Cover
Titel
Politisierung der Kunst. Avantgarde und US-Kunstwelt


Autor(en)
Hieber, Lutz
Reihe
Kunst und Gesellschaft
Erschienen
Wiesbaden 2015: Springer VS
Anzahl Seiten
XII, 390 S., 214 SW- und 23 Farb-Abb.
Preis
€ 39,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Verena Wirtz, Institut für Geschichte, Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz

Erscheint eine Monographie zur „Politisierung der Kunst“, wird sich jeder Leser freuen, der Walter Benjamins Prozessbegriffe zum Verhältnis von Kunst und Politik kennt. Tatsächlich verspricht schon der Klappentext des vorliegenden Buches mehr als nur die bisher noch nicht geleistete Überblickshistorie zu diesem berühmten begriffsgeschichtlichen Chiasmus: Der Kunstsoziologe Lutz Hieber will nachweisen, dass Benjamins Forderung von 1935, der „Ästhetisierung der Politik“ im Faschismus die „Politisierung der Kunst“ im Kommunismus entgegenzusetzen, in der US-Kunstwelt nach 1945 in die Tat umgesetzt worden sei. Weil die antifaschistischen politischen Utopien der europäischen Avantgarden im Nationalsozialismus unterdrückt wurden, so Hieber, emigrierten deren Vertreter zusammen mit ihren Ideen in die USA. In den Kunst- und Kulturzentren von New York und Kalifornien vollendeten sie schließlich Benjamins Projekt einer „Politisierung der Kunst“.1

Doch im Gegensatz zu Benjamin geht es Hieber nicht um den historischen Wandel und die Wechselbeziehungen von Kunstrezeption und Politik. Daher findet Benjamins Zusatz „im Kommunismus“ hier keine inhaltliche Entsprechung. Der Realsozialismus in der Sowjetunion, an der sich Walter Benjamin und Bertolt Brecht in ihrer Rezeptionstheorie der Kunst orientierten, existiert bei Hieber nicht. Ebenso findet die andere Seite der Medaille, die „Ästhetisierung der Politik“, ohne die die „Politisierung der Kunst“ nicht beschreibbar ist, keinen Eingang in seine Studie. Stattdessen liegt der Fokus hier auf der „Ästhetisierung des Sozialen“ und der „Sozialisierung der Kunst“ (S. 9). Dieser nicht weiter erläuterten Abwandlung der ursprünglichen Formel liegt eine zentrale Annahme zu Grunde: Hieber sieht die Gesellschaft als ein Gebäude an, das regelmäßig abgerissen werden muss, damit es von Grund auf neu aufgebaut und gestaltet werden kann. Der Kunst kommt in diesem evolutionär-marxistischen Erneuerungsmodell eine entscheidende Rolle zu: Zum einen macht sie auf den maroden Zustand des Gebäudes aufmerksam, zum anderen entwirft sie den Bebauungsplan, auf dessen Grundlage das neue Gebäude errichtet werden soll (S. 10).2

Die gesellschaftsrevolutionierende Funktion der Avantgarde stellt Hieber eingangs „im Spannungsfeld von Moderne, Avantgarde und Postmoderne“ als Bewertungsmaßstab zur Beurteilung der US-Kunst nach 1945 heraus. Insbesondere der Dadaismus dient dem Kunstsoziologen als historisches Vorbild und Voraussetzung für die „Avantgardisierung“ der ‚Neuen Welt‘ in der Nachkriegszeit. In chronologischer Reihenfolge werden vier verschiedene künstlerische Zugangsweisen und mediale Vermittlungsformen untersucht, die jeweils Gegenstand der Hauptkapitel sind: die Plakatgestaltung als frühe Form der Street Art, die psychedelische Ästhetik, der künstlerische Aids-Aktivismus und die naturwissenschaftliche Kreativität. Als Vergleich zur Untersuchung des avantgardistischen Potenzials der US-Kunst dient dabei stets das bundesrepublikanische „Kontrastprogramm“ (S. 202).

