positionen zu Fragen des Subjektivismus und Objektivismus und zum Problem der Rationalität darlegt. Beide Diskussionen verlangen ein gewisses Maß an philosophischem Tiefenwissen, sind als solche aber wertvoll, da Kuukkanen seinem analytischen Stil und Gegenstandsverständnis entsprechend die eigenen Positionen klar auf den Tisch legt. Das kann künftiger Diskussion nur dienlich sein, gerade auch was Kuukkanens Idee einer übergreifenden Form der Rationalität betrifft, die seine drei Dimensionen rationaler Begründung vereinen kann und den Diskurs von Historiker/innen als ganzen zu einem rationalen Unterfangen macht (in vielerlei Hinsicht wären hier Vergleiche mit Habermas‘ kommunikativer Vernunft angebracht).

Insgesamt hat Kuukkanen ein innovatives Buch zu einer gerade stattfindenden theoretischen Entwicklung vorgelegt, das für theoretisch interessierte Historiker/innen wie auch für Wissenschaftsphilosoph/innen von Interesse sein sollte. Sein Buch ist über weite Strecken analytische Wissenschaftsphilosophie, aber in einer Form, die ihr Objekt ernst nimmt und somit die eigenen Thesen in Auseinandersetzung mit den Werken von Historiker/innen gewinnt. Der klare Aufbau und die analytische Sprache des Buchs können für seine weitere kritische Diskussion fruchtbar sein, auch wenn die vielen Wiederholungen des bisher Gesagten und Rekapitulierungen des eigentlich Gewollten manchmal redundant wirken.

Anmerkungen:
1 Die im Feld der Geschichtstheorie sehr einflussreiche Zeitschrift „History & Theory. Studies in the Philosophy of History“ hat erst vor Kurzem (Mai 2015) ebenso ein Themenheft mit dem Titel „Forum: After Narrativism“ herausgebracht.
2 Kuukkanens theoretisches Feld der Auseinandersetzung stützt sich auf drei Autoren, die im Laufe des Buches immer wieder erörtert und kritisiert werden: Frank Ankersmit als herausragendem Theoretiker des klassischen Narrativismus; Aviezer Tucker als epistemologisch orientierter Philosoph der Geschichtswissenschaften; Keith Jenkins als Proponent eines postmodernen Zugangs zur Geschichtswissenschaft. Siehe Frank Ankersmit, Meaning, Truth, and Reference in Historical Representation, Ithaca 2012; Aviezer Tucker, Our Knowledge of the Past. A Philosophy of Historiography, Cambridge 2004; Keith Jenkins, Re-Thinking History, London 2008.

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