Cover
Titel
Diskursgrenzen. Typen und Funktionen sprachlichen Widerstands auf den Straßen der DDR


Autor(en)
Dreesen, Philipp
Reihe
Diskursmuster – Discourse Patterns 8
Erschienen
Berlin 2015: de Gruyter
Anzahl Seiten
XIII, 413 S., 24 Abb.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ilko-Sascha Kowalczuk, Abt. Bildung und Forschung, Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU)

Wie der Buchtitel anzeigt, geht es dem Autor um die Frage, in welchen diskursiven Zusammenhängen nichtoffizielle Sprache in der DDR linguistisch verortet werden kann. Ausdrücklich betonen Verlag und Autor, dass sich die Arbeit an Interessierte „v.a. aus Linguistik und Geschichtswissenschaft“ (Rückseite des Buches) wendet. Insofern brauchte der Rezensent keine Berührungsängste vor der linguistischen Fachdisziplin zu haben und las das Buch mit der Frage, ob diese Studie der Geschichtswissenschaft von Nutzen sein kann.

Philipp Dreesen geht zunächst davon aus, dass es einen „Herrschenden Diskurs“ (HD), das offiziell Sagbare, und einen „Gegendiskurs“ (GD), das Nicht-Sagbare, in der DDR gegeben habe. Im Zentrum steht für den Autor die Frage nach der Grenze „zwischen dem Gerade-noch-Sagbaren […] und dem Gerade-nicht-mehr-Sagbaren“ (S. 10). Er konstruiert Idealtypen. Dabei kategorisiert Dreesen den „Gegendiskurs“ nochmals in „nicht-expliziten Widerstand“, „impliziten Widerstand“ und „expliziten Widerstand“. In der Untersuchung selbst interessieren ihn nur die von ihm so genannten „nicht-expliziten Widerstandsaussagen“ (NEWA), die im öffentlichen Raum („Straße“) nachweisbar seien.

Die Abkürzungen sind keine Marotte des Rezensenten, sondern solche des Autors. Der Lesefluss der sonst überwiegend flüssig zu lesenden Arbeit leidet zuweilen unter diesen Abkürzungen, weil dem Autor zwar seine NEWAs spätestens im dritten Bearbeitungsjahr der Dissertation flüssig aus Hand und Mund gegangen sein mögen, der Rezensent aber bis zur letzten Seite des Buches immer wieder an den russischen Fluss oder das Berliner Glühlampenwerk NARVA denken musste, zumal der Begriff „nicht-explizite Widerstandsaussage“ nun auch nicht gerade stilistisch eingängig ist. Doch dies mag Geschmacksache sein und alle anderen Leserinnen und Leser mögen sich an solchen Abkürzungen nicht stören. Erwähnenswert erscheint das aber dennoch, weil die Akronyme und sprachlichen Ungetüme überflüssig sind und zugleich unfreiwillig eine gewisse Nähe zum Untersuchungsgegenstand aufkommen lassen.

Das Buch umfasst zehn Kapitel und besteht im Kern aus zwei Teilen, die etwa gleich umfangreich sind. In seinem ersten Teil, der seine theoretischen Kapitel umfasst, stellt Dreesen die Diskursanalyse vor, zeichnet Grundlinien von Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur nach und versucht einen Widerstandsbegriff zu operationalisieren. Ferner umreißt er die „Straße“ als Diskursraum, nähert sich der Grenze zwischen „herrschendem Diskurs“ und „Gegendiskurs“ an und bemüht sich um eine Differenzierung von „expliziten“, „impliziten“ und „nicht-expliziten“ Widerstandsaussagen. Schließlich modifiziert er die Methode der „diskurslinguistischen Mehr-Ebenen-Analyse“ (DIMEAN), um diese für seine Untersuchung handhabbar zu machen. Das alles ist nachvollziehbar und eingängig, geradezu angenehm unspektakulär, im besten Sinne seriös. Gleichwohl: der theoretische und methodische Aufwand für die Untersuchung ist enorm, der originäre Gehalt und die innovative Substanz überschaubar.

Wenig überzeugend ist zudem einmal mehr, dass einige neuzeitliche Säulenheilige, allen voran Michel Foucault, derart unkritisch und salbungsvoll behandelt werden, dass man sich schon fragen muss, ob denn keinem seiner Verehrer je eingefallen ist, dass diese unkritische Rezeption jedes noch so hingeworfenen Halbsatzes dem wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Grundansatz etwa eines Foucault eigentlich zutiefst widerspricht. An dieser Stelle scheinen seine Millionen Jünger wenig Spaß zu verstehen – aber Foucault steht ja hier auch nur ohne großes eigenes Zutun in einer großen, allerdings anders gearteten Ahnengalerie, die mit Hegel und Marx nicht anfing und mit den modernen Franzosen längst nicht aufhört. Mit anderen Worten: Man hätte sich schon gewünscht, dass Dreesen Foucault auch mal gegen Foucault gewendet hätte, zum Beispiel.

Der erste Teil ist aufschlussreich, aber wie gesagt, sehr aufwändig. Angesichts des Untersuchungsergebnisses erscheint mir der Aufwand zu hoch. Denn im zweiten Teil analysiert Dreesen nunmehr 77 „nicht-explizite Widerstandsaussagen“ nach der zuvor dargelegten Methode und Theorie. Insofern fällt die Studie zwar, wie sonst so oft, nicht zwischen Theorie und Empirie auseinander. Zugleich aber zeigt sich, dass der enorme theoretische und methodische Aufwand, den Dreesen betreibt, im empirischen Teil nicht die adäquate Umsetzung erfährt, die zu erwarten wäre. Das liegt an einem einzigen Umstand: der Auswahl der von Dreesen so genannten „nicht-expliziten Widerstandsaussagen“. Diese „referieren […] mit dem Mittel der Sprache auf Ordnungen zum Zweck des Widerstands gegen die SED-Diktatur“. Sie „bewegen sich am Rand des“ Gegendiskurs, das heißt, sie sind nicht gegenüber dem herrschenden Diskurs „fundamentalopponierend“ (S. 178). Sie verletzen „die Regeln des Herrschenden Diskurses“, negieren diesen aber „nicht vollständig“ (ebd.).