Durch den transatlantischen Vergleich der Entwicklung von Kunstpraktiken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts soll nachgewiesen werden, dass sich die US-Künstler – und ausschließlich sie – dermaßen ‚politisierten‘, dass durch ihre aktivistischen Programme und Praktiken die amerikanische Gesellschaft einen radikal-revolutionären Wandel erfuhr. Dieser aktivistische Turn habe sein theoretisches Pendant im US-amerikanischen Postmoderne-Begriff gefunden, der in der „deutsche[n] Welt, die hingegen keinen künstlerischen Aktivismus kennt“ (S. 342), nur zu einer „babylonischen Sprachverwirrung“ geführt habe (S. 62). Weil die so genannte historische Avantgarde der Alten Welt mitsamt der Zivilisation 1945 untergegangen sei, habe hier weder ein kunsttheoretischer noch ein kunstpraktischer Wandel stattfinden können. Insbesondere am Beispiel des ‚Kohl-Konservatismus‘, den Hieber ausgiebig kritisiert, lasse sich nachweisen, dass die bundesrepublikanischen Künstler und Kunstinstitutionen nach dem Zweiten Weltkrieg es versäumt hätten, an das revolutionäre und erneuernde Potential des Dada oder des Surrealismus anzuknüpfen (S. 109–139). Tatsächlich kann von avantgardistischen Bestrebungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit kaum eine Rede sein. Hiebers Behauptung aber, im Gegensatz zu den antiinstitutionellen und aufrührerischen US-Kunstpraktiken sei ein avantgardistischer Wiederaufstieg in der Bundesrepublik bis heute von „unserer“, nun zweihundert Jahre andauernden, „bürgerlichen Epoche“ (S. 20) der „Beaux-Arts-Doktrin“ (S. 43) verhindert worden, lässt sich nicht halten.

Jenseits dieser fragwürdigen Periodisierung finden sich zahlreiche Beispiele von der frühen Bundesrepublik bis heute, die Hiebers Vorstellung avantgardistischer Kunst durchaus entsprachen: „Wer Kultur schaffen will, muss Kultur zerstören“, hieß es bereits im Manifest der 1957 gegründeten Künstlergruppe SPUR, Teil der die „68er“-Bewegung maßgeblich beeinflussenden „Internationale situationniste“. Auch die documenta 5 in Kassel zeigte 1972 ein Sammelsurium antiinstitutioneller Kunstaktionen – von Joseph Beuys’ ‚Sozialer Plastik‘ bis zu den politischen Werken und Performances des ‚Kapitalistischen Realismus‘, dessen bekannteste Vertreter unter anderem KP Brehmer, Gerhard Richter und Konrad Lueg waren. Die aktuellen Bestrebungen von Künstlern und Kunstpolitikern reichen jedoch aus, um zu belegen, welchen Wandel die Avantgarde-Praxis nach der theoretischen Kritik an ihrer Neutralisierung und Institutionalisierung erfuhr. Diese Tatsache wie Hieber zu ‚übersehen‘ ist umso bedauerlicher, als die aufsehenerregenden Aktionen des „Zentrums für Politische Schönheit“ genauso einer kritischen Auseinandersetzung bedürften, wie es für den so genannten Artivismus – eine neologistische Zusammensetzung aus Kunst und Aktivismus – bereits in Ansätzen geschieht.3

Eine gesellschaftspolitische und kunstinstitutionelle Erneuerung zu erzielen war zwar immer schon Anspruch und Funktion der historischen Avantgarde. Doch zu glauben, diese sei losgelöst von Gesellschaft und Geschehen, widerspricht ihrer Historizität, ihrer Gebundenheit an die aufzulösende Tradition, der sie angehört, und ihrem Innovationspotenzial, das immer Teil von kollektiven Erwartungsentwürfen ist. Sowohl der Futurismus, der im italienischen Faschismus seine politische wie ästhetische Verwirklichung suchte und ausschließlich Wähler (statt Kunstrezipienten) umwarb, als auch der von Hieber zum Vorbild für die US-Avantgarde erhobene Dadaismus, der als pazifistische Lebenskunstbewegung im Ersten Weltkrieg entstand und wenige Jahre nach dem Krieg zu Ende ging, können nicht als autonome Einheiten begriffen werden. Darauf wies auch schon Benjamin hin, dessen Kunstwerkaufsatz ohne den Zusammenhang politischer und kunstrezeptionsgeschichtlicher Entwicklungen unverständlich bleiben müsste. Nicht ohne Grund sah Benjamin in der nationalsozialistischen „Ästhetik des Krieges“ die historische Erfüllung von Marinettis futuristischem „Manifest zum äthiopischen Kolonialkrieg“.4

