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Titel
Plinius und seine Klassiker. Studien zur literarischen Zitation in den Pliniusbriefen


Autor(en)
Schwerdtner, Katrin
Reihe
Beitrage Zur Altertumskunde 340
Erschienen
Berlin 2015: de Gruyter
Anzahl Seiten
IX, 298 S.
Preis
€ 109,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Geisthardt, Konstanz

Wurde die Briefsammlung von Plinius dem Jüngeren in der altertumswissenschaftlichen Forschung lange Zeit vor allem als Steinbruch für alle erdenklichen Fragestellungen aus dem politischen, sozialen und kulturgeschichtlichen Bereich genutzt und ihr ästhetischer Wert aufgrund ihrer angeblichen Epigonalität nicht sonderlich hoch eingeschätzt, ist sie seit gut einem Jahrzehnt häufiger Gegenstand von Forschungsarbeiten, die in ihr das künstlerisch anspruchsvolle literarische Produkt eines hochrangigen Senators sehen und darum bestrebt sind, sie dementsprechend als Gesamtkunstwerk zu würdigen. Ist es vor diesem Hintergrund wenig überraschend, dass eine systematische und übergreifende Studie der literarischen Zitate im plinianischen Briefkorpus bislang ein Desiderat war, so kann diese Forschungslücke mit der vorliegenden Arbeit auf technisch und analytisch anspruchsvollem Niveau geschlossen werden. Katrin Schwerdtner gelingt es dabei nicht nur, einen wesentlichen Beitrag zur Zitatforschung bei Plinius dem Jüngeren zu leisten, sondern auch die künstlerische Originalität der Briefsammlung, die literarischen Strategien ihres Autors und dessen raffiniert entworfenes und eigenhändig publiziertes Selbstbild zu erhellen. Dem Untersuchungsgegenstand geschuldet werden dabei auch die Forschungsbereiche der antiken Epistolographie und der römischen Bildungskultur um die Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert angeschnitten, wobei die zitierten Werke und die Art und Weise, wie Zitate aus ihnen ausgewählt und angewendet werden, meines Erachtens eher Einblicke in den literarischen Zirkel um Plinius sowie den impliziten Leser der Briefsammlung geben als in die genannten Forschungsbereiche.

Schwerdtner stellt ihre Analyse in den Rahmen der Kulturtechnik des Zitierens, „die Altes fortleben lässt und zugleich zur Produktion von Neuem beiträgt“ (S. 11) und präsentiert Ihre Arbeit in zwei Teilen. Im ersten, allgemeinen Teil legt sie die methodischen Grundlagen für eben diesen Rahmen. Ihre Suche nach einer Zitattheorie, die auch für die Zitation in den Pliniusbriefen anwendbar wäre, bleibt allerdings erfolglos, da es eine solche für die lateinische Literatur nach wie vor nicht gebe und die theoretischen Ansätze zum Zitat in den modernen Philologien zu diffus und heterogen seien. Letztendlich führt sie das zu einer eklektizistisch quellenorientierten Vorgehensweise, in der sie Merkmale und Kriterien zur Zitatforschung nur nutzt, wenn diese aus den Literaturzitaten „bei Plinius abgeleitet werden können oder bei ihrer Untersuchung eine Rolle spielen“ (S. 25). Bei ihrer Suche nach einer Zitattheorie stellt Schwerdtner außerdem fest, dass die Kulturtechnik des Zitierens nicht nur allseits bekannt, sondern vor allem in der römischen Antike mündlich wie schriftlich tief verankert gewesen sei, wobei vor allem letzteres in starker Abhängigkeit von der jeweiligen Gattung gestanden habe. Die römische Briefkultur habe vor allem im Privatbrief gerne auf das Zitat vor allem dichterischer Autoritäten zurückgegriffen, wobei man sehr auf dessen maßvollen Einsatz geachtet habe.

Die an Schwerdtners Ablehnung eines theoretischen Korsetts anschließenden allgemeinen Betrachtungen zu den Literaturzitaten in den Pliniusbriefen basieren auf den von Ute Tischer aufgeführten Grundelementen Prätext, Folgetext, Zitatsegment und Zitatmarkierung1 und bieten eine deskriptiv vor der Folie der plinianischen Briefsammlung und anderer antiker Texte erarbeitete, definitorische Merkmalsliste des literarischen Zitats. Dabei ist für Schwerdtner in Abgrenzung zu anderen Formen der intertextuellen Bezugnahme (Reminiszenz, Anspielung et cetera) oder anonymer Traditionen (Sprichwörter und sogenannte geflügelte Worte) die Erkennbarkeit des literarischen Zitats ein zentrales, produktionsästhetisches Charakteristikum. Denn die textuellen Phänomene (Zitatmarkierung, hinreichende Zitiergenauigkeit und Eindeutigkeit der literarischen Zitatquelle), die wesentlich für die Identifikation eines Zitats sind, unterliegen der Intention des Autors. Eine rezeptionsästhetische Dimension erhält die Studie von Schwerdtner aber insofern, als nicht jedes Zitat zweifelsfrei identifizierbar ist und die endgültige Entscheidung beim Interpreten bleibt.