Dreesen hat seine 77 „nicht-expliziten Widerstandsaussagen“ aus der vorliegenden Forschungsliteratur zusammengestellt. Das ist legitim und nachvollziehbar, zumal er betont, er wolle ja keine neue Widerstands- und Oppositionsgeschichte vorlegen, sondern einen (zentralen) Aspekt oppositioneller Verhaltensweisen linguistisch analysieren. Zu den von ihm herangezogenen öffentlichen Bekundungen zählen zum Beispiel „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, „Schwerter zu Pflugscharen“, „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“, aber auch „Wacht auf, Verdummte dieser Erde“. Ebenso Lieder wie die „Internationale“ oder die „Marseillaise“, Schweigeversammlungen, leere Plakate, Todesanzeigen, bestimmte Abkürzungen oder herausgeschnittene Kreise an Kleidungsstücken. All diesen Bekundungen war gemeinsam, dass sie in einem bestimmten historischen Kontext und Diskurszusammenhang zwar oppositionell, aber zugleich (oder zunächst wie im Falle der „Schwerter“) „nicht-explizit“ erschienen, da sie Elemente des herrschenden Diskurses aufnahmen.

Allerdings führt Dreesen eine ganze Reihe von Beispielen auf, die sich weder mit historischen Kontexten noch mit seiner entwickelten linguistischen Analysestruktur als „nicht-explizite Widerstandsaussagen“ charakterisieren lassen. Gleich mehrfach führt er Beispiele an, die den „17. Juni“ oder den „Prager Frühling“ bzw. dessen Niederschlagung aufrufen. Wie man es auch immer wenden mag: gerade diese (insgesamt neun Beispiele) zählen in jedem Fall und eindeutig zum expliziten Gegendiskurs, zum Widerstandsdiskurs, weil die Adressaten auf der Straße und im Staat jeweils genau wussten, was damit gemeint war und das systemüberwindende Potential explizit – auch diskurstheoretisch! – zu Tage kam.

Ebenso verhält sich mit den als „Nonsens“ charakterisierten Losungen, z.B. „Macht aus dem Staat Gurkensalat“ oder „Alle Macht der Phantasie“. Hier benötigt der Autor schon einige Mühen, um aus der historischen Kontextfalle ins theoretische Diskursgefängnis zu gelangen – genützt hat es ihm nichts, denn auch seine eigenen Ausführungen stehen im Widerspruch zur vorgenommenen Kategorisierung. Schließlich gibt es noch ein anderes Beispiel: „Wer sich nicht bewegt, spürt die Fesseln nicht.“ Das greift Dreesen auf, weil er es – wie das Ministerium für Staatssicherheit, wie viele Publizisten in Ost wie West und viele „Netzbewohnerinnen“ und "Netzbewohner" heute noch – Rosa Luxemburg zuschreiben. Tatsächlich aber ist es im überlieferten Werk von ihr nicht nachweisbar. Losgelöst von seiner angeblichen Schöpferin aber hat das Zitat nichts in der Kategorie der „nicht-expliziten Widerstandsaussagen“ zu suchen – denke ich.

Dass die historische Kontextualisierung bei Dreesen häufiger ein Problem darstellt zeigt noch ein anderes Beispiel. Nach dem 4. November 1989 seien, so der Autor, Zitate aus dem (nun eigentlich: einst) herrschenden Diskurs verändert worden. So tauchte zum Beispiel auf: „Vorwärts immer, rückwärts nimmer (Erich Honecker, Dachdecker).“ Die Zitatveränderung besteht nun laut Dreesen in der Quellenangabe. Honecker würde nämlich als das bezeichnet, „was er ohne die Macht der SED wäre, nämlich ein gelernter Dachdecker“ (S. 349). Abgesehen davon, dass er zeitlebens ein „gelernter Dachdecker“ blieb, obwohl er seine Lehre abgebrochen und sich der Weltrevolution verschrieben hatte und abgesehen davon, dass sich über Honeckers Intellekt zwei Jahrzehnte lang lustig gemacht wurde: Was will man von einem Dachdecker als Staatslenker schon erwarten… Aber Dreesen übersieht die eigentlich Botschaft in dieser Losung: Wenn ein Dachdecker immer vorwärts schreitet, stürzt er eben ab. Es gibt eine ganze Reihe von Beispielen, an denen Historikerinnen und Historiker den Interpretationen von Linguistinnen und Linguisten wohl so widersprächen.

Insgesamt hat Philipp Dreesen ein anregendes Buch vorgelegt. Für die geschichtswissenschaftliche Fachdebatte sind seine empirischen Fallbeispiele eher unergiebig. Dafür regt er mit seinen theoretischen und methodischen Ausführungen, bezogen auf die Zeitgeschichte, instruktiv an, die fachbezogenen Diskursgrenzen zu übersteigen. Und auch wenn hier viel kritisiert und bemängelt wurde – dies ging nur vor dem Hintergrund, dass diese Studie einen wissenschaftlichen Disput ermöglicht und auf ihrer Grundlage überaus sinnvoll erscheinen lässt.

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