Auf die Gemeinsamkeit mancher avantgardistischer und faschistischer Totalitätsentwürfe wird in neueren Studien zur Avantgardepraxis und -theorie auch hingewiesen. Zuletzt verteidigte Peter Bürger, dessen „Theorie der Avantgarde“ von 1974 selbst historisch geworden ist, die Geschichtlichkeit der Avantgarde gegen ihre postmoderne semantische „Entleerung“ und Pluralisierung.5 Um dieses bedeutungsgeschichtliche Problem zu verfolgen, hätte es sich für Hieber gelohnt, Wilfried Rausserts differenzierte und umfangreiche Studie zu den „Avantgarden in den USA“ nicht nur ins Literaturverzeichnis aufzunehmen. Wer einen historisch-kritischen Einblick und Überblick zu Kontinuitäten und Brüchen der Avantgarde(n)-Begriffe, zu ihrer Theorie und Praxis im transatlantischen und interkulturellen Vergleich sucht, dem ist Rausserts Monographie von 2003 weiterhin wärmstens zu empfehlen.6

Lutz Hiebers binäres Kunstwelterklärungsmodell hingegen leistet trotz des vielversprechenden Titels keine innovative wie kritische Historisierung von Benjamins Formel. Sein kunstsoziologischer Rückblick stellt sich schon in der Einleitung als ein auf persönlichen Erfahrungen beruhender, mit einem evolutionär-marxistischen Geschichts- und Gesellschaftsbild gepaarter Zugang heraus. Hiebers überarbeitete Aufsatzsammlung, die nach seiner eigenen Angabe vor allem mit einem übergreifenden Titel versehen werden wollte, hat weder etwas mit Benjamins historischem Verständnis der Prozessbegriffe und ihrer Entwicklung noch mit der Aktualität dieser Kategorien zu tun. Die Geschichte der Benjamin’schen Prozessbegriffe im 20. Jahrhundert ist also noch zu schreiben.

Anmerkungen:
1 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und weitere Dokumente. Kommentar von Detlev Schöttker, Frankfurt am Main 2007 (dritte und letzte autorisierte Fassung von 1939), hier S. 50.
2 Vgl. Lutz Hieber / Stephan Moebius (Hrsg.), Ästhetisierung des Sozialen. Reklame, Kunst und Politik im Zeitalter visueller Medien, Bielefeld 2011.
3 Siehe hierzu Lilo Schmitz (Hrsg.), Artivismus. Kunst und Aktion im Alltag der Stadt, Bielefeld 2015; Hanno Rauterberg, In den Fallen der Freiheit. Völkerrecht auf dem Theater, Flüchtlingselend als Performance: Wie wirkungsvoll ist die politische Kunst tatsächlich?, in: ZEIT, 02.07.2015, S. 43f., <http://www.zeit.de/2015/27/politik-kunst-zentrum-fuer-politische-schoenheit> (12.08.2015). Vgl. Karlheinz Barck, Art. „Avantgarde“, in: ders. u.a. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 1: Absenz bis Darstellung, Stuttgart 2010, S. 544–577.
4 Benjamin, Kunstwerk, S. 48.
5 Peter Bürger, Nach der Avantgarde, Weilerswist 2014, hier S. 1f. Vgl. ders., Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main 1974.
6 Wilfried Raussert, Avantgarden in den USA. Zwischen Mainstream und kritischer Erneuerung, Frankfurt am Main 2003.