Der anschließende quantitative Überblick über die literarischen Zitate in den Pliniusbriefen, bei dem auch qualitative Kriterien wie die zitatbezogene Sonderstellung von Epistel 9,26 berücksichtigt werden, rechtfertigt nicht nur die im Titel der Monographie anklingende Beschränkung der qualitativen Zitatanalyse auf die beiden meistzitierten Autoren Homer und Vergil, sondern führt auch zu der Erkenntnis, dass in Bezug auf die Kulturtechnik des Zitierens für Plinius die Dichtung einen größeren Stellenwert einnehme als andere Gattungen. Auch zitiere er häufiger griechische als lateinische Autoren und tue das zumeist in der Originalsprache, was von Schwerdtner als entscheidendes Zitatkriterium bezeichnet wird, das zugleich als Charakteristikum des gelehrten Privatbriefs gelten könne, jedoch der Beschränkung einer maßvollen Verwendung unterliege (28f.). Diese Anforderung erfüllt Plinius, wie es für ihn typisch ist, vorbildlich, denn Schwerdtner identifiziert in einem Zehntel der Briefe (26) literarische Zitate (hervorgehoben sei an dieser Stelle auch die wertvolle Übersicht über die Zitatbriefe auf S. 270f.). Dabei könne man ganz im Sinne der variatio eine weite Streuung derselben über die Briefbücher, den Adressatenkreis (in der Regel erhält jeder Empfänger jeweils einen Zitatbrief) sowie die in den entsprechenden Briefen verhandelten Themen feststellen.

Nach eben diesen Themenfeldern ist dann auch die im zweiten Teil der Arbeit erfolgende Analyse der literarischen Zitate gegliedert, bei der diese vor ihrer Verknüpfung mit themen- und funktionsverwandten Zitaten und Episteln im Kontext des Einzelbriefs identifiziert, analysiert und interpretiert werden. Steht im umfassendsten Kapitel des Hauptteils aufgrund des literarischen Charakters der Briefsammlung selbst, der plinianischen Selbstdarstellung als orator sowie der Nähe zwischen dem literarischen Zitat und dem Themenfeld der Literatur wenig verwunderlich „Plinius als Redner und Literat“ (S. 67–161) im Fokus, schließen sich daran die Kapitel zur Darstellung der domitianischen Zeit in den Briefen (S. 162–185), des „Plinius als Anwalt“ (S. 186–207) sowie von „Plinius in allen Lebenslagen“ (S. 208–244) an. Bei der qualitativen und sehr detaillierten Untersuchung der plinianischen Zitierpraxis, der Funktion der Zitate und ihres Anteils an der Gesamtdeutung des Briefes sowie der dabei zum Vorschein kommenden selbstdarstellerischen Intention des trajanischen Konsulars kann Schwerdtner ihre Stärken, die in einer fundierten Sprachbeherrschung, einer breiten Textkenntnis und überzeugender Interpretationsargumentation liegen, voll ausspielen. Exemplarisch hervorzuheben ist die von Schwerdtner herausgearbeitete, gut in das typische Pliniusbild passende Strategie, die eigene Leistung mithilfe von Zitaten selbstbewusst herauszustellen (in Epistel 6,33 greift Plinius für seine Rede Pro Atia Viriola auf den nicht gerade anspruchslosen Vergleich mit den arma divina des Aeneas zurück), aber durch die folgenden Bescheidenheitsgesten abzumildern, ohne auf den im scherzhaften Ton angebrachten Vergleich ganz verzichten zu wollen (S. 84–90). Dies passe allgemein in das Selbstbewusstsein des Plinius, der den Wettstreit mit den literarischen Vorgängern und Vorbildern auf der Ebene des ingenium zwar als unmöglich stilisiere, durch die von ihm aufgebrachte virtus und labor in der literarischen Produktion aber den Anspruch äußere, nach ihnen der nächste sein zu wollen (S. 69–81). So überzeugend Schwerdtner an anderer Stelle die plinianische Selbstdarstellung als bonum exemplum in domitianischer Zeit und die tendenziöse Darstellung von Ereignissen unter Domitian in Epistel 4,11 herausarbeitet, wodurch dessen Charakterisierung als grausamer, intriganter Tyrann verstärkt wird, kann hier eingewandt werden, dass sie bei der historischen Kontextualisierung ein wenig zu unkritisch auf das von der Tyrannentopik durchdrungene Bild des letzten Flaviers zurückgreift (vor allem S. 162f.).2 Gerade in diesem Konnex, aber auch bezüglich der Frage nach dem zeitgenössischen Literaturbetrieb, vermisst man eine bessere Verknüpfung mit historischen Forschungsergebnissen.3 Den Ertrag der hervorragenden Briefinterpretationen schmälert das aber in keiner Weise und so seien die Ergebnisse Schwerdtners zu dem ansonsten eher in ökonomischen Forschungsarbeiten untersuchten Brief 8,2 an dieser Stelle besonders hervorgehoben. Hier gelingt es Schwerdtner zu zeigen, dass Plinius sich durch ein Vergilzitat aus dem fünften Buch der Aeneis mit dem epischen Heros gleichsetzt und durch den evozierten Kontext des Ursprungstextes in seinem ausgefeilten Rabattsystem für die Käufer seiner Weintrauben seine Grundsätze der iustitia, der misericordia und der liberalitas „pointiert auf knappstem Raum unterstreichen kann“ (S. 238f.). In diesem Zusammenhang komme dem Zitat nicht nur die Aufgabe zu, die Darstellung der plinianischen persona zu befördern, sondern es trage auch die Initialfunktion in sich, weitere Aspekte der brieflichen Darstellung vor den literarischen Hintergrund des Ursprungstextes zu stellen und diese dadurch sowohl um eine Bedeutungsebene zu bereichern als auch die gedankliche Tragweite des Inhalts bei gleichzeitiger Minimierung der äußeren Form zu ermöglichen. Diese und eine Vielzahl anderer Funktionen, welche die literarischen Zitate in den Pliniusbriefen erfüllen, werden von Schwerdtner in einem überblickshaften Schlusskapitel (S. 256–269) zusammengefasst. Am Ende betont sie dabei, dass Plinius mit seinen Zitaten zwar auf Allgemeingut der Gebildeten zurückgreife (also keinen großen Einfallsreichtum bei der Auswahl von Zitaten an den Tag lege), diese aber durchaus originell, gewitzt und gekonnt für seine Aussage- und Selbstdarstellungsabsichten verwende. Die Zitate in den Briefen des Plinius sind, wie Schwerdtner überzeugend zeigt, also keineswegs banal4, sondern bereichern seine Briefsammlung auf ästhetischer sowie inhaltlicher Ebene. Analoges kann von dieser Studie für die Forschung zu den Pliniusbriefen gesagt werden, die jedem empfohlen sei, der dieselben nicht nur als historischen Steinbruch verwenden möchte.

Anmerkungen:
1 Siehe Ute Tischer, Aspekte des Zitats. Überlegungen zur Anwendung eines modernen Konzepts auf antike lateinische Texte, in: Ute Tischer / Andrea Binternagel (Hrsg.), Fremde Rede – Eigene Rede. Zitieren und verwandte Strategien in antiker Prosa, Frankfurt am Main 2010, S. 103–106.
2 Für eine die in trajanischer Zeit erfolgende Diffamierung Domitians relativierende Perspektive in Bezug auf Herrschaftspraxis, -diskursivierung und Personalpolitik vergleiche K. H. Waters, Traianus Domitiani Continuator, in: American Journal of Philology 90/4 (1969), S. 385–405; Brian W. Jones, The Emperor Domitian, London 1992, bes. S. 163–165 sowie Karl Strobel, Kaiser Traian. Eine Epoche der Weltgeschichte, Regensburg 2010, S. 64–70, 139–171. Zur Darstellung Domitians als pessimus princeps und der Funktionalisierung dieses Bildes vgl. jüngst Johannes M. Geisthardt, Zwischen Princeps und Res Publica. Tacitus, Plinius und die senatorische Selbstdarstellung in der Hohen Kaiserzeit, Stuttgart 2015, bes. S. 73–82, 138–144.
3 So vermisst man im Zusammenhang mit der Karriere des Plinius und der großen Comum-Inschrift Géza Alföldy, Städte, Eliten und Gesellschaften in der Gallia Cisalpina. Epigraphisch-historische Untersuchungen, Stuttgart 1999, S. 227–229 sowie Werner Eck, Die große Pliniusinschrift aus Comum. Funktion und Monument, in: M. G. Angeli Bertinelli / A. Donati (Hrsg.), Varia Epigraphica. Atti del Colloquio Internazionale di Epigrafia, Bertinoro, 8–10 giugno 2000, Faenza 2001, S. 225–235. Und mehr über den Zeitgenössischen Literaturbetrieb erfährt man bei Raymond J. Starr, The Circulation of Literary Texts in the Roman World, in: Classical Quarterly 37 (1987), S. 213–223 sowie bei William A. Johnson, Readers and Reading Culture in the High Roman Empire. A Study of Elite Communities, Oxford 2010, S. 32–62. In Bezug auf Brief 9,13 fehlt Richard J. A. Talbert, The Senate of Imperial Rome, Princeton, New Jersy 1984, bes. S. 231f., 272.
4 So die Homer-Zitation bei Plinius ganz im Sinne der „silbernen Latinität“ beurteilt von Anne-Marie Guillemin, La culture de Pline le Jeune, in: Émile Aurèle van Moé / Jeanne Vielliard / Pierre Marot (Hrsg.), Mélanges dédiés à la mémoire de Félix Grat. Vol. I: Antiquité, Moyen âge, Islam, Paris 1946, S. 78.